Was du nie siehst. Tibor Baumann

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Название Was du nie siehst
Автор произведения Tibor Baumann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783943709766



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kann.

      »Mein Handy, das ich Scheiße noch mal am Samstag oder Sonntag verloren habe, ist total billig und alt. Das größte Merkmal ist, dass da eine Telefonnummer drauf ist, die unersetzbar ist.«

      »Welche Farbe?« Er klingt irgendwie seltsam dabei. Ich muss ziemlich doof dreinsehen, denn er setzt nach: »Das Handy, nicht die Telefonnummer.«

      »Das ist nicht dein Ernst, oder?«

      »Doch. Klar. Hast du eine Vorstellung davon, wie viele Handys da unten im Keller liegen?«

      »Ich weiß die Farbe nicht«, schnauze ich.

      »Warum nicht?«

      »Weil ich blind bin!«

      Erst jetzt fällt mir auf, dass ich ziemlich laut geworden bin, während er immer noch ziemlich ruhig ist. Und dass seine Antworten in eine Richtung seltsam klingen, die ich einfach nicht benennen kann.

      »Das heißt ja noch lange nicht, dass du nicht weißt, welche Farbe dein Handy hat«, sagt er trocken.

      Scheiße, der Verrückte hat gar nicht so unrecht.

      »Ich glaube, es ist schwarz. Und es hat eine Sprachsoftware drauf, sonst könnte ich es nicht benutzen.«

      »Das könnte eine laaaaaange Suche werden.« Die Betonung des Wortes lange macht mich schon wieder wütend. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass der Kerl vor mir zu viele Spielshows, Filme und Serien angesehen hat.

      »Egal wie laaaaange du suchst: Ich brauche das verdammte Handy«, entgleitet mir wieder die Stimme. Meine jähzornige Seite wird von diesem Typen mit Leichtigkeit hervorgezaubert.

      »Das hört sich nach einer lebenswichtigen Nummer