Was du nie siehst. Tibor Baumann

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Название Was du nie siehst
Автор произведения Tibor Baumann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783943709766



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Es ist ein etwas seltsames Verhältnis, könnte man sagen. Ich weiß, wenn meinen Ohren etwas passiert, dann bin ich sozusagen weg. Oder anders herum: Die Welt ist dann fast weg. Kurz vor dem Horizont. Trotzdem gibt es nichts Besseres, als sich vorne im Moshpit gut betrunken dem gut geführten Krach mit jeder Faser hinzugeben. Von Muskelstrang bis, ja, bis eben zum Trommelfell. Trotzdem, wenn etwas länger anhält, ein Fiepsen in den Ohren, ein Druck oder Drückchen, Schmerz oder Schmerzchen, dann sitzt der Herr Rocker extrem beunruhigt auf einem klebrigen Wartezimmerstuhl und wartet darauf, dass er seinen Namen hört. Und verflucht sich dafür, um sein Gehör gepokert zu haben.

      Bevor ich da sitze, denke ich trotzdem nicht darüber nach, was passieren könnte. Die Freude über jeden Moment auf der Bühne ist einfach überwältigend.

      Kurz bevor ich wieder einschlafe, bemerke ich, dass ich immer noch keine Ahnung habe, wie viel Uhr es ist. Stöhnend rolle ich mich auf die Seite und taste neben dem Nachttisch, auf dem Boden, neben meinem Bett. Ich greife irgendwas Sockiges. Kein Wecker. Ich muss das verdammte Ding wieder mal im Bad stehen gelassen haben. Wenn ich jetzt das Musikhören während des Duschens gegen die Uhrzeit eintauschen könnte, würde ich es tun. Es hilft alles nichts – ich stehe auf, tappe schlaftrunken und gähnend durch das Wohnzimmer und über den kurzen Flur ins Bad. Mit der rechten fahre ich über das kühle, angeraute Plastik der Waschmaschine gegenüber der Badewanne. Hab’ ihn. Mit dem Zeigefinger drücke ich auf die glatte Erhebung. Mechanisch klingend wie eine Robotervorstellung aus den Siebzigern sagt er die Zeit: neun Uhr zweiunddreißig. Und während ich mich freue, dass es noch nicht zu spät ist, ein bisschen was vom Tag zu haben, da habe ich es noch nicht richtig registriert. Oder wieder verdrängt. Vergessen.

      Ich stelle den Wecker zurück und merke mir, wo ich ihn hingestellt habe: linke Kante, Waschmaschine.

      Ich muss mir natürlich viele Dinge merken. Es würde sehr helfen, wenn ich für Dinge wie meine Hausschlüssel, meine Unterlagen, mein Taschenmesser oder eben meinen Radiowecker, einen wirklich festen Platz hätte. Oder für mein Handy. Es wäre praktisch, wenn ich schnell losmöchte oder mal meine Rechnungen sortieren muss. Und es wäre vielleicht sogar logisch, also angebracht – das denken zumindest die meisten. Es ist eines der Klischees, die ich leider einfach nicht erfülle. Es wäre manchmal ein praktisches Klischee. So wie jetzt. Dann würde mir jetzt auffallen, dass mein Handy nicht an seinem Platz liegt. Tut es aber nicht.

      Das Einzige, was mir jetzt einfällt, ist erst einmal: Sport, Dusche, Frühstück und Kaffee.

      Das Erste (Dusche) geht pfeifend und singend vonstatten. Das Zweite (Frühstück und Kaffee) mit Sonne auf dem Rücken. Das Dritte (Sport) verschiebe ich erst einmal auf später. Während ich das Müsli vor mich hinlöffle, denke ich daran, wohin ich sie einladen könnte.

      Ob ich sie einladen sollte.

      Statt dem Fiepen habe ich immer noch ihre Stimme im Ohr, ihr Lachen. Ich frage mich, was sie gerade macht, ob sie auch ausschlafen konnte. Ob sie gerne etwas von meinem Müsli abhaben wollen würde.

      Was ich anziehen könnte. Wenn ich sie einladen würde.

      Ob ich verliebt bin.

      Ich beschließe, dass es eine gute Idee ist, sie zu fragen, ob sie mit mir essen gehen möchte. Nichts Schickes, eher in diesen kleinen Burgerladen. Burger sind irgendwie lässig, wenn auch ein bisschen arg Berlin zurzeit. Aber der Schuppen ist super, Rock ’n’ Roll und fränkischer Burger. Gegen den Burger sprechen die Soße und das komplizierte Essen. Ich grinse über kompliziertes Essen und löffle mein Müsli.

      Es ist wirklich so, dass soßiges Essen für mich ein Kriterium ist, nicht in einen Laden mit jemanden zu gehen. Das gilt allerdings nur für Menschen, die ich noch nicht kenne. Bei Freunden wird mir das egal. Die Gefahr, sich bei soßigen Sachen vollzusauen, ist da. Nicht übermäßig groß. Aber da. Und jemand, der mich gerade kennenlernt, soll nach dem Abend nicht denken: Mann, der Idiot kann nicht mal essen. Deswegen sollte ich so einen Laden meiden.

      Also, Soße fällt flach beim ersten Date. Oder Sachen, bei denen ich viel schneiden muss. Dann muss ich das Besteck so kurz am Stiel nehmen, dass meine Zeigefinger fühlen können, was ich schneide, wie viel ich abtrenne. Wenn das auch noch soßig ist, was da geschnitten wird, brauche ich hinterher einen Stapel Servietten. Oder die Toilette; also, genauer, das Waschbecken. Das kann sogar ich voneinander unterscheiden.

      Noch so ein Kriterium: Ein Laden, den ich kenne. Es kommt einfach nicht gut, zwischen tollen Witzchen und intimer werdenden Fragen einzuschieben: »So, jetzt muss ich aber pinkeln. Zeigst du mir das Klo?«

      Vielleicht sollte ich nicht nur ans Essen denken. Liegt wahrscheinlich am Müsli. Über einen Scheiß kann man nachdenken. Und immer wenn ich über diesen Scheiß nachdenke, fällt mir auf, dass es ein Gedankengang ist, der mir beigebracht wurde.

      Es war ein scheißkalter Winter und das Klassenzimmer roch nach Heizungsluft. Mein Platz war in der hinteren Reihe rechts. Ich konnte durch die Fenster einen Vogel singen hören. Meine Deutschlehrerin war eine schon etwas ältere Dame. Ich kann ihre leicht raue Stimme noch hören, wenn ich über diese Dinge nachdenke.

      Sie sagte: »Bedenkt immer: Wenn ihr euch beim Essen bekleckert, mit einem Fleck auf dem Pullover herumlauft und es nicht bemerkt, weil ihr es nicht sehen könnt, dann seid ihr nicht einfach ein Mensch mit einem Fleck auf dem Pullover. Ihr seid ein Blinder, ein behinderter Mensch, der nicht fähig ist, sich selbst sauber zu halten. Im besten Fall hilfsbedürftig. Bemitleidenswert im schlechtesten Fall.«

      Es ist ein Unterschied, ob man Hilfe bei manchen Dingen braucht oder hilfsbedürftig ist. Das habe ich allerdings nicht nur in der Schule gelernt.

      Essen gehen ist vielleicht auch einfach schon die zweite Stufe, ich sollte sie erst mal auf einen Kaffee treffen. Irgendwo schön draußen, Sonne auf meinem Rücken, leckerer Kaffee, tolles Gespräch, super Schattenplatz, wenn es zu heiß wird. Obwohl, so warm wird es noch nicht.

      Ich kaue und esse. Die Sonne scheint mir durch mein Küchenfenster auf den Rücken. Ich frage mich, ob ich ihr Typ bin. Oder ob ich es nicht bin. Aber wenn nicht, tja, dann hätte sie mir nicht ihre Nummer gegeben. Ihre Nummer. Nulleinsirgendwas. Zahlen bekomme ich einfach nicht mehr in mein Hirn. Bevor ich Talks auf dem Handy hatte, konnte ich mir Telefonnummern problemlos merken. Ging nicht anders, aufschreiben nützt ja nichts. Ich habe mich lange gegen die Sprachsoftware gewehrt, alle um mich herum, also die Blinden, hatten sie schon. Nur ich nicht. Vielleicht wusste ich instinktiv, dass es mir zwar helfen, aber mein Telefonnummern-Gedächtnis verkommen lassen würde. Das blinde Orakel vom Lande.

      In dem Moment schiebt sich eine Wolke oder irgendetwas Unheimlicheres vor die Sonne. Es wird plötzlich kühl. Ich kaue immer langsamer und mein Lächeln verschwindet, während es mir langsam dämmert. Ihre Nummer konnte ich mir nicht merken, also habe ich sie in mein Handy gespeichert. In mein Handy, das ich heute noch nicht in der Hand hatte. Wo es ja schon wegen des Namens hingehört. Das Scheißhandy, dieses nummernfressende Gerät, auf das ich jetzt schiebe, dass ich mir ihre Nummer nicht merken konnte. Und nirgendwo in meinen Hirnwindungen, weil die schon so aufgeweicht sind durch das ewige Zahlen-nicht-merken-Müssen, kann ich einen Hinweis darauf finden, wo das kleine Mistding ist. Oder weil ich einfach schlampig bin. Da ist es wieder, das nicht erfüllte Ordnungsklischee.

      Ich lausche, aber bis auf das leise Brummen des Kühlschranks höre ich nichts. Hey, sag mal Piep.

      Aber alles kein Problem, gibt für alles eine einfache Lösung. Ich schiebe die Schüssel von mir und gehe mit angehobenen Armen und einem kurzen Kontakt zum Türrahmen in den Flur, taste auf dem Schränkchen. Zumindest das Festnetztelefon ist an seinem Platz. Meine eigene Nummer wählend, mache ich mir Hoffnungen, dass es irgendwo, vielleicht dumpf aus einer Tasche heraus, klingeln wird. Wählen und hoffen. Toll, meine Nummer kann ich auswendig. Ein leises Knacken und kurze Stille im Hörer. Ich warte. Fehlanzeige. Die Mailbox geht ran. Das Scheißding ist aus.

      Etwas zu heftig ramme ich das Telefon zurück in die Ladestation. Jetzt hilft nur suchen.

      Zuerst suche ich noch ruhig und langsam. Ich bewege mich systematisch, ertaste den rauen Stoff der Jacke an der Garderobe im Flur; weiter zum stummen Diener im Schlafzimmer, über dem lasch die Hose