Thorburg. Ute Stefanie Strasser

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Название Thorburg
Автор произведения Ute Stefanie Strasser
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701180516



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lang, auch etwa im Alter von zehn Jahren, von der Vorstellung verfolgt wurde, bei einem Gottesdienst nackt durch den Mittelgang zu rennen. Ein richtiger Zwangsgedanke sei das gewesen, verbunden mit der Angst, es eines Tages wirklich zu tun. Natürlich hat sie es nie getan, wie auch ich nie auf Mehlspeisen gepinkelt habe – weder auf verrauchte noch auf nicht verrauchte, weder öffentlich noch privat.

      Schön-denken, Anders-denken. Denken war Flucht in den Kopf, in die Freiheit (Ulla Hahn), das hatte ich wohl nötig angesichts der deprimierenden Situation um acht Uhr abends fremdbestimmt im Bett liegen zu müssen.

      Ich erinnere mich noch an ein mittägliches Denkspiel. Wenn ich während der Woche mittags nur mit meiner Mutter zu Tisch saß, hatte sie sich im Nu abgespeist. Sie stand auf, räumte ihren Teller und ihr Besteck ab, begann hin und her zu gehen und dies und das zu tun. Ich saß weiter am Tisch mit der Aufgabe aufzuessen, damit hatte ich aber nicht selten Schwierigkeiten. So wie sich das Tor zum Schlafen nicht öffnen wollte, so wollte sich hier mein Hals nicht öffnen, es war da so eine Enge, das Essen konnte kaum durchrutschen. Da begann ich zu spielen.

      Als erstes sortierte ich mein Essen auseinander – ein Häufchen Kartoffel, ein Häufchen Gemüse, ein Häufchen Fleisch. Als nächstes schuf ich innerhalb der jeweiligen Häufchen Muster – einen Kreis, eine Schlange, ein Viereck, dabei aß ich schon etwas auf, damit es passte. Und jetzt dachte ich mir, dass ich eine Königstochter bin – immer Tochter, nie Königin (die ist tot) – und dass auf meinem Teller die erlesensten Speisen liegen. Mein Vater, der König (Astrid Lindgren), hat seine Diener in aller Herren Länder geschickt, um diese Delikatessen zu erwerben; denn das Beste ist gerade gut genug für mich, die ich krank bin an Leib und Seele (warum, das spielt hier keine Rolle) und gesund werden soll. Ich sitze da und spieße jede Erbse einzeln auf die Gabel, führe sie mir bedächtig zum Mund, lege sie mir auf die Zunge und lutsche sie, sie schmeckt golden. (Wie Gold schmeckt? Gold schmeckt fantastisch!) Ich zelebriere ein Mahl der Kostbarkeiten. Mein Vater, der König, sitzt bei mir und schaut mir lächelnd zu, und um uns steht der Hofstaat und schaut mir ebenfalls lächelnd zu. Alle freuen sich, dass ich esse und also nicht sterben werde. Nur meine Mutter, die keine Ahnung hat von goldenen Erbsen, schüttelt den Kopf und jammert, auf diese Weise würde ich nie fertig werden, und überhaupt, alles sei ja schon ganz kalt, wie ungesund! Dann verlässt sie mich, geht ins Wohnzimmer oder hinunter zum Ortgang, weil sie mir im Unterschied zu König und Hofstaat bei solchem Essen nicht zuschauen möchte.

      Wenn ich woanders aß, hatte ich nie Probleme mit dem Schlucken. Es kam vor, dass ich bei meinen täglichen Besuchen der Großeltern noch in deren Abendessen hineingeriet, das sie vor dem Kartenspielen einnahmen. Ama stellte mir dann einen Teller hin und ich durfte mitessen. Hunger hatte ich eigentlich keinen mehr, aber bei ihnen zu essen war interessant. Es gab eine kalte Platte mit Schinken und Wurst und Käse und Essiggurken und von Ama selbst zubereitete Salate: Kartoffelsalat mit Zwiebeln, Gurkensalat mit Zwiebeln, Bohnensalat mit Zwiebeln – keine Blattsalate, das war ihr zu viel Arbeit mit dem Putzen und dem Waschen. Amas Salate waren Erlebnissalate; wenn ich sie aß, reisten meine Geschmacksnerven durch unerwartete Sensationen: Im Sauren überraschte ein süßes Inselchen, im Wässrigen ein scharfer Knall, durchs Ölige zog sich eine salzige Spur. Ein dissonantes Miteinander war das – Öl Essig Salz Pfeffer Paprika und andere mir unbekannte Zutaten. Ich wurde von Geschmacksempfindung zu Geschmacksempfindung geworfen, salatlang ins Ungewisse hinein. Im Vergleich dazu waren die mütterlichen Salate in ihrer süßsauren Harmonie langweilig. Meine Mutter fand die Salate ihrer Schwiegermutter selbstverständlich fürchterlich. Die haue da einfach alles Mögliche drauf und mische das Ganze nicht einmal durch – zu faul dazu! Und obendrauf diese grob geschnittenen Zwiebeln – grauslich! Meine Mutter schüttelt sich; was würde sie erst zu den Salaten von Gregs Opa gesagt haben: Bohnen, Gurken und ein Haufen Kresse drauf, und das alles schwimmt in einer Schüssel voll Essig.

      Es kam vor, dass mir abends im Bett ein wenig übel war, vielleicht vom doppelten Abendessen oder von Großmutters Zwiebel-Salat. Da war dann nix mit Denkspielen, da schlich ich mich zum Sekretär und öffnete die gläserne Schiebetür, wo im oberen Fach Mutters selbst Angesetzter stand. Dabei handelte es sich um einen klaren Korn auf Wacholderbeeren, Kalmuswurzel und ich weiß nicht was noch. Von diesem würzigen Schnaps nahm meine Mutter einen Schluck, wenn ihr der Magen drückte, oder wenn sie meinte das Herannahen einer Erkältung zu spüren. Irgendwann hatte ich herausgefunden, dass dieser Schnaps auch mir gegen Magenbeschwerden half und mir darüber

      hinaus ein gewisses Wohlbefinden bescherte. Hätte ich nicht befürchtet, meine Mutter könnte – ja, würde den Schnapsschwund bemerken, hätte ich mir allabendlich einen Schluck aus der Bottle gegönnt. Meistens machte mich der Schnaps müde, hin und wieder machte er mich munter. Dann schlich ich mich abermals zum Sekretär, öffnete die gläserne Schiebetür und kramte von hinter den Büchern das Doktorbuch heraus. Damit ging ich zum Fens-ter, stellte mich zwischen Scheibe und Vorhang, betrachtete beim Licht der Straßenlampe die sich darin befindenden Bilder und las kreuz und quer im Text herum – ich schmökerte; schlau wurde ich nicht daraus. Zwischendurch schaute ich zum Fenster hinaus in die gähnende Leere einer Kleinstadt der Fünfzigerjahre, wo höchstens einmal einer eilig oder schwankend, oder eilig schwankend die Alte Straße hinunter ging, vom Wirtshaus nach Haus. Nicht immer, wenn mich der Schnaps munter gemacht hatte, ermunterte er mich zum Aufstehen. Nein, ab und zu blieb ich schnapslustig im Bett liegen und rezitierte Sprüche wie: Heut bei der Nacht hat der Bettpfosten kracht, ist der Scherm (Nachttopf) explodiert, sind die Mäus aufmarschiert; und das stellte ich mir lebhaft vor. Ich musste nur aufpassen, dass ich nicht zu laut lachte, das hätte womöglich meine Mutter herbeigerufen, die hätte gefragt, was los sei, und dabei meine Schnapsfahne errochen.

      Sogar an Silvester gingen wir vor Mitternacht ins Bett, wozu aufbleiben? Ich durfte aber Radio hören, bis um zwölf Uhr die Pummerin vom Stephansdom ins Land läutete und der Donauwalzer erklang. Da liege ich also im Bett, während dort in Wien bildschöne Frauen in wunderschönen Ballkleidern in den Armen eleganter Männer zur inoffiziellen österreichischen Hymne tanzen. Da liege ich im Bett und bin nicht dabei – und niemals würde ich dabei sein. Ich werde sentimental und weine ein bisschen. Nach dem Donauwalzer erscheint meine Mutter im Nachthemd, sagt Prost Neujahr und schaltet mir das Radio aus. Jetzt lieg ich im Finstern, und während die Schönen und die Reichen weiter durch die festliche Neujahrsnacht tanzen, schlafe ich ein – schlaf ein …

      Als wir später den Fernseher im neuen Wohnzimmer hatten (die Familie Trappl war ausgezogen und wir hatten uns räumlich ausgedehnt), feierten wir (meine Eltern und ich, die Großeltern und Frau Lauri, eine Bekannte) Silvester im Halbkreis um diese Attraktion. Wir tranken Russischen Tee mit Stroh-Rum und aßen Russische Eier auf Endiviensalat. Um Mitternacht beim Donauwalzer stießen wir mit einem Glas Sekt an, danach gingen unsere Gäste heim und wir ins Bett. Am ersten Januar aßen wir zum Frühstück am späteren Vormittag wieder Russisches, nämlich die Russen, das sind sauer eingelegte Heringe. Wir aßen sie als Mittel gegen den Kater, weil wir nachts ja ein Glas Sekt getrunken, und meine Eltern davor schon ein Glas Wein und einen Obstler.

      Mit Silvester wurde die Faschingszeit und die Ballsaison eröffnet, und meine Eltern besuchten jedes Jahr mindestens einen Ball. Sie konnten mich jetzt mit den Großeltern im Haus ja bedenkenlos allein lassen.

      Am Vormittag des Balltages ging meine Mutter zum Frisör, zur Frau Erna. Frau Erna war eine stattliche Person, vollschlank und sehr dunkel, mit schwarzen Locken, einem Bartflaum über der Oberlippe und Haaren an den hohen Bei-nen unter den Seidenstrümpfen mit Naht. Igitt! oder wööaa! wird sich jetzt der eine oder die andere denken, doch glauben Sie mir, liebe Leser, das ist Gewohnheitssache. Die heute angestrebte Ganzkörper-Haarlosigkeit bei Erwachsenen hätte man eher mit der rosaroten Nacktheit eines Hausschweins denn mit menschlicher Schönheit in Verbindung gebracht. Nur Haare auf den Zähnen fand man abstoßend, um eine damit Ausgestattete machte man lieber einen Bogen. Frau Erna wurde als rassig bezeichnet, sie hatte Sex-Appeal, wie man später im Zuge der Amerikanisierung unserer Sprache sagte. Sie war ein Augenschmaus, wenn sie in der Aura einer gewissen Distinguiertheit stolz einherschritt; und wenn sie mit samtiger Stimme sprach, war dies ein Ohrenschmaus und eine reizvolle Alternative zum harmlosen Zwitschern der Blondgelockten in den Filmen.

      Nachdem die Haare meiner Mutter gestylt waren, eilte sie nach Hause und wärmte das Vorgekochte auf. Nach dem Essen hielten meine