1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

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Название 1918 - Wilhelm und Wilson
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683647



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der Athener Silvesterhimmel für mehr als zwanzig Minuten unter einem wirklich beeindruckenden pyrotechnischen Meisterwerk erleuchtet, bleiben der jungen Prinzessin Helene lange Momente der Muße für einen Tagtraum, der sie fast genau vier Monate zurück in die Vergangenheit nach Berlin entführt.

      Damals, am 2. September 1917, hatte ihr Onkel Kaiser Wilhelm II. den Hof und die Spitzen der Berliner Gesellschaft ins Stadtschloss zum großen Ball anlässlich des Tages von Sedan geladen. Die Schlacht von Sedan bedeutete 1870 die Entscheidung im deutsch-französischen Krieg. Ihr folgte im Januar 1871 die Gründung des Deutschen Reiches im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles durch die deutschen Fürsten. So wie dieser Gründungsakt bereits einen Affront für die Grand Nation bedeutete, so unvergesslich und inakzeptabel wirkte seitdem für Frankreich der Verlust des fortan deutschen „Reichslandes“ Elsass-Lothringen. Für Frankreich war die Rheingrenze, die es 1648 offen gefordert und bis 1733 endgültig erreicht hatte, seit der französischen Revolution von 1789 gleichbedeutend mit dem unveräußerlichen, unverletzlichen Kernsbestand der Nation selbst. Nicht die elsässische Zunge, sondern der gemeinsame Glaube aller Franzosen an die hehren Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit konstituierten seitdem im nationalen Selbstbewusstsein Frankreichs die Ausdehnung der Nation nach Osten. Also trafen im Elsass seit 1871 mit Frankreichs Bild von der politischen und Deutschlands Bild von der Kulturnation zwei Grundverständnisse der nationalen Frage aufeinander, die den Gegensatz beider Nationen stetig verschärfen sollten.

      Am Tag von Sedan war Prinzessin Helene im Kreise ihrer Freundinnen von Hofe, etwa gleich alte junge Damen aus preußischen Adelsgeschlechtern oder gar deutschen Fürstenhäusern, frohen Mutes auf den Ball geeilt, insbesondere um fesche und stattliche junge Gardeoffiziere zu bewundern und auch das eine oder andre Tänzchen zu wagen. Für Helene war der Ball ein einprägsames Ereignis, weil sie nicht nur das eine um das andere Mal mit einem jungen Herren tanzte, sondern weil ihr der Oberleutnant der Artillerie Thorsten Ballin vom 109. Preußischen Artillerieregiment, an der Somme in Frankreich stationiert, seitdem nie mehr so ganz aus dem Kopf ging. Was war denn eigentlich so besonderes an diesem ein wenig schüchternen, introvertierten Offizier? Dass er groß und schlank war, gut aussah mit kurzen dunkelblonden Haaren und aufgeweckten blauen Augen, das hob ihn nun nicht wirklich von der Mehrzahl seiner Berufskollegen ab. Dass er nicht von Adel ist, sondern der Sohn eines der reichsten Hamburger Großbürgers, des Reeders und Eigentümers der HAPAG, Albert Ballin, machte ihn für Helene nicht minder attraktiv. Diese Sicht der Dinge mochte zwar ihre Mutter keineswegs teilen, da war sich Helene sicher. Doch zugleich wurde sie zutiefst von der Überzeugung erfüllt, dass mit und nach diesem Kriege eine Zeit anbrechen werde, in der die königliche Geburt weit weniger zählen mochte als der Charakter und die Liebe.

      Übrigens hatte sie an jenem Abend der Übermut gepackt, so dass sie sich Oberleutnant Ballin nicht als Helene, sondern getrau ihrer Heimat Hellas gleich als Helena vorstellte. Gefangen nahm Helene an Thorsten Ballin seine ruhige, nicht aufschneidende Art, wie es bei deutschen Offizieren nicht so selten vorkommt. Vor allem aber konnte sie sich mit ihm tatsächlich unterhalten, und zwar nicht nur über das Wetter und den Alltag bei Hofe. Sehr schnell erlangte ihr Gespräch eine gewisse Tiefe, als es um die schmerzhaften Fronterfahrungen des jungen Mannes ging, oder dann ebenfalls um die leidvollen Erinnerungen Helenes an ihren Vater und dessen Abdankung im Frühjahr 1917. Das große persönliche Opfer hatte der König nur auf sich genommen, um die Dynastie auch unter den neuen Bedingungen des von der Entente aufgezwungenen Bündnisses zu bewahren.

