Das Virus in uns. Kurt Langbein

Читать онлайн.
Название Das Virus in uns
Автор произведения Kurt Langbein
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783990406021



Скачать книгу

die Seilbahnen liefen weiter. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz gab Freitagmittag eine Pressekonferenz. Er verkündete höchstpersönlich die Quarantäne über die Skiorte. Und während die Behörden den ausländischen Gästen lediglich die Möglichkeit einräumten, nach Bekanntgabe ihrer persönlichen Daten auszureisen, forderte Kurz diese via TV auf, die Urlaubsorte zu verlassen. Dass diese Gäste genauso unter Quarantäne gestellt werden müssten, sagte er nicht. Die Folge waren hektische Stunden. Auswertungen von Mobilfunkdaten zeigen es deutlich: Nachdem das Land Tirol am 13. März die Quarantäne über das Paznauntal verhängt hatte, verließen Massen an Urlaubern die Skigebiete Richtung Heimat. Viele von ihnen brachten das Virus mit nach Hause.

      Wäre es besser gewesen, die Touristen vorher zu testen oder für zwei Wochen zu isolieren? Dominik Oberhofer, Abgeordneter zum Tiroler Landtag (NEOS) und selbst Hotelier, vermutet finanzielle Interessen hinter der verordneten Massenausreise: »Die wollten natürlich nicht die Logie und die Verpflegung der Urlauber für 14 Tage Quarantäne zahlen.« Etwa 7000 Gäste reisten in dicht gedrängten Bussen, Pkws, Taxis ab, aus der vorgesehenen Registrierung wurde meist nichts.

      Statt wie vorgeschrieben die potenziell Infizierten unter Quarantäne zu stellen, wurden die Nicht-Österreicher in einen höchst infektiösen Massen-Exodus geschickt. Der österreichische Verbraucherschutzverein, der inzwischen im Namen von 6000 Geschädigten agiert, die sich in den Tiroler Bergdörfern das Virus geholt hatten, listet die weiteren Folgen auf:

      57 Prozent der in Österreich aufgetretenen Corona-Fälle lassen sich auf Ischgl zurückführen, mehr als zwei Drittel der im Ausland infizierten Deutschen haben sich in Österreich angesteckt, 90 Prozent davon in Tirol. Dazu kommen jeweils Hunderte Infizierte in Norwegen, Schweden, Island, Großbritannien, den Niederlanden und der Schweiz.

       Ground Zero der Alpen

      »Home Of Wahnsinn«, »Ground Zero« der europäischen Corona-Pandemie – an internationaler Negativpresse fehlt es der Skigemeinde im Paznauntal in den letzten Wochen und Monaten nicht. Im Eintrag auf Wikipedia wird Ischgl schon im vierten Satz mit Corona in Verbindung gebracht, der deutsche »Spiegel« ortet in Ischgl »Gier und Versagen«. Der Vorwurf: Zu lange hätte die Tiroler Landespolitik mit der mit ihr verbandelten Tourismusindustrie auf einen Shutdown der Skisaison zugewartet.

      Wie groß der Einfluss der Superspreader-Location auf die Infektionswelle in Deutschland ist, ließ sich bislang nur mutmaßen. Das Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel (IfW) konnte im Mai nun Daten vorlegen. Diese Studie basiert auf Daten des Robert-Koch-Instituts aus 401 deutschen Landkreisen.57 Dabei wurden die schlimmsten Befürchtungen bestätigt. So werde die »geografische Nähe zu Ischgl in Tirol« als »einer der Hauptrisikofaktoren für eine vergleichsweise hohe Infektionsrate« in der deutschen Bevölkerung angesehen.

      Gabriel Felbermayr, Präsident des Instituts, wird hinsichtlich Ischgl konkreter: »Nicht nur Deutschland wäre ohne die Ischgl-Fälle wohl deutlich glimpflicher davongekommen. So hätten Daten vom 20. März aufgezeigt, »dass ein Drittel aller Fälle in Dänemark und ein Sechstel aller Fälle in Schweden auf Ischgl zurückgeführt werden konnten«.58

       4

       Viren als Motor der Evolution

       Viren sind uralte Überlebenskünstler und haben die Evolution der meisten Lebewesen, auch von uns Menschen, vorangetrieben. Ohne sie gäbe es wohl heute keine Sexualität, würden dem Menschen manche Gene fehlen und sein Abwehrsystem wäre weniger leistungsfähig.

      »Viren gehören zu unserem Ökosystem, zu unserem Leben, zu unserer Umwelt, zu unserer Verdauung. Rund 50 Prozent des menschlichen Erbguts stammt von Viren«, sagt die deutsche Virologin Karin Mölling. »Viren sind die Treiber der Evolution, nicht primär Krankmacher«, erklärt die Grande Dame der Virenforschung vom Berliner Max-Planck-Institut, die seit ihrer Forschung an HIV weltweiten Ruf genießt.59 Für sie deutet alles darauf hin, dass Viren am Anfang des Lebens standen und eigentlich lebendig sind, auch wenn ihnen die Fähigkeit zur Fortpflanzung und zum Stoffwechsel fehlt und sie von den meisten Forschern für leblose Partikel gehalten werden. Für eine Zuordnung zum Lebendigen sprechen einige immer stärker werdende Argumente. Immerhin können Viren sich genetisch verändern – durch Mutationen. Und wenn sie ihren Bauplan in eine Biozelle eingebaut haben, dann sind sie auch Bestandteil eines lebenden Systems.60

       War am Anfang das Virus?

      Viren bestehen hauptsächlich aus Erbgut – DNA, viel öfter noch RNA. Die Nukleinsäure, für deren englisches Wort das Kürzel NA steht, ist die materielle Basis der Gene. Im Gegensatz zu den doppelsträngigen DNA-Molekülen kommen die RNA-Moleküle für gewöhnlich einzelsträngig vor. Das ermöglicht mehr dreidimensionale Strukturen und chemische Reaktionen, die es bei der DNA nicht gibt. Bei Schäden oder Mutationen kann sich allerdings die DNA durch den zweiten Strang viel eher selbst reparieren, deshalb mutieren Viren mit RNA-Strukturen auch viel schneller.

      Im Labor lässt sich RNA relativ einfach herstellen. Das gelang 2009 erstmals Wissenschaftlern der Universität Manchester aus Substanzen, wie sie wahrscheinlich auch in der Urerde vorhanden waren. Sie nahmen dazu ein einfaches Molekül, das als Gerüst zum Aufbau von Nukleinsäure-Bausteinen diente.61 Ein solcher chemischer Vorgang könnte auch in der Urerde möglich gewesen sein, meinen Forscher, die der Virus-first-Hypothese anhängen, also davon ausgehen, dass Viren am Anfang des Lebens standen. Die Idee dahinter: Bei der Entstehung des Lebens sind zuerst nicht Biozellen, sondern Virus-Vorläufer aus RNA entstanden, die als chemische Schnipsel in die Umwelt freigegeben wurden und sozusagen als Informationsträger umherschwirrten. Beweise dafür gibt es nicht, weil fossile Viren aus der Zeit vor vier Milliarden Jahren fehlen. Die Suche danach auf anderen Planeten könnte helfen, eine Bestätigung für die These zu finden, etwa auf dem Mars, weil es dort noch sehr altes Gestein gibt, wesentlich älter als auf der Erde. Würden dort Überreste von Virenpartikeln isoliert, aber keine Zellen, dann wäre das ein Hinweis darauf, dass in der Evolution zuerst RNA-Systeme entstehen und erst dann biologische Zellen. Doch das ist alles noch Gegenstand von Experimenten und Annahmen.

      Viel weiter sind die Forschungen, die sich auf die Entstehung und Entwicklung des Menschen beziehen. Die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts und die Genomanalysen anderer Lebewesen haben gezeigt: Alles, ob Nahrungsmittel, Raubtiere oder potenziell krankmachende Mikroben, hatte einen Einfluss auf die Evolution des Menschen.62 Dieser sogenannte horizontale Gentransfer – die Übertragung von Genen zwischen zwei Organismen, die nicht miteinander verwandt sind – hat zu vielgestaltigen Genomen geführt. Und Viren haben dabei eine nicht unbedeutende Rolle gespielt. »Viren haben sich gemeinsam mit ihren Wirten weiterentwickelt, und ihre Verwandtschaftslinien können als Lianen betrachtet werden, die sich um den Stamm, die Äste und die Zweige des Lebensbaums schlingen«, sagt Patrick Forterre, vor der Pensionierung Direktor der Abteilung für Mikrobiologie des Pariser Pasteur-Instituts.63

      »Jede einzelne Spezies hat zahlreiche auf sie spezialisierte Viren«, erklärt Forterre. Der Mikrobiologe, auch er überzeugter Verfechter der Virus-first-Theorie, bezweifelt die Lehrbuch-Hypothese von Viren als »Taschendieben«, die sich aus den Zellen Erbgut klauen und damit selbstständig machen. Die umgekehrte Variante sei biologisch wesentlich plausibler. Im Lauf der Evolution hätte es einen gewaltigen Nachteil bedeutet, parasitäre Mikroben, die nur ihren eigenen Vorteil bedienen, in lebendige Systeme einzubinden. Stattdessen wurde die Bildung von Symbiosen, also kooperativen Systemen, klar bevorzugt. Organismen, die es nicht schafften, sich mit ihren Mikroben abzustimmen, starben aus. Mittlerweile gibt es schon etliche Funde, die Forterres These untermauern sowie gleichzeitig zeigen, welche Überlebenskünstler Viren sind und wie sehr sie zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts im globalen Ökosystem beitragen. So wurden im Erbgut eines zwölf Millionen Jahre alten Kaninchens Viren gefunden, die jenen des Aids-Verursachers