Das Virus in uns. Kurt Langbein

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Название Das Virus in uns
Автор произведения Kurt Langbein
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783990406021



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      Erst am 23. Februar riegelte Italien die betroffenen Gebiete ab. Trotz harter Quarantäne-Maßnahmen stieg die Zahl der Infizierten rasant. Heute ist bekannt: Etwa die Häfte der Covid-19-Erkrankten in Italien hat sich im Krankenhaus angesteckt.

      Weil dort überwiegend alte und schwerkranke Menschen liegen, war bald auch die Sterblichkeit der neuen Viruserkrankung mit 5,8 Prozent viel höher als in China. Die Erfahrungen in Wuhan hatten gezeigt, dass fast nur Menschen über 65 mit Krebs, Herz- oder Lungenerkrankungen durch Covid-19 einer tödlichen Gefahr ausgesetzt sind.

      Bis zum 26. Februar waren in Italien 374 Menschen mit dem Virus angesteckt, zwölf davon waren gestorben. Die Lombardei ist eine der reichsten Regionen der Welt. Aber die Politik der vergangenen Jahrzehnte hat Spuren hinterlassen, es fehlte an allem: Intensivbetten wurden knapp, Schutzkleidung war nicht vorrätig. Weil inzwischen Deutschland und Österreich die Grenzen geschlossen hatten, kamen Lieferungen mit der lebenswichtigen Schutzkleidung erst drei Wochen später an.

      An diesem 26. Februar appellierte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides an die Mitgliedsstaaten der Union, die Pandemiepläne zu aktivieren und anzupassen. »Noch befinden wir uns in der Eindämmungsphase«, betonte die griechische Politikerin. Aber es wurde nichts eingedämmt.

      »Wir haben es vergeigt. Wir haben zu spät begonnen zu bremsen«, sagt auch Alexander Kekulé, Professor für Virologie an der Universität Halle-Wittenberg.23 Er hat genau an diesem 26. Februar der deutschen Regierung vorgeschlagen, in allen Kliniken Patienten mit verdächtigen Symptomen testen zu lassen. »So hätten wir sichergestellt, dass kein größerer Ausbruch unentdeckt bliebe.«

      Deutschlands Politiker verzichteten zunächst auf Ausgangssperren. Virologe Kekulé findet das sinnvoll: »Wenn die Sonne scheint, sollen die Leute raus, da sind die Viren im Eimer, die lieben Innenräume. Wenn sie die Leute einsperren, machen sie genau das Falsche. Auch aus psychologischen und sozialen Gründen. Das ist für mich unzumutbar und ein überzogenes Mittel.«

       2

       Wir sind der Gast

       Sie sind viele. Sie sind überall. Und sie sind keine Killer: Viren. Diese raffinierten Überlebenskünstler, so alt wie das Leben selbst, haben die Evolution entscheidend vorangetrieben, auch die des Menschen.

      Wer an Viren denkt, denkt an grässliche Krankheiten, an outbreaks aus Katastrophenfilmen. An Ebola oder Aids, an Pocken und Influenza, an Masern und Schnupfen und in letzter Zeit an das Coronavirus SARS-CoV-2. Viren werden gleichgesetzt mit Bedrohung, mit Epidemie und Pandemie, mit Abwehr und Abscheu, mit Tod. Das ist offenbar schon länger so, denn das lateinische Wort virus bedeutet Schleim oder Gift.

      Aber dieses Bild hat sich in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten gründlich gewandelt. Erst seit 100 Jahren kann man Viren und Bakterien voneinander unterscheiden, seit 80 Jahren können Viren sichtbar gemacht werden. Erstmals war es seit der Entwicklung der gigantisch schnellen Sequenziermaschinen in den vergangenen zwei Jahrzehnten möglich, nicht nur das menschliche Genom zu entschlüsseln, sondern auch das der vielen Mikroben, die uns umgeben. Und da zeigt sich nach und nach, dass Viren keineswegs ausschließlich Krankheitserreger sind. Diese winzigen Eiweißpartikel, in die Erbinformation verpackt ist, sind unerlässliche Wegbegleiter, ja Architekten sämtlichen Lebens. »Galten Viren bislang nur als die Feinde von Mensch und Tier, ja allen Lebens, so zeigt sich nun, dass sie zur Entstehung und Entwicklung des Lebens entscheidend beigetragen haben«, schreibt die in der Aidsforschung bekannt gewordene Berliner Virologin Karin Mölling in ihrem Buch »Supermacht des Lebens«.24

      Viele Forscher meinen nach wie vor, Viren seien keine Lebewesen. Aber so richtig leblos sind sie auch nicht: Seit Milliarden Jahren reproduzieren und verändern sie sich und sie spielten bei der Entstehung der ersten komplexen Lebensformen wahrscheinlich eine entscheidende Rolle. Viren sind überall, sie sind die ältesten biologischen Elemente auf unserem Planeten. Und sie sind auch mit Abstand die häufigsten. Oft wird immer noch der Mensch als »Wirt« der Mikroorganismen beschrieben. Aber angesichts der Erkenntnisse über deren Rolle in unserem Leben und deren Menge ist man geneigt, das Bild umzudrehen: Wir sind der Gast. In unserem Körper gibt es hundertmal mehr Viren als menschliche Zellen, und unser Erbgut wird von Viren maßgeblich mitgestaltet: Immerhin zur Hälfte besteht das menschliche Erbgut aus Viren oder, genauer, aus Virenresten.25

