Das Virus in uns. Kurt Langbein

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Название Das Virus in uns
Автор произведения Kurt Langbein
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783990406021



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       Lebendige Flüssigkeit

      Das erste Virus, das sichtbar gemacht werden konnte, war der Erreger der Mosaikkrankheit auf Tabakpflanzen, die sich in gekräuselten Blättern und mosaikartiger Marmorierung äußert.30 Das war 1940, doch diesem Fund war eine 50 Jahre dauernde Suche vorangegangen. Der deutsche Agrikulturchemiker Adolf Mayer hatte sich bereits seit 1889 bemüht, die Ursache für die welkenden Tabakpflanzen zu finden, konnte im Mikroskop jedoch keinen Erreger ausmachen. Dabei musste es einen solchen geben, denn Mayer hatte den Saft kranker Pflanzen gesunden injiziert, deren Blätter sich ebenfalls zu verfärben begannen. Selbst wenn der Pflanzensaft ganz fein gefiltert wurde, blieb er infektiös. Der russische Biologe Dmitri Iwanowski, der sich der Sache ebenfalls annahm, vermutete, eine lebendige Flüssigkeit müsse Ursache der Infektion sein, und sprach von einem »Virus«, einem Gift. Das wurde allerdings nicht schwächer, wenn man es verdünnte, es musste sich also irgendwie vermehren.

      Viel wurde spekuliert, was dahinterstecken könnte, zumal zur selben Zeit auch die Jagd nach bis dahin unbekannten Erregern anderer Krankheiten begonnen hatte.31 Etwa nach jenem der Maul- und Klauenseuche, bis heute eine der gefährlichsten Infektionserkrankungen bei Tieren.

      Immer wieder vertieften sich Wissenschaftler auf der ganzen Welt in das Problem des unsichtbaren Tabakpflanzenschädlings, ohne eine Lösung zu finden. Erst 1935 entdeckte der US-amerikanische Biochemiker und Virologe Wendell M. Stanley winzige Kristallnadeln im Saft einer befallenen Pflanze. Bestätigt werden konnte Stanleys Fund mithilfe des ersten Elektronenmikroskops 1940. Sechs Jahre später bekam er dafür den Nobelpreis für Chemie.

      Lange Zeit nach ihrer Entdeckung beschäftigten die Viren die Forscher jedoch hauptsächlich wegen ihrer krankmachenden Eigenschaften. Das ist nicht verwunderlich, denn gegen viele der Krankheiten, die die Menschheit – oft seit Jahrtausenden – plagten, gab es lange kein Mittel: Die Masern haben ganze Kulturen ausgelöscht, die Pocken hinterließen bei jenen, die sie nicht dahinrafften, bleibende Entstellungen, die Spanische Grippe forderte mehr Todesopfer als der Erste Weltkrieg.

      Dass wir mit jedem Salatblatt eine große Anzahl harmloser Viren mitessen und bei jedem Gang nach draußen durch einen Schwarm Virenpartikel wandern, die uns nichts anhaben, ist eine relativ neue Erkenntnis.

       Viren, so groß wie Bakterien

      Im Wasser eines Kühlturms in England hatten Mikrobiologen 1992 eine bis dahin unbekannte Mikrobe entdeckt – und hielten sie aufgrund ihrer Größe für ein Bakterium. Zehn Jahre sollte es dauern, bis ein Team um den südfranzösischen Infektiologen Didier Raoult, der während der Corona-Krise mit der Propagierung des Medikaments Hydroxychloroquin überregionale Bekanntheit erlangte, den Irrtum entdeckte. Es handelte sich um ein Virus, er nannte es »Mimivirus« – ein Virus, das so tut, als wäre es eine Mikrobe, ein lebendiger Organismus. In den folgenden Jahren wurden noch etliche weitere solcher Riesenviren gefunden, die allesamt ganz besondere Merkmale tragen. Ihr Wirt sind Amöben und ihre Erbsubstanz ist von einer Doppelhülle umgeben, deren äußere einen vieleckigen Körper darstellt. Andere, etwas später isolierte Riesenviren haben die Form einer griechischen Amphore und werden deshalb Pandoraviren genannt. Im Gegensatz zu ihren winzigen Verwandten verfügen sie alle über ein üppiges Erbgut. Bei Pandoraviren ist es nahezu so umfangreich wie jenes von Einzellern, und genetisch verfügen sie über fast alles, was zur Eiweißproduktion benötigt wird. Damit verschwimmt die Grenze zwischen Viren und Lebewesen. 2013, als die französische Forschergruppe weitere Riesenviren entdeckte, hieß es im Wissenschaftsmagazin »Nature«, diese neu identifizierten Mikroben würden einen bis dahin unbekannten Teil des Lebensbaums sichtbar machen.32

      Auch wenn die Existenz der Riesenviren erst unlängst bekannt wurde, so sind sie doch steinalt. Mindestens 30.000 Jahre, denn in einem so alten Stück sibirischen Permafrostbodens wurde ebenfalls ein Riesenvirus entdeckt. Seine DNA hatte überdauert und das Virus konnte wieder infektiös gemacht werden.33

      Obwohl Viren für gewöhnlich immer noch nicht zu den Lebewesen gezählt werden, können sie sich verändern. Oft sind sie schlampig, wenn es um Vermehrung geht, und mutieren innerhalb des Reproduktionszyklus. Danach können sie anders aussehen oder sich anders verhalten. Das kann langsam vor sich gehen, oder es können mit einem Schlag mehrere Eigenschaften verändert werden. Und aus einer harmlosen Mikrobe kann, wenn sie einen anderen Wirt befällt, etwa von Tieren auf Menschen überspringt, eine Bedrohung werden, ein Supervirus, das sich schnell verbreitet und schwerwiegende Gesundheitsschäden verursacht.

       Erhöhte Wachsamkeit

      »Wir brauchen eine permanente Beobachtung und erhöhte Wachsamkeit gegenüber dem Auftauchen neuer Virusstämme durch zoonotische Übertragung«, sagt Rasmus Nielsen, Evolutionsbiologe an der University of California.34 Er untersucht, was auf molekularer Ebene passiert, wenn Viren ihre Wirtszellen wechseln. Dass Viren den Sprung über die Artengrenze schaffen, ist kein neues Phänomen. Wenn sie dann nicht nur von Tieren auf Menschen übergehen, sondern sich so anpassen, dass sie von Mensch zu Mensch übertragen werden können, wird es wirklich unangenehm. Denn dann können sie sich schnell ausbreiten und je nachdem, wie ansteckend sie sind, zu Epidemien oder Pandemien führen. Die Zahl der Säugetier- und Vogelviren, die theoretisch den Menschen zum Wirt nehmen können, wird auf 700.000 geschätzt, 260 haben es bisher tatsächlich geschafft.35

      Das war vor mehr als 130 Jahren so, als ein im Nachhinein Betacoronavirus genannter Keim von Mäusen auf Kühe und dann auf den Menschen übersprang und wahrscheinlich Auslöser einer Pandemie war, die weltweit mehr als eine Million Menschen tötete.36 Das war bei HIV so, da kam das Virus von Schimpansen und Gorillas; das ist beim Influenzavirus so; und bei den Coronaviren SARS 1 und MERS, die sich ursprünglich in Fledermäusen und dann Schleichkatzen bzw. Dromedaren breitmachten. Und beim Coronavirus SARS 2.

       3

       Die Covid-Lawine

       Ein Wintersportort in den Tiroler Alpen wurde zum Hotspot für das neue Virus. Wie in China reagierten Behörden und Verantwortliche zunächst mit Leugnen und Vertuschen. Schließlich sorgte die Vertreibung der internationalen Gäste für die rasche Verbreitung von SARS-CoV-2 in Nord- und Westeuropa.

      Im Winter nach Ischgl reisen, tagsüber die Skipisten runterbrettern und abends das Leben feiern – so stellen sich viele Europäer ihren Urlaub im Schnee vor. Für zahlreiche Wintersportfreunde gehört ein Trip in den berühmten wie beliebten Skiort in Tirol einfach dazu, wenn sich die weiße Pracht im Land ausbreitet. Denn hier befindet man sich unter Gleichgesinnten. Mit 1,4 Millionen Nächtigungen belegt Ischgl Rang zwei in der Tiroler Urlauber-Statistik, aber im »Ibiza der Alpen« drängt sich vermögenderes Volk als am Mittelmeer, dafür sorgen schon allein die Preise.

      Paris Hilton hat sich hier ebenso sehen lassen wie Bill Clinton, gehobener Mittelstand aus ganz Nord- und Westeuropa trifft sich hier zum Schwingen auf den autobahnähnlichen Pisten. Danach geht es zunächst zur Hüttengaudi neben den Pisten und am Abend dann weiter in die Bars, Pubs und Klubs im Zentrum des Skiortes. Junge Frauen in Lederhosen oder in kurzen Dirndl-Röckchen tanzen dort auf dem Tresen, der Rest ergibt sich.

      Die Saison 2020 sollte wie üblich Anfang Mai mit einem Groß-Event zu Ende gehen. »Starke Gefühle übernehmen die Regie, wenn beim letzten Top of the Mountain Concert der Saison Eros Ramazzotti die Idalp in seinen Bann zieht«, kündigt die Fremdenverkehrswerbung stolz an, »mit seinen Klassikern und Ohrwürmern im Gepäck kommt der italienische Großmeister am 2. Mai 2020 und begeistert die Besucher und Skifahrer in der Silvretta-Arena.«37

      Im Jahr davor feierten 18.000 Besucher den Schluss der Skisaison und bestaunten zwei Jets des österreichischen Bundesheers und die aus Helikoptern springenden »Skydiver« in ihren Fledermauskostümen. Aber