      Am Ende dieses Abends versicherten sich Helene von Griechenland und Thorsten Ballin recht knapp, sehr aufgeräumt und kein bisschen wehmütig über die Trennung, dass sie sich wohl gerne wiedersähen. Seitdem jedoch ging für Helene diese Leichtigkeit ein über das andere mal verloren, weil ihre Erinnerungen an jenen Oberleutnant Thorsten Ballin nicht mehr vergehen wollten, weil sie immer häufiger die Sehnsucht nach einem Wiedersehen erfüllte, und weil sie eigentümlich feststellte, dass kein anderer junger Mann in den letzten Jahren eine solche, nachhaltige und bleibende Wirkung bei ihr hinterlassen hatte. Helenes Abschied von Berlin und die lange Zugfahrt bis an die kroatische Adriaküste, um von dort aus das Schiff nach Athen zu besteigen, gaben ihr viel Zeit, über ihre Monate in der Reichshauptstadt nachzudenken, ihre starken Gefühle für ihre Freundinnen - und eben auch für Thorsten Ballin - zu erinnern. Jetzt steht Prinzessin Helene erneut hier und wird durch ein zufälliges Ereignis, das schlichte Explodieren von Feuerwerksraketen, an jenen Thorsten Ballin erinnert, von dem sie doch noch so wenig weiß, den sie aber wieder sehen und besser kennen lernen möchte. Und dann ist da plötzlich auch wieder, wie bereits während der Zugfahrt durch Österreich, die unbestimmte Angst davor, dass Oberleutnant Ballin diesen Krieg, dieses neue Kriegsjahr vielleicht gar nicht überleben werde.

      Die letzten Gerüchte bei Hofe vor Prinzessin Helenes Abreise aus Berlin lauteten: Jetzt kommt der Waffenstillstand mit Lenin, dann sehr bald der Frieden mit Russland und dann wird das mächtige deutsche Heer millionenfach seine kampferprobten Männer von Ost nach West schicken, um in einer Offensive, wie die Welt noch keine gesehen hat, den Krieg auch endgültig in Frankreich für sich zu entscheiden. Helene durchfährt dabei eine einzige Gefühlsregung: Möge Gott geben, dass Oberleutnant Thorsten Ballin diesen Sturm und auch den gesamten noch vor uns liegenden Teil des Krieges gesund überstehen möge - ja, auch deshalb, damit ich ihn einstmals wiedersehen kann.

      6 Wilsons Amerika

      Als am 15. Dezember 1917 der Waffenstillstand zwischen dem seit wenigen Wochen bolschewistisch regierten Russland und den Mittelmächten in Kraft trat, sah US-Präsident Woodrow Wilson seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Anders als manche seiner Berater und die Botschafter Großbritanniens und Frankreichs in Washington, die davon überzeugt waren, Russland zur Fortsetzung des Krieges gegen das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn bewegen zu können, befürchtete er jetzt die baldige Verlegung umfangreicher Kontingente deutscher Truppen von der Ost- an die Westfront. Zur gleichen Zeit aber befand sich das amerikanische Korps in Frankreich erst noch im Aufbau. Woodrow Wilson sann bis Weihnachten darüber nach, welche Möglichkeiten insbesondere die Vereinigten Staaten haben würden, den Bolschewiki hinreichend starke Anreize zur Wiederaufnahme des Kampfes zu bieten. Ihm ging es darum, nach Möglichkeit die Verlegung von einer bis zwei Millionen deutscher Soldaten, kampferprobt, gut organisiert und bestens geführt, in 60 bis 100 Divisionen nach Westen gänzlich zu verhindern. Mindestens aber sollte diese Kräfteverschiebung so lange hinaus gezögert werden, bis die USA selbst eine Million Soldaten oder mehr in Frankreich in die Kämpfe eingreifen lassen konnten. Das würde nach Einschätzung von Oberst House, Wilsons wichtigstem persönlichen Berater in sämtlichen Angelegenheiten des europäischen Krieges, im Sommer, wohl erst im Juli 1918 erreicht sein. Am zweiten Weihnachtstag zog sich der Präsident von einer Feier mit seiner Familie, zu der einige Geschwister nach Washington gereist waren, am frühen Abend mit der Begründung zurück, er sei nach dem reichlichen und guten Festtagsessen ein wenig unpässlich. In Wahrheit suchte Wilson umgehend sein Arbeitszimmer, das Oval Office im Weißen Haus auf. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, löschte das Licht und verharrte für eine gute Viertelstunde im Dunkeln, den schweren Kopf in die großen Hände gestützt. Seine Gedanken kreisten um die europäische Ostfront. Noch am 23. Dezember hatte er seinen Außenminister Robert Lansing zu einem ausführlichen Gespräch gebeten, ihm bohrende Fragen nach der Stabilität der Verhältnisse in Russland und nach den Eigeninteressen beim offenkundig zur Schau gestellten Zweckoptimismus der Entente-Mächte gestellt. Ihren Prophezeiungen von der Fortsetzung des Krieges in Russland schenkte er persönlich zunehmend weniger Glauben. Auch der Secretary of State Lansing traute den Briten und Franzosen in dieser Angelegenheit keinen Zentimeter über den Weg. Stattdessen meinte er, London und Paris wollten Amerika nur beruhigen. Die US-Botschaft in Petrograd hingegen meldete fortwährend, den Bolschewiki entgleite die soeben erst gewonnene Macht wieder aus den Händen. Menschewiki und Sozialrevolutionäre verfügten strukturell über eine Mehrheit in der Bevölkerung der beiden Hauptstädte. Deswegen sei es wohl realistisch, dass die Bolschewiki den Deutschen gegenüber auf Zeit spielten. Das erlaube ihnen, die in der Sache unakzeptablen Forderungen der deutschen Militaristen, Russland möge auf ausnahmslos alle nicht von Russen besiedelten Gebiete im europäischen Teil des vormaligen Zarenreiches verzichten, immerhin vorübergehend zu verunglimpfen und ins Leere laufen zu lassen. Schließlich müsste die Anerkennung der vollständigen