      Viren sind raffinierte Überlebenskünstler, so alt wie das Leben selbst, und sie haben als Motoren der Evolution andere Lebewesen vorangebracht – auch den Menschen. Mit ihm und seinen Vorfahren verbindet sie eine jahrmillionenalte Wechselbeziehung. Dabei sind Viren und Menschen eine vorwiegend friedliche Koexistenz eingegangen. Krankheiten entstehen erst dann, wenn die Balance des Systems gestört wird, durch reduzierte Artenvielfalt, bedrohte Lebensräume für einzelne Arten, übervölkerte Städte.

      Wollte man den Erfolg einer Kreatur danach bemessen, wie viele Exemplare es davon gibt, dann wären Viren die Sieger der Evolution. 1033 Virenpartikel gibt es auf dem Planeten, damit sind sie zehnmal häufiger als Bakterien. Wären einzelne Virenpartikel so groß wie ein Sandkorn, dann würde allein ihre Menge die gesamte Erdoberfläche mit einer 15 Kilometer dicken Schicht bedecken.26

      In jedem Kubikmillimeter Meerwasser finden sich zehn Millionen Viren27, 100 Millionen verschiedene Virentypen werden insgesamt vermutet, 320.000 davon kommen in Säugetieren vor. Und unser Wissen ist trotz der rasanten Entwicklung in den vergangenen zehn Jahren immer noch marginal: Gerade einmal 5630 Virenarten sind bisher identifiziert und beschrieben.28

      Viren sind – mit Ausnahme der sogenannten Riesenviren – winzig, wesentlich kleiner als Bakterien, selbst unter dem Lichtmikroskop nicht auszumachen. Wäre ein Mensch so groß wie ein Fußballstadion, hätte ein Bakterium die Größe eines Fußballs und ein Virus wäre so groß wie eines der schwarzen achteckigen Felder auf dem Ball. Oder ein anderes Bild: 20.000 von ihnen aneinandergereiht, messen gerade einmal einen Millimeter.29

      Viren sind allgegenwärtig – im Meer, an Land, tief unter der Erde, zu finden überall dort, wo es Zellen gibt. Denn sie brauchen, um sich fortzupflanzen, andere Mikroorganismen. Im Grunde sind Virenpartikel (Virologen nennen sie »Viria«) nichts anderes als proteinbesetzte Kapseln mit Erbgut darin, manchmal noch mit einer Hülle rundherum. Träger der Erbinformation sind die Nukleinsäuren DNA oder RNA.

      Dass sich Viren nicht selbst vermehren können, ist der Grund, warum sie bei den meisten Wissenschaftlern auch nicht als Lebewesen gelten. Als solche müssten sie zudem wachsen, Energie und Eiweiß erzeugen können. Dazu sind Viren nicht in der Lage. Auf der Suche nach dem geeigneten Wirt, den sie für ihre Fortpflanzung brauchen, helfen Rezeptoren an der Oberfläche der Viruskapsel, die zu jenen der Wirtszelle passen. Einmal angedockt, schleust das Virus seine Erbinformation in das Innere der Zelle und veranlasst sie, Viren-Bruchteile zu produzieren, die sich in der Zelle zu Viren-Kopien zusammenfügen. Damit ist der Reproduktionszyklus komplett, und die aus der Wirtszelle austretenden Abertausenden Viren-Kopien kapern ihrerseits weitere Zellen.

      Manchmal ist dieser Vorgang allerdings äußerst aggressiv. Die befallene Zelle wird dann veranlasst, so viele Kopien herzustellen, dass sie vor Erschöpfung zerplatzt. Ein Beispiel dafür ist das Ebolavirus, das beim Menschen nicht nur die Zellen der Leber und anderer Organe befällt, sondern auch Lymphknoten und Abwehrzellen des Immunsystems. Ein Großteil seiner Opfer stirbt rasch. Aus Sicht der Viren sind Menschen damit freilich ein Fehlwirt, da sie oft nicht lange genug leben, um die Viren-Kopien weiterzugeben. Die meisten der bisher beobachteten Ebola-Ausbrüche waren deshalb auch schnell wieder zu Ende.

      Die überwiegende Mehrzahl der Viren pflegt einen deutlich weniger radikalen Stil. Besonders schlau machen es Rhinoviren, die häufigsten Auslöser von Schnupfen. Sie verbreiten sich in der Nasenschleimhaut von Zelle zu Zelle. Als Immunreaktion schwillt die Nasenschleimhaut an und bildet größere Mengen eines schleimhaltigen Sekrets: Die Nase läuft – und Unmengen frisch geschlüpfter Viren laufen mit, um sich neue Wirte zu suchen, die sie mit Schnupfen anstecken können. Die Viren verwenden