Das Virus in uns. Kurt Langbein

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Название Das Virus in uns
Автор произведения Kurt Langbein
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783990406021



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Naturkundemuseum konnten vor Kurzem nachweisen, dass ein eidechsenähnliches Tier, das vor 289 Millionen Jahren in der Permzeit lebte, an einer Erkrankung des Knochenstoffwechsels litt, hervorgerufen durch masernähnliche Viren.65

       Ein 50 Millionen Jahre alter Phönix

      »Phönix«, so nannte Thierry Heidmann das Virus, das er 2006 in seinem Labor zu neuer Aktivität erweckte.66 Dem französischen Biophysiker war etwas gelungen, was Forscherkollegen als »Jurrasic-Park-Experiment« bezeichneten. Er hatte Kopien eines – wie sich herausstellte – 50 Millionen Jahre alten Retrovirus, dessen genetischen Bauplan er im menschlichen Genom entdeckt hatte, wieder in die Lage versetzt, von einer Wirtszelle neue Virenpartikel produzieren zu lassen. Diese Partikel konnten dann ihrerseits wieder Zellen infizieren und ihre kopierten Gene in die Zelle einfügen. Bis dahin waren die Virus-Kopien inaktiv gewesen, denn in den Jahrmillionen hatte sich ihr Erbgut ein paarmal verändert, ohne sich jedoch einen neuen Wirt zu suchen.

      Gleich dem mythologischen Vogel, der aus seiner eigenen Asche wiederersteht, entstand so ein vollständiges und aktives Virus, zusammengesetzt aus seinen in menschlicher DNA festgeschriebenen Teilen. Wie kam der Ursprungs-»Phönix« in die menschliche DNA? Er muss in Urzeiten Keimzellen menschlicher Vorfahren infiziert haben und dann von Generation zu Generation weitergegeben worden sein. Die Überbleibsel solcher Viren-Kopien werden humane endogene Retroviren genannt – ihr Kürzel ist HERV. »Phönix« ist nicht das einzige – immerhin rund 8 Prozent des menschlichen Erbguts bestehen aus solchen HERVs. Identifiziert wurden bereits mehr als 30 HERV-Familien.

      Aber welchen evolutionären Sinn ergibt das? Lange Zeit blieb der Grund, warum sich die Genbruchstücke im menschlichen Erbgut eingenistet haben, im Dunkeln. Für die Wissenschaft waren sie einfach »Junk-DNA«, nutzloser Abfall. Doch nach und nach hat sich herausgestellt, dass sie nicht von ungefähr eng mit dem Menschen verbunden sind. Einerseits treiben sie die Evolution voran, weil die Gene, die sich nicht vom Virus infizieren lassen, ausgeschieden werden. Aber neue Forschungen zeigen, dass sie auch zu Neuerungen im Genom beitragen, etwa indem sie neue genetische Codes für die Herstellung bestimmter Moleküle einbringen.67 Ein Beispiel dafür ist das Enzym Amylase, das notwendig ist, um Stärke abzubauen. Die meisten Säugetiere bilden dieses Enzym nur in der Bauchspeicheldrüse. Nicht so der Mensch. Bei ihm bildet es sich auch in der Speicheldrüse – eine Voraussetzung für die Ackerbaukultur: Nur wer Getreide leicht verdauen kann, für den ist Ackerbau sinnvoll. Zu verdanken ist diese Eigenschaft einem Retrovirus68, das sich in der Nähe von drei Amylase-Genen ins Genom einnistete und dafür sorgte, dass auch die Speicheldrüsen den Stoff herstellen.69

       Ohne Viren keine Kinder

      Eigentlich gehören Viren zu den sich am schnellsten verändernden Mikroben. Doch die Genbestandteile der endogenen Retroviren sind, wie »Phönix« bewiesen hat, erstaunlich dauerhaft, was ihren Verbleib bei einem Wirt betrifft. Das deutet darauf hin, dass das jeweilige neue Gen vom befallenen Organismus sehr oft gut gebraucht werden kann.70 Erste Erkenntnisse dazu, wie nützlich die Virusgene im Menschen sein können, gab es bereits 1978. Da stießen Forscher vom Cancer Institute in San Francisco auf Retroviren-ähnliche Partikel in menschlichem Plazentagewebe. Erst mehr als 20 Jahre später wurde klar, was ihre Funktion ist: Sie unterstützen die Produktion bestimmter Eiweißstoffe, die ursprünglich dem Virenpartikel halfen, seine Hüllmembran mit der der Wirtszelle zu verbinden. Später trugen die Eiweißstoffe dazu bei, Zellen in der Plazenta so zu verbinden, dass eine schützende Barriere entsteht. Die verhindert, dass das Immunsystem der Mutter den Embryo als Fremdkörper abstößt, während er sich in die Gebärmutter einnistet.71 Dieser wichtige Schritt – eine Voraussetzung für die Lebensfähigkeit von Säugetieren – hat sich vor zwölf bis 80 Millionen Jahren ereignet72, bei Beuteltieren dagegen konnte dieses endogene Virus nicht nachgewiesen werden. Der Mensch und alle anderen Säugetiere mit Plazenta dürften eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Fortpflanzung einem Virus verdanken.

