Was du nie siehst. Tibor Baumann

Читать онлайн.
Название Was du nie siehst
Автор произведения Tibor Baumann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783943709766



Скачать книгу

so war es dann auch.

      Trotzdem: Immer schön im Training bleiben. Schwitzend werde ich langsamer. Ich steige vom Rad und dehne mich, so dass sich alles weich und geschmeidig anfühlt. Dann gehe ich zu meiner Wohnzimmertür. Im Türstock klemmt eine Stange für Klimmzüge und darüber einige Klettergriffe, die mir ein Kumpel festgemacht hat.

      Sport war schon im Internat super. Mit unserem Trainer waren wir viel unterwegs, vielleicht kommt auch daher dieser Reisefimmel, der Drang, beweisen zu wollen, dass ich mich bewegen kann. Die Goalballmannschaft war eine eingeschworene Sache und wir haben hart trainiert. Als wir in Prag zum Qualifikationsspiel für die ­Junior­en-Europa­meister­schaft waren, wurde mir klar, dass ich Sportler werden könnte. Aber da stand ich mir wohl selbst zu sehr im Weg. Meine Bindung zu meinem Zuhause und meinen Eltern war einfach zu ausgeprägt. Aber das Goalballspielen, das Radfahren auf dem Hof meiner Eltern, das hat eine Grundlage geschaffen. So kann ich jetzt an der Wand über meiner Wohnzimmertür hängen und merke, wie meine Arme Zug um Zug das Brennen beginnen.

      »… und nicht fett wirst«, sagte er. Bin ich nie geworden. Aber ich bleibe in manchen Momenten eben doch jemand, der mitgenommen werden muss. Egal wie bewundernswert selbstständig ich bin, ich bleibe blind und in manchen Situationen aufgeschmissen. Das hat Bernie damals im Prinzip gesagt, halb betrunken, aber doch ein bisschen klug, auf dem Flachdach liegend.

      Das klingt mir noch heute in den Ohren. Da steckt drin, dass ich zu bemitleidenswert bin. Oder dass ich eben nicht derjenige sein kann, der die Lady galant und überraschungsmäßig abholt. Sie muss diejenige sein, die holt und zeigt und die Welt für zwei sieht. Sie sieht eben Dinge, die ich nie sehen werde.

      Trotzdem ist das alles kategorisches Denken, dieser Frauen-sind-so-und-Männer-so-Mist. Im Prinzip hatte Bernie recht, aber gleichzeitig ist es auch dieser idiotische Schubladenscheiß, in dem ich auch lande. Wenn ich genau drüber nachdenke, ist es eben mit mir vielleicht auch ein bisschen so: Die ganzen Schubladen, in denen ich stecke, sind erfundene Scheiße, und irgendwo in dem stinkenden Haufen sind ein paar Reste Wahrheit drin. Die Wahrheit ist: Ich werde nie galant der Dame meines Herzens zuvorkommen und den Drink von der Bar für sie holen. Aber es sollte eben auch kein Problem sein.

      Immer wieder ziehe ich mich hoch und lege dann von links anfangend die Hände auf die Griffe, arbeite mich hoch, um mich dann wieder nach unten zu arbeiten, bis ich wieder am Anfang hänge, und beginne dann wieder mit dem Zug nach oben. Hochziehen, hocharbeiten, abbauen, hängenlassen, Arme nicht komplett strecken, leichten Winkel halten; wieder von vorne. Ein ewiges Spiel.

      Über fünfzehn Jahre nach dem Abend auf dem Dach denke ich oft an Bernie und dieses Gespräch, und dass ich heute zu ihm sagen würde: »Weißt du, irgendwie mag das ja stimmen. Aber das viel größere Problem liegt da in der Faszination. Ich bin Mädels begegnet, die wollen mit dir in die Kiste, weil sie sich denken, dass Blinde einfach viel feinfühligere, also sensiblere Liebhaber sind.«

      Dann würde Bernie sagen: »Und? Bist du?«

      »Keine Ahnung, du Pfeife, ich hab’ noch nie was mit ’nem Blinden gehabt.«

      Bernie lacht und gibt mir den Rest der Kippe wieder: »Also, hör zu, der Punkt ist: Es ist okay. Sie wollen ja nur mit dir vögeln. Und dann war’s das. Aber viel schlimmer ist dieses … fasziniert sein. Vom blinden Hansi, der so selbstständig ist. So toll, obwohl er blind ist. Und die Faszination mit dem Blinden, die vergeht. Und dann ist es plötzlich nur noch normal. Und nach normal kommt nervig. Und nach nervig kommt ein Sehender, der halt einfach was sehen kann und sie dir ausspannt.«

      Jetzt bin ich nicht mehr sicher, ob der imaginäre Bernie oder ich das sage. Ich beende das ausgedachte Gespräch. Schwitzend lasse ich die Trainingsleiste los und nehme dem ausgedachten Bernie die Antwortmöglichkeit. War ein feiner Kerl, aber auch ein Klugscheißer.

      Schwer atmend liege ich auf dem kühlen Holzboden, lang hingestreckt, eine Brücke zwischen Flur und Wohnzimmer bildend. Einzelne Tropfen rinnen mir über die Brust.

      Es geht immer um den Vergleich, dieses »Du« dort und dieses »Ich« hier. Was geht bei »Du« und was geht bei »Ich«? – oder so. Manchmal ist es auch praktisch, sich dem direkten Vergleich zu stellen. Erhebend im doppelten Sinn. Das ist mir irgendwie ziemlich früh klar geworden, vielleicht nicht völlig bewusst, aber doch ziemlich klar.

      Wahrscheinlich durch Tom.

      Mein Vater baute damals an den Hof an. Links vom Eingang in das Wohnhaus. Toms Vater und meiner waren Freunde, und so schien es damals ganz natürlich, dass wir auch Freunde waren. Wir spielten viel zusammen. Der Rohbau diente uns Kindern als Burg oder Raumschiff, U‑Boot oder Raketenbasis. Sozusagen ein Ort voller Möglichkeiten. Ob Räuberhöhle oder Rennbahn, entschied die Tageslage. Bald kannte ich die noch nicht fertiggestellten Räume, die Säulen, die irgendwann mit Türstöcken und Türen versehen werden würden, und konnte mich mit Tom frei bewegen. Wir schleppten meine He-Man-Figuren hin und bevölkerten den von der frühsommerlichen Sonne erwärmten Beton mit dem ewigen Krieg zwischen Gut und Böse. An manchen Stellen hatten die Männer, die an dem Haus bauten, Sand hinterlassen, mit dem wir kleine Welten bauten. Als der Kampf zwischen den Parteien heftiger wurde, nahmen wir die Figuren vom Boden auf und liefen über einen Treppenabsatz. Verfolgend, Schuss- und Schwertgeräusche nachahmend, ließ ich mir von meiner an der Wand entlangtastenden Hand den Weg zeigen. Dann hörte die Wand auf und ich hielt an. Toms Schritte verhallten, schleiften in die Stille und dann kam er, ein Stück von mir entfernt, weiter unten mit sattem Geräusch wieder auf.

      Vorsichtig tastete ich mit meinem Fuß, mein Turnschuh ragte über die bröckelige Betonkante ins Nichts. Ich blieb, wo ich war, vor mir ging es hinunter. Seit fünf Jahren blind, konnte ich mich auch schon damals nicht an irgendetwas erinnern, das ich irgendwann einmal gesehen haben mochte. Es konnte zwanzig Zentimeter hinabgehen oder in eine tiefe, tödliche Schlucht.

      »Spring, Hansi.« Toms kindliche Stimme war noch erhitzt von unserem Lauf.

      »Nein, da geht es runter.«

      »Ja eben. Spring!«

      Ich hatte Angst.

      »Spring schon. Ich passe auf.«

      »Du kannst gar nicht auf mich aufpassen, wenn ich springe.«

      »Doch. Kann ich.« Schon als Kind klang er, als ob seine Überzeugung die Welt verändern würde.

      »Quatsch, kannst du nicht.«

      Meine Zunge schmeckte nach Adrenalin. Einen kurzen Moment war es still. Irgendwo hörte man eine Kuh unpassend in die Szene brüllen.

      »Sind wir nun beste Freunde oder nicht?«, sagte Tom eindringlich.

      Waren wir.

      Also sprang ich.

      Ein Moment der Ungewissheit, der so kurz war wie die Distanz. Ein kurzes Schweben, die Arme rudernd ausgestreckt, hoch konzentriert, in der linken Hand den mit Schwert bewaffneten Plastikhelden. Meine Füße landeten auf dem kaum einen Meter entfernten Boden und ich zerschellte nicht auf dem Grund einer steinernen Schlucht. Tom und He-Man hatten mich beschützt.

      »Siehst du, wenn ich da bin, ist immer alles super.«

      Tom war mein bester Freund. Über die Jahre hinweg wurde er immer beliebter, hatte den Mopedschlüssel in der Tasche, und wir gingen zusammen zu dem Bushäuschen, das schon meinen Schwestern als Treffpunkt mit Jungs gedient hatte, gingen auf Partys und in den Wald. Aber immer war er derjenige, der im Mittelpunkt stand. Noch ein bisschen weiter im Mittelpunkt, weil er, der Coolste im Dorf, den Hansi mitnahm. Das meinte er nicht böse. Aber es war der Vergleich, der funktionierte. Wäre ich nicht blind gewesen, wir hätten uns um den Mittelpunkt gestritten und hätten keine Freunde sein können.

      Weil er nicht auf mich hätte aufpassen müssen, als ich sprang. Manchmal muss man einfach alleine springen.

      Ich rapple mich vom Boden auf.

      Nach einer zweiten Dusche beschließe ich, ein Taxi zu rufen und alleine, ohne Tom und ohne Bernie und ohne mein Leben von irgendetwas abhängig zu machen, ins Fundbüro zu fahren.

      Na