Название | Thorburg |
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Автор произведения | Ute Stefanie Strasser |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783701180516 |
Nicht immer werde ich die noch herumliegenden Frisierutensilien weggeräumt haben, denn um Viertel vor acht wird oben im ersten Stock unsere Wohnungstür geöffnet und meine Mutter ruft nach mir, das bedeutet: Zeit zum Schlafengehen. Ja, meine Mutter schreit mich herbei, obwohl sie Amas Herbeischreien der Orthelferin so unhöflich, ja unmöglich findet. Scheint’s, dass im Umgang mit Kindern die zwischen Erwachsenen geltenden Höflichkeitsregeln nicht gelten.
Ich gebe Ama ein Eili – bei einem Eili wird die Wange kurz an die Wange des Gegenübers gelegt, damals eine Geste der Liebkosung zwischen Menschen, die sich nahe stehen. Vergesse ich, weil in Eile, das Eili, fordert sie es ein. Gib a Eili, sagt sie und hält mir ihre weiche Wange hin. Nach dem Eili steht sie auf, wendet sich zur Kredenz, nimmt den Deckel von der Porzellandose und entnimmt ihr ein Bettsteigerl (Betthupferl). Das überreicht sie mir, wenn ich vom Eiligeben beim Großvater auf dem Weg zur Tür wieder an ihr vorbeikomme. Ich sage Danke und Gute Nacht, stecke mir das Bettsteigerl in den Mund und gehe nach oben. Dort muss ich mich waschen und für die Nacht umziehen, um acht Uhr soll ich im Bett liegen. Bei uns wurde früh schlafen gegangen, einmal, weil mein Vater schon um halb fünf aufstehen musste, und zum anderen, weil meine Eltern ausreichenden Schlaf als eine notwendige Voraussetzung für Wohlbefinden und Gesundheit erachteten.
Die Großeltern gingen nicht so früh schlafen. Sie verbummelten die Abende bei Kartenspiel Lektüre Kreuzworträtseln und Radiohören. Wie schon früher einmal erwähnt, war Großvater Jo abends hin und wieder aushäusig, und hin und wieder blieb er aushäusig und Ama bereitete ihm bei seiner Heimkehr am nächsten Tag einen lautstarken Empfang: Schrei-Zack-Klescha.
An den Abenden seiner Aushäusigkeit war sie jedoch keinesfalls schlecht gelaunt. Wenn ich gegen halb sieben nach kurzem Anklopfen das großelterliche Wohnzimmer betrat, saß sie am Tisch und löste ein Kreuzworträtsel. Ich fri-sierte sie, sie blätterte in einer Illustrierten und las mir das eine oder das andere daraus vor. Danach spielten wir Mikado. Da muss man aus einem Haufen von einundvierzig Stäbchen, die wie hölzerne Stricknadeln aussehen, eines herausholen und darf mit dem Herausholen von Stäbchen so lange fortfahren, bis dabei ein Stäbchen, das man gerade nicht herausholen will, auch in Bewegung gerät. Da muss man aufhören und der andere kommt dran. Jedes Stäbchen hat einen bestimmten Punktwert und wer am Ende, wenn der ganze Haufen abgeräumt ist, mehr Punkte hat, ist der Sieger. Es geht hier um Fingergeschicklichkeit, Aufmerksamkeit und Konzentration. Wir spielen schweigend. Nur die Pendeluhr redet ihr igga-igga-igga (oder iggá-iggá-iggá – so oder so kann ich es hören) in die Stille hinein, und wenn sich ein Stäbchen durch das Niederdrücken eines Endes mit dem rechten Zeigefinger am anderen Ende hochschwingt, sodass es mit der linken Hand vorsichtig abgehoben werden kann, gibt es ein leises Sirren von sich. Und freilich, immer wenn sich ein falsches Stäbchen bewegt, schreien wir beide auf.
Einmal kam der Großvater vom Besuch bei den Freunden schon nachts nach Hause und es war ihm schlecht. Er erbrach sich und mit seinem Mageninhalt entfielen ihm auch seine Zähne und plumpsten ins Plumpsklo (kleine Sünden straft der liebe Gott sofort), und plumpsten weiter durchs lange Rohr nach unten bis in die Jauchengrube im Garten. Weil mein Großvater ein sparsamer und eher armer Mann war und am Vertrauten hing, schöpfte er am nächsten Tag mit einem großen hölzernen Schöpfer die Jauche aus dem betonierten Schacht unter der Gartenstiege und entleerte sie in den vorfrühlingshaften Garten. Meine Mutter und ich standen am Fenster und schauten ihm zu, am Fenster unter uns stand die schadenfrohe Ama, die uns bereits über den Zweck des großväterlichen Tuns aufgeklärt hatte. Meine Mutter schimpfte über diese Sauerei, abgesehen vom Gestank sei das verboten wegen der krank machenden Keime. Aber sie ging nicht hinunter und wies ihn zurecht. Nein, tat sie nicht, denn der Großvater, stur wie er war, hätte bestimmt ungerührt weiter in der Scheiße gerührt. Als er sein Gebiss endlich fand, hatte er schon die halbe Jauchengrube ausgeschöpft. Die andere Hälfte ließ er jetzt drin, gab die hölzerne Abdeckung wieder in den Betonrahmen und lehnte den Schöpfer in die Ecke. Sein Gebiss klaubte er auf – Pfui Deifl!, rief meine Mutter am Fenster dazu –, wickelte es in dafür bereitgelegtes Zeitungspapier und trug es nach oben. Er wusch es unter dem fließenden Wasser am Hausbrunnen, kochte es anschließend zur Desinfektion in Wasser aus und setzte es mit einem Klack wieder ein. Pfui Deifl, sagte meine Mutter viele Male, als sie meinem Vater am Abend vom Verlieren, Suchen und Wiederfinden, und von der Wiederverwendung des Gebisses erzählte.
Ja, bei uns ging es noch irgendwie mittelalterlich zu: hinterm Haus die Scheiße und vorm Haus die Pisse. Denn angeblich, so das Gerücht, wurde vom ersten Stock des Hauses neben uns allfrühmorgendlich der Inhalt eines Nachttopfes auf die Alte Straße entleert.
Mein Vater war auf d’Nacht bis auf sehr wenige Ausnahmen (Betriebsausflüge) nie allein aushäusig. Meine Eltern gingen gleich nach mir gegen halb neun zu Bett. Ob sie da schon schlafen konnten? Ich jedenfalls lag meist noch lange wach und lauschte den in unregelmäßigen Abständen vorbeifahrenden Autos hinterher. Lesen durfte ich nicht, als Unterhaltung blieb mir das Den-ken. Ich erfand mir Denk-Spiele.
Bei einem Denkspiel sortierte und zählte ich meinen Gewandbestand: Unterhemden Unterhosen Strümpfe Schals Hauben Pullover Röcke Kleider. Ich legte alles nebeneinander, versammelte arme nackte Kinder um mich und kleidete sie damit ein. Dann ließ ich sie wie bei einer Modenschau an mir vorbeidefilieren, arrangierte hier und da etwas um und zählte mit, wie viele ich hatte einkleiden können. Wenn ich dabei nicht einschlief, führte ich die nun Bekleideten zu einer (tatsächlich existierenden) Holzhütte im Feenthal, die ich mit Möbeln aus unserem Mobiliendepot ausstattete, und mit Geschirr aus unserer Kredenz, und mit Decken und Kissen, die brauchten sie ja auch. Ich verteilte mein und unser Weniges und es erfüllte mich mit Behagen, wie viel es war, darüber schlief ich ein.
Ein anderes Denkspiel war das Schön-Denken, wie ich es bei mir nannte; in einer Version entrückte ich mich in eine Villa am See. Dort wandle ich in prächtigen Kleidern durch prächtige Räume und habe jede Menge Hauspersonal. Ein attraktiver Mann besucht mich, er sieht aus wie Gerhard Riedmann oder wie mein aktueller Schwarm vom Eislaufplatz oder ganz anders – aber immer attraktiv. Mit dem Mann spaziere ich um den See. Wir plaudern, er legt seinen Arm um mich, zieht mich an sich, beugt sich zu mir herab und legt seine Lippen auf die meinen. So stehen wir da, lange. Ich sinke an seine breite Brust, wir seufzen und stehen immer weiter so da, bis ich einschlafe. Wenn ich nicht einschlafe, muss ich die Szene wiederholen, wenn nötig mehrmals und etwas variiert.
Ein ganz anderes Denkspiel war das Schlimm-Denken. Da dachte ich mir zum Beispiel aus, dass ich in die Konditorei Weiss ginge und mich dort ganz unmöglich verhielte. Nämlich wie? Ja so: Ich stelle mich breitbeinig vor die Vitrine und entlasse wie ein Bub einen frechen Strahl auf die dort liegenden Mehlspeisen mit Rauchgeschmack – im Klartext: Ich pinkle drauf. Eigentlich ja höchstens eine lässliche Sünde, aber ein Tabubruch vom Feinsten. Und der Hauptspaß dabei sind die entsetzten Gesichter um mich herum, die aufgerissenen Augen und Münder, die Schreie voller Ekel und Abscheu. Ha, denen hab ich’s gezeigt! Ähnliches, vermute ich, haben die Wiener Aktionisten (Otto Muehl u. a.) bei ihrer Uni-Ferkelei am 7. Juni 1968 empfunden. Freilich, ihre Provokation war Kunst, meine nur eine phantasierte Ferkelei, weshalb ich mich nicht als eine Vorläuferin