Was du nie siehst. Tibor Baumann

Читать онлайн.
Название Was du nie siehst
Автор произведения Tibor Baumann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783943709766



Скачать книгу

im Stadion träumt, während man den Rhythmus drischt, heißt das nicht, dass man mit einunddreißig nicht Sänger in einer Rockband sein kann, die keine Stadien, aber punkige Kulturschuppen füllt. Manche Kopfhörer begleiten einen so lange, bis man richtig zuhört.

      Jetzt höre ich durch die Kopfhörer, wie meine eigene Stimme zu den letzten Riffs unseres Songs klingt.

      »Das waren The Dehydrators mit Paranoid, und gerade sitzt bei mir im Studio der Sänger der Band und Veranstalter der Benefizveranstaltungsreihe Rock the Kids: Hansi Mühlbauer.«

      »Meine Bandkollegen nennen mich auch Johnny Nolook«, grinse ich.

      Kurz bevor der Moderator lacht, entsteht diese kleine Pause.

      »Hansi, du hast vorhin schon kurz erwähnt, dass ihr gerade alle Hände voll zu tun habt«, sagt er, seine Unsicherheit überspielend.

      »Ja, richtig. Morgen Abend gehen wir mit Rock the Kids an den Start. Es kommt jedes Jahr besser an, und wir freuen uns auch auf die anderen Bands, die sich morgen mit uns die Bühne teilen werden.«

      »Wie bist du auf die Idee für Rock the Kids gekommen?«

      War ’ne Schnapsidee, wortwörtlich. Und das sich damals immer mehr in mir ausbreitende Gefühl, etwas zurückgeben zu wollen. Helfen zu wollen.

      »Na ja, da gab es die Dehydrators noch nicht so lange. Wir waren auf einer Party und haben uns unterhalten und kamen irgendwie darauf, wie verdammt noch mal gut es uns eigentlich geht. Da war gerade diese Flutkatastrophe. Und während wir so quatschten, wurde klar: Wer was ändern will, muss seinen Arsch halt auch hochbekommen und nicht nur über andere reden. Von da an ging dann Rock the Kids los.«

      »Das ist Sozialengagementrock, liebe Freunde!«, sagt er begeistert.

      Mein Grinsen ist das einzige, was ich von meinem inneren Lachanfall zulasse. Was für ein Spaß. Ich könnte auch noch ein Wort erfinden.

      »Mit Aufdiefresserock einfach auch mal helfen – das ist das Ziel!«, setze ich nach. Na ja, war nicht der große Treffer. Aber Chris weiß jetzt, dass ich nur Spaß mache, und kann die Tischkante wieder aus dem Mund nehmen. Mein Grinsen würde mich verraten. Sieht aber ja keiner. »Deswegen ist es auch super, dass ich hier in der Sendung sitzen darf. So kann ich noch viel mehr Leuten sagen: Kommt vorbei, es wird ein Spitzenabend! Dieses Jahr unterstützen wir das Kinder- und Jugendhaus Bienenstock.« Warum ich an dieser Stelle die Geste für Anführungszeichen mache, ist mir unklar. »Wir haben einige Sponsoren dabei, die uns jedes Jahr super unterstützen.«

      »Da tut ihr und die anderen wirklich was Gutes! Wirklich toll!« Keine Frage. Aber eine Pause. »Ist das auch … also hängt das mit …« Seine Stimme bekommt plötzlich einen anderen Unterton.

      Mir ist klar, was kommt, aber wirklich helfen will ich gerade irgendwie auch nicht.

      Jetzt spielen wir erst mal Katze aus dem Sack.

      »Also, du … bist ja blind.«

      »Richtig!« Ich imitiere schon seine Sonnenscheinstimme. Klingt, als ob er gerade etwas gewonnen hätte.

      »Hat das auch, also dass du blind bist, auch mit der Hilfe für die Kindertagesstätte zu tun?«

      »Nein, im Bienenstock sind keine Blinden, würde sonst ja Blindenstock heißen …«, lache ich. Und er lacht mit, ehrlich. Sehr gut, Stimmung wieder gelöst. »Und es heißt ja auch nicht Rock the Blind«, lege ich nach.

      Das war auch einen Lacher wert.

      Es hilft dem Benefiz tatsächlich, dass ich blind bin. Ganz klar, wenn der Blinde anruft und sagt: »Hey, wir machen da eine sozial engagierte Party mit Konzerten, ich organisiere das, und wir wollen Sie dabeihaben«, dann ist die Sache geritzt. Ob das jetzt richtig ist, dass ich mit dem Zeug, was andere Menschen ja auch machen, automatisch mehr Eindruck schinde, darüber lässt sich streiten. Ich verzeichne das unter dem Ausspielen der Kartenhand, die man eben bekommen hat. Was sollte ich auch sonst machen – auf den Spaß beim Helfen, meine langen Haare und meinen tollen Musikgeschmack verweisen?

      »Meine Band hat mir vor einigen Jahren mal ein T‑Shirt geschenkt«, erzähle ich ihm und dem Mikro, »mit einem Bild von mir darauf. In großer Verehrung von Mr Cash stand darüber: ›Listen to the man in blind‹. Das unkorrekte Englisch hat mir damit auch meinen immer wieder mal aufkommenden Spitznamen eingebracht: Mr Johnny Nolook.«

      Der Moderator lacht wieder. Aber das wird nicht reichen, es geht schon noch ein bisschen um die Katze.

      »Aber die anderen in der Band, die sind …?«

      »Die sind normal. Also eigentlich sind sie das gar nicht. Aber sie können sehen, was sie so machen, wenn sie morgen Abend auf der Bühne stehen und die Show rocken.«

      »Ihr habt es gehört, Freunde – kommt morgen Abend ins K4, ab zwanzig Uhr wird für die Kids und den Bienenstock gerockt – mit am Start sind noch weitere Bands, Party hinterher und das alles für nur 9 Euro Eintritt, was komplett den Kindern zugutekommt. Und jetzt hier noch einmal für euch die Dehydrators mit ’till hell breaks loose

      Der Song setzt ein. Ich setze die Kopfhörer ab. Die Sendung ist vorbei.

      »Hey, megagut – vielen Dank, dass du mich in die Sendung gebracht hast«, wende ich mich ihm zu und halte ihm die Hand entgegen.

      »Is’ doch klar, Alter«, schlägt er ein.

      Das ist die Startrampe. Jetzt kann es losgehen.

      Anfahrt, Geschwindigkeit aufnehmen, Absprung und dann mit dem Kopf voraus hinein. Es ist ein Abtauchen, treibend darin untergehen. Atemlos und trunken jeden Moment gierig aufsaugen, als ob es der letzte sein könnte, der letzte verdammte Moment, der es wert wäre, dass danach die ganze Welt zum Teufel geht. Jaulende Riffs, mehr Drinks, ein Taumel und Zechen, ein Lachen und Drehen, es flirrt in der Blutbahn und Applaus klingt noch in den Ohren nach, den leisen, fiependen Ton, der sich als Beweis für die anderen Bands einnistet, übertrumpfend. Es ist nicht nur die Nacht selbst, nicht nur der Auftritt an sich.

      Es sind die Tage davor.

      Und der Tag danach.

      Die Nächte dazwischen.

      Es gehört alles zusammen, wie die einzelnen Mitglieder unserer Band, die Instrumente, die einzeln für sich genommen Macht und Kraft besitzen – aber erst gemeinsam bringen sie die erste Reihe zum Springen und Pogen.

      Nichts ist vergleichbar. So wie alles das einmalig, geil, groß und wahnsinnig ist, einfach jeden Vergleich hinter sich lässt. Also, man steckt da drin, in diesen Tagen und Nächten, in diesem Auftritt. Im Rausch. Und der Sonntag ist dann nur eine sich anschließende, zähflüssige Masse. Die Jungs und ich bauen ab, trinken ein letztes Bier und ich falle irgendwann einfach um, glücklicherweise in mein Bett. Es stampft und rockt über mich hinweg, und wie immer kann ich erst danach sagen, dass es passiert ist. Am Montag, dem Tag, an dem diese Woche wirklich beginnt, folgt das Erwachen:

      Ein wenig durchgekämpft und abgefuckt werde ich am Montagmorgen aufwachen und bemerken, dass ich es verdammt noch mal verloren habe.

      Denn damit beginnt diese Woche – mit einem Verlust.

       Montag oder: Wer verliert, der sucht

      Ohne geträumt zu haben, mit dem Gefühl halbseiden gegart worden zu sein, wühle ich mich aus der Decke. Tastend suche ich auf dem Tischchen neben dem Bett, um zu erfahren, ob ich den Tag verschlafen habe. Und finde nichts. Der Wecker muss runtergefallen sein. Das lässt mich erst einmal in die Decke zurücksinken. An einem solchen Morgen wäre eine Motivation dringend nötig.

      Ein »Fuck, es ist schon spät« hätte helfen können.

      Ich genieße noch einmal kurz, aufgewacht zu sein, und die Ruhe in mir. Ohne Druck. Ohne Fuck.

      Das Fiepen in den Ohren ist weg. Das Gefühl im Schädel, von einem Laster getroffen worden zu sein, ist zumindest fast verflogen. Dass ich wieder klar höre, ist verdammt