      Viren haben im Lauf der Evolution auch dazu beigetragen, das menschliche Immunsystem zu modulieren. US-amerikanische Wissenschaftler fanden heraus, dass virale Erbgutschnipsel hauptsächlich in der Nähe von jenen Genen zu finden sind, die die Immunantwort steuern. Werden die ursprünglich von Viren stammenden Basenpaare im Labor entfernt, fällt die Immunantwort auf eine Virusinfektion weitaus schwächer aus.73

      Die Nähe mancher endogenen Retroviren zum Immunsystem lässt sie jedoch nicht immer nur freundlich wirken. Einige werden mit der Entstehung von Autoimmunkrankheiten wie der Arthritis oder anderen rheumatischen Erkrankungen, mit Multipler Sklerose und Schuppenflechte in Zusammenhang gebracht. Eine mögliche Beteiligung von Viren wurde auch bei Brust- und Hautkrebs festgestellt.74 Doch wenn alle Retroviren schädlich für den Menschen wären, wären sie im Zuge der Evolution wohl nicht weitergegeben worden.

      Auch andere Bestandteile im menschlichen Genom sind viralen Ursprungs. Die Virologin Anna Marie Skalka und ihr Team vom Krebsforschungsinstitut in Pennsylvania fanden im menschlichen Genom die Gensequenzen der Vorfahren von Bornaviren, gefürchteten Krankheitserregern. Der Fund war unerwartet, zumal die Genabschnitte dieser und anderer Keime wie dem Marburgvirus auch in der DNA von 19 Wirbeltierarten gefunden wurden. Skalka vermutet, dass das Virus-Erbgut vor rund 40 Millionen Jahren in die Keimbahn der Tiere gelangt ist und dass damit infizierte Tiere einen Überlebensvorteil gehabt haben müssen. Möglicherweise haben die Genbruchstücke zu einer Immunantwort gegen eine Infektion durch das jeweilige Virus beigetragen und auf diese Weise wie eine Impfung gewirkt.75

      Die Berliner Virologin Karin Mölling meint gar, dass die gesamte menschliche Erbsubstanz auf Viren zurückgeht.76 »Unser Erbgut wird ergänzt durch das 150-Fache an zusätzlichem Erbgut von Mikroorganismen, die uns besiedeln«, erklärt sie, und das ergibt Sinn: »Sie bieten neues Erbgut, also neue Information und auch Schutz.« Denn befinden sich Viren in einer Zelle, lassen sie andere Viren nicht hinein.

       Wir erinnern uns durch Viren

      Anscheinend hat auch das menschliche Gehirn vor langer Zeit ein Virus für seine Zwecke eingespannt. Seitdem geistert es durch unser Zentralnervensystem und ermöglicht uns, uns Dinge länger zu merken.

      Wie das Gedächtnis funktioniert, wissen wir noch immer nicht genau. Aber das Protein Arc dürfte für die dauerhafte Speicherung von Informationen unentbehrlich sein. Zumindest können sich Mäuse, denen es gentechnisch entfernt wurde, nichts länger als 24 Stunden merken.77 Oder, wie es der Hirnforscher Jason Shepherd von der University of Utah in Salt Lake City ausdrückt: Im Leben gibt es ein Zeitfenster, in dem sich das Gehirn wie ein Schwamm verhält, also Wissen und Fähigkeiten aufsaugt. Ohne Arc bleibt dieses Fenster geschlossen.

      Bei Arc handelt es sich um das Überbleibsel eines Virus, das vor Hunderten von Millionen Jahren ins Erbgut der Vorläufer von Mensch und Tier geriet und seitdem von Generation zu Generation weitervererbt wurde. So weit, so gewöhnlich. In aller Regel haben solche Partikel aber ihre ursprünglichen viralen Eigenschaften längst verloren.

      Nicht so bei Arc. Im Elektronenmikroskop lassen sich verblüffende Entwicklungen zeigen: Liegen in Zellen ausreichend Arc-Proteine vor, organisieren sich diese zu Hohlkörpern, die einer Virushülle, dem sogenannten Kapsid, sehr ähnlich sehen. »Als wir die Kapside sahen, wussten wir, dass wir auf etwas Interessantes gestoßen waren«, erzählt Shepherd, der seit Jahrzehnten an diesem Protein forscht.78

      Das Team begann mit weiteren Untersuchungen. Und so stellte sich heraus, dass die Kapsel aus Arc-Proteinen immer noch die Fähigkeit hat, ihre eigene RNA-Bauanleitung festzuhalten und sich dabei immer wieder andere vorbeischwimmende RNA-Sequenzen zu schnappen und einzuverleiben. Mitsamt dieser Fracht, beobachteten Shepherd und Kollegen, wandert die Arc-Kapsel an die Zellmembran, umhüllt sich dort mit der Außenschicht der Zelle und driftet ins umgebende Medium. Trifft sie auf ein Nachbarneuron, dockt sie an, wird aufgenommen,