Was du nie siehst. Tibor Baumann

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Название Was du nie siehst
Автор произведения Tibor Baumann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783943709766



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befühle die Innentaschen. Nichts. So viele Taschen. Überall Fehlanzeige.

      Jetzt kann ich nur noch raten. Ich versuche, ruhig zu bleiben, zu atmen, nicht hektisch zu werden. Das ist so eine Sache, mit der Hektik, das kann blöd ausgehen. Dann schmeiße ich was um oder runter oder werfe alle Systematik über Bord und taste immer wieder da, wo ich schon war. Bringt nichts, sich aufzuregen. Ruhig bleiben. Tastend fahre ich über das Sideboard im Wohnzimmer, über die Furnierfläche des Wohnzimmertisches, taste mich über den Boden des Schlafzimmers auf allen Vieren, fühle mich vorwärts über die schmalen Linien zwischen den Holzdielen, die kühl sagen: Sorry, du Depp, kein Handy hier.

      Als ich wieder im Wohnzimmer ankomme, gibt etwas in mir auf. Ich setze mich auf den weichen Teppich, meine Hände versinken ein ganz klein wenig darin.

      Früher war ich jähzornig. Manchmal wiederhole ich das so oft, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich nicht doch Lust habe, irgendwas auf den Tisch zu hauen und zu brüllen. So wie jetzt.

      Das eine Mal, wenn ich jemandem so offen begegnen kann und sie mir ihre Nummer gibt, muss ich es verlieren. Ich brauche das Scheißhandy. Nachdenken, das hilft vielleicht mehr als Schreien. Also, am Samstag hatte ich das Handy noch, den kleinen, sprechenden Mistapparat.

      Am Samstag fuhr ich mit dem Taxi vor dem K4 vor. Und das Taxi hatte ich bei mir um die Ecke aus der Stammkneipe mit dem Handy gerufen. Da hatte ich es noch.

      Seit dem ersten Benefiz machten die Jungs und Mädels vom Engel das Catering für uns und die anderen Bands. Tina half mir, die Styroporkisten in den Kofferraum des Taxis zu hieven. Und dann ging es mit der Verpflegung quer durch die Stadt.

      Zwei Techniker standen rauchend vor dem Eingang und begrüßten mich. Ein paar Kisten packten sie schon mal backstage. Die letzte balancierte ich auf einer Hand, während ich tastend das Geld für das Taxi zusammensuchte. Den Stock in der einen, die Kiste in der anderen, wandte ich mich Richtung Treppe. Der Druck wuchs in dem Moment, da ich die schwere Türe aufzog und mir durch den hallenden Vorraum die Stimme unseres Gitarristen entgegenrief.

      »Mr Nolook, zu allem bereit?«

      »Klar«, sagte ich, den Kopf in Chris’ Richtung wendend.

      Umarmung, Schulterklopfen.

      Darf ich vorstellen? This is the band:

      Chris ist der Typ Surfer und Rampensau, wie er im Lexikon unter »Gitarrist« steht. Auch wenn wir uns mit unseren beiden Egos im Raum des Öfteren mal gegenseitig im Weg stehen, verbindet uns viel. Das Surfen, das andere Ende der Welt, Freundschaft. So Zeug eben.

      Sein Gitarrenkollege Fabi ist ein Typ mit zwei Gesichtern. Auf der Bühne schaut er drein, als ob er jemanden fressen würde. Also, das höre ich zumindest immer. Ist er von der Bühne runter, ist er einer der wenigen Menschen, die ich kenne, die eigentlich immer fröhlich sind.

      Oli, der Bassist, ist dieser große, etwas lethargische und gutmütige Typ, immer mit Mütze, als ob sie nicht zu trennen wären und er schon mit dem Ding auf die Welt gekommen wäre.

      Flo schließlich ist unser Schlagzeuger. Flo und Fabi kannten sich schon von einem Hardcoreprojekt, und die Härte im Verbund mit der Präzision, mit der Flo die Drums bearbeitet, tut unserer schnellen Rock-Punk-Mischung gut. Wir raufen uns nun schon seit sechs Jahren zusammen und dehydrieren die Massen. Na ja, Massen; die Leute, die auf unsere Konzerte kommen.

      Fabi und ich kennen uns schon ewig, achtzehn Jahre, um genau zu sein. Kein ganzes Leben mehr in meinem Alter, aber doch genug, um jemanden nicht mehr aus dem eigenen Leben wegdenken zu können. Er ist mit leichter Sehbehinderung geschlagen und kam nach Nürnberg, um so wie ich seine Ausbildung zu machen. Und am Anfang kamen wir uns eher in die Quere. Wir hatten unsere nicht vorhandenen oder eben schlechten Augen auf das gleiche Mädel geworfen, das sich zwar nicht die Bohne für uns interessierte, aber den Grund zum Kabbeln gab. Bis zu den Dehydrators hatten wir mal mehr mal weniger Kontakt, so ein bisschen Ebbe und Flut. Manchmal bringt einen erst der Sturm richtig zusammen: Als Fabi für drei bis vier Nächte ein Sofa brauchte, blieb er drei Monate bei mir. Eine tolle Zeit irgendwie. Und weil wir uns kannten, kam ich zu den Jungs in die Band. Immer diese Zusammenhangsketten.

      Das Styropor mit unserem Essen quietschte in meinen Händen. Wir verstauten die Warmhaltebox unten im Keller im Backstagebereich und ich machte mich bei Fabi eingehakt auf den Weg zur Bühne.

      Vom hallenden Vorraum aus betraten wir durch eine kleinere Türe den Saal, in dem das Benefizkonzert stattfinden sollte. Der Raum roch nach dem, was Wände und Boden seit den Fünfzigern aufgesaugt hatten, um es dampfend wieder abzugeben. Diese Mischung aus Schweiß, Alkohol, kaltem Zigarettenrauch vergangener Tage und der Aura von Bühnenelektronik, metallisch, an Ozon und E‑Gitarren-Gewitter erinnernd. Irgendwer kiffte links hinten im Eck. Ich hörte, wie um mich herum geschoben und aufgeklappt, getestet und eingesteckt wurde. Auf der Bühne ließ Flo, der Schlagzeuger, die Toms und das Becken im Wechsel scheppern – eins, zwei, drei, eins, eins, eins, zwei, drei. In die Geräuschkulisse hinein sagten immer wieder Leute Hallo und klopften mir auf die Schulter. Ich konnte sie nicht alle auseinanderhalten, ließ mir aber nichts anmerken.

      Irgendwo hinter mir war der Mischer, der mit den Drums nun zufrieden war. »So, passt. Dann könnte man den Gesang machen.«

      »Bringst du mich hoch?«, wandte ich mich an Chris.

      Er nahm mich am Arm und führte mich auf die niedrige Bühne. Irgendwer hatte mir erzählt, dass am Sockel der Bühne Totenschädel aufgesprüht waren. Ich fühlte mich bis zu diesem Moment noch nicht so richtig rock, war noch halb im Taxi. Am Arm geführt, über die Totenschädel hinweg, stieg ich auf die Bühne und ertastete vor mir das kühle Mikro. Das kühle, etwas abweisende Metall, das Schaben meiner Schuhe auf der räudigen Bühne: Wie bei den ersten Klängen die Membran der Boxen vibriert, reagierte ich auf die Reize.

      Von links von mir, dort wo am Ende des Raumes Sofas standen, hörte ich, wie Oli unter seiner Mütze hervor mit jemanden sprach.

      »Das da? Das ist der Sänger.«

      Ich sang ein paar Strophen an.

      Eine genuschelte Frage.

      »Ja, blind«, antwortete Oli laut.

      »Ja, blind, stockfinster und so. Gell, Hansi?«, rief Chris hinterher.

      »Stuck with the blind, not dark, just no sight«, schrie ich in das Mike und sprang am Ende juchzend hoch. Dann drehte ich den Mikroständer nach links unten und beugte mich darüber. Mein linkes Bein stieß an den Mikroständer und tockend schlug mein Handy durch die Hosentasche gegen das Metall. Grinsend kam ich wieder hoch, das Handy verschoben in meiner Hosentasche.

      »Bringt dem Mann doch mal ein Bier!«, rief Flo lachend.

      Die andere Band applaudierte.

      Jetzt konnte es losgehen.

      Da hatte ich mein Handy noch.

      Ich überprüfe auf dem Teppich sitzend noch einmal den Erinnerungsfetzen und bin mir sicher: die Kollision mit dem Mikroständer, das Handy in der Hosentasche, durch den Jeansstoff verschoben.

      Nach dem Soundcheck, dem Bier und einem tiefen Zug im Sofaeck machte ich den Fehler, den ich immer mache, bevor das alles losgeht: Ich stand am Einlass. Irgendwie gehört es dazu. So wie die Dankesrede, so wie die später fliegenden BHs; ich habe die Sache auf die Beine gestellt, die Hilfe von Freunden und Bekannten in Anspruch genommen, dann muss ich auch die Eier in der Hose haben, mal eine Zeit lang am Eingang zu stehen. So oder so ähnlich sieht die seltsame Argumentation dafür aus. Dagegen spricht, dass ich immer aufgeregter werde. Und dass ich gegen die Aufregung dann gerne noch ein Bierchen trinke, während immer mehr Menschen kommen, viele, die ich persönlich begrüße. Ich sage »Hallo« und »Wie geht’s?«, klopfe Schultern und scharre gleichzeitig hibbelig mit den Füßen: Es soll jetzt endlich losgehen! Ich glaube, Menschen die Mucke machen, sind im Grunde wie kleine Kinder. Trotz Rock-and-Roll-Gehabe versuche ich vor dem Auftritt immer nur zwei Bier zu trinken, sonst verschleimt meine Stimme so. Erst nach dem Auftritt geht’s dann so endgültig ab. Manchmal frage ich mich, ob Lemmy oder so auch auf seine Stimme geachtet hat.