Das Virus in uns. Kurt Langbein

Читать онлайн.
Название Das Virus in uns
Автор произведения Kurt Langbein
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783990406021



Скачать книгу

Wuhan immer mehr infrage gestellt. Auf diesem Markt, von den Medien inzwischen meist »Wildtiermarkt« genannt, soll das Coronavirus von illegal verkauften Tieren auf den Menschen übertragen worden sein – der Ausgangspunkt einer Pandemie. So stellte es Chinas oberster Seuchenschützer Gao Fu am 22. Januar bei einer Pressekonferenz dar. Den Markt hatten die Behörden drei Wochen zuvor geschlossen, die Waren vernichtet.

      Zur selben Zeit verfassen Botao Xiao und sein Kollege Lei Xiao eine Studie, die kurz Aufsehen erregen sollte. »Die Fledermäuse, von denen das neue Virus auf den Menschen überging, leben in Yunnan, 900 Kilometer von Wuhan entfernt«, schreiben die beiden Biologie-Professoren an zwei verschiedenen Universitäten im Wissenschaftsportal »Researchgate«.10 Es seien nur einige der Erst-Infizierten tatsächlich auf dem Markt gewesen, und Befragungen hätten ergeben, dass keine Fledermäuse auf dem Markt verkauft wurden. Allerdings steht nur 280 Meter vom Markt entfernt ein Labor des »Zentrums für Seuchenbekämpfung und Prävention«, wo mit Coronaviren und Fledermäusen als Wirtstieren geforscht wird. Die Tiere werden dort obduziert, die Viren analysiert, berichten die Forscher, es herrsche dort lediglich Sicherheitsstufe zwei von vier. Es sei daher wahrscheinlich, dass das Virus entweder durch Verunreinigung oder durch einen infizierten Labormitarbeiter in die Stadt und zum Fischmarkt gelangt sei.

      Einen Tag später ist die Publikation gelöscht, auch das Profil von Professor Botao Xiao von der South China University of Technology ist verschwunden. Er erklärt später in einem Telefonat mit dem »Wall Street Journal«, er habe die Arbeit zurückgezogen, weil es an Beweisen für den Verdacht fehle.11 Allerdings hatte eine andere chinesische Forschergruppe im angesehenen Fachblatt »The Lancet« schon Ende Januar Ergebnisse publiziert, die ebenfalls die Markt-These infrage stellen. Die erste positiv getestete Covid-19-Patientin sei bereits am 1. Dezember erkrankt und habe keinerlei Kontakt zum Fischmarkt gehabt, schreiben sie.12 Und von den ersten 47 Erkrankten hätten sich lediglich 27 auf dem Markt aufgehalten.

       Europa bleibt gelassen

      Noch am 20. Januar sagt einer der erfahrensten Virologen, John Oxford von der Queen Mary University of London: »Ich bin immer noch nicht sehr besorgt. China hat aufgrund von Sars 1 Erfahrungen mit solchen Coronaviren.«13 Und am 22. Januar beschwichtigt der Präsident des deutschen Robert-Koch-Instituts, Lothar H. Wieler, das Gesundheitsrisiko für die Bevölkerung sei derzeit »eher gering«. Obwohl das Virus offenbar von Mensch zu Mensch übertragen werden könne und die Möglichkeit bestehe, dass Erkrankte nach Deutschland einreisen, sagt Wieler: »Allerdings ist die Übertragungsrate nicht kontinuierlich, nach dem jetzigen Wissensstand. Wir gehen also davon aus, dass nur wenige Menschen von anderen Menschen angesteckt werden können.«14 Auch der deutsche Bundesgesundheitsminister Jens Spahn meint am 23. Januar: »Das Infektionsgeschehen ist deutlich milder, als wir es bei der Grippe sehen.«15 Am 24. Januar werden die ersten drei Infizierten aus Frankreich gemeldet. Damit ist die Krankheit in Europa gelandet. Ende Januar treten die ersten Fälle in Deutschland auf – die meisten tatsächlich mit einem milden Krankheitsverlauf.

      Am 29. Januar kommt der Gesundheitsausschuss im Deutschen Bundestag zusammen. Das Thema Coronavirus ist Tagesordnungspunkt 5.b – am Ende der Sitzung. Wieler beklagt die »mangelhafte Informationspolitik Chinas«. Es sei immer noch nicht genau geklärt, wie das Virus übertragen werde.16

      Für den Krisenfall gibt es ein Papier aus dem Jahr 2012: »Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz«.17 Darin steht, was zunächst bei Pandemiegefahr nötig ist: rasche Diagnose, Eingrenzen der Kontaktpersonen und Quarantäne aller Verdachtsfälle. Und falls die hohen Fallzahlen dies nicht mehr möglich machen: Schulen schließen, Großveranstaltungen absagen, Schutz des medizinischen Personals.

      Davon ist in dieser Sitzung laut Protokoll keine Rede. Der Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske von der Universität Bremen hält das für ein Versäumnis: »Im Prinzip hat man diesen Bericht nicht ausreichend zur Kenntnis genommen und hat letzten Endes nicht darauf reagiert, dass man längst Vorkehrungen getroffen hat für die nächste Epidemie oder Pandemie.«18

      Die drastischen Maßnahmen der chinesischen Regierung werden als diktatorisch kritisiert – auch von Publizisten, die später die europäischen Lockdowns hochleben lassen. »Dass die Weltgesundheitsorganisation diesen schweren Eingriff in die Freiheitsrechte von Millionen ohne Weiteres unterstützt, ist eine Schande«, schrieb etwa Lea Deuber in der »Süddeutschen«. »Niemand will gerne krank werden. Aber China ist in der Lage, eine solche Entscheidung zu treffen, weil die Menschen kein Mitspracherecht haben. Dass die Staatengemeinschaft das ausnutzt, ist unwürdig.«19 Und weiter: »Die Entscheidung hat zu Panik geführt. Sinnvoll wäre es gewesen, die Menschen aufzufordern, zu Hause zu bleiben. Nun stürmen sie die Krankenhäuser, weil sie nicht mehr einschätzen können, wie gefährlich das Virus wirklich ist. Die Isolation hat die Menschen nicht geschützt. Sie hat sie in Gefahr gebracht.«20

      Im österreichischen Innenministerium tagt am 26. Januar ein Einsatzstab zur weiteren Vorgehensweise zum Thema Coronavirus. Im Anschluss an die Lagebesprechung treten Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) und Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) vor die Presse. »Es gibt absolut keinen Grund zur Panik«, sagt Anschober.21

       Italien: Die Welle schwappt nach Europa

      »Das war der Punkt, an dem wir nervös wurden«, sagt der Intensivmediziner Maurizio Cecconi.22 Er meint den 20. Februar 2020. In Codogno, einer Stadt mit knapp 16.000 Einwohnern in der Region Lombardei etwa 60 Kilometer südöstlich von Mailand, ist an jenem Tag ein 38-jähriger Mann mit schwerer Atemnot in die Intensivstation eingewiesen worden.

      Es ist feuchtkalt in der Lombardei, der Smog verhindert gelegentlich sogar die Landung von Flugzeugen in Mailand. Die Grippewelle ist spürbar in den Kliniken, wie jeden Spätwinter. Ältere und kranke Menschen sterben um diese Zeit regelmäßig häufiger. Aber der neue Patient in Codogno ist jung und ohne Vorerkrankungen, ein ungewöhnlicher Fall. Als die konventionellen Behandlungsmethoden gegen Lungenentzündung nicht anschlagen, werden die Ärzte hellhörig. Und tatsächlich: Der Test auf SARS-CoV-2 ist positiv. Die Ärzte recherchieren sofort in seinem Umfeld: Der junge Mann hat zwei Wochen zuvor einen Freund getroffen, der aus China eingereist ist.

      Um diese Zeit kehrten etwa 10.000 Menschen von den chinesischen Neujahrsfeiern in die Textilzentren der Lombardei zurück. 50.000 Chinesen nähen dort für die trendigen Modelabels Norditaliens zu günstigen Preisen, die meisten seit vielen Jahren, sie sind längst italienische Staatsbürger.

      Intensivmediziner Cecconi, der Leiter des »COVID-19 Lombardy ICU Network«, lässt sofort die Patienten in anderen Intensivstationen testen. 38 von ihnen waren infiziert, hatten aber keinen Kontakt mit »Patient 1« gehabt. Sie mussten sich also bei anderen Personen angesteckt haben. Nun ist klar, dass das Virus schon massiv im Umlauf sein muss und eine dramatische weitere Ausbreitung wahrscheinlich ist.

      Die Politiker der Region fordern einen shut down in den betroffenen Gemeinden. Menschen mit Fieber oder Husten strömen besorgt in Scharen in die Klinik-Ambulanzen, um sich testen zu lassen und Hilfe zu erhalten.

      Inzwischen stellte sich heraus, dass »Patient 1« bereits am 16. Februar bei der Notaufnahme der Klinik mit hohem Fieber und Grippesymptomen vorstellig wurde. Nach einer Untersuchung schickte man den »grippekranken« Mann allerdings wieder nach Hause.

      Drei Tage später wurde er von seiner Ehefrau, die im achten Monat schwanger und inzwischen auch infiziert war, abermals in die Klinik von Codogno gebracht – mit noch höherem Fieber und akuter Atemnot.

      Dem Spitalspersonal fehlte weitgehend Schutzkleidung. Bald stellte sich heraus, dass auch Dutzende Ärzte und Spitalsmitarbeiter infiziert waren – inzwischen sind es Tausende. Pensionierte Ärzte wurden zu Hilfe gerufen – von ihnen sollten besonders viele sterben. Weil die Kliniken in der Region bald voll waren, wurden Patienten mit leichteren Symptomen in Pflegeheimen untergebracht, was dort zu massiven Ansteckungen des ungeschützten und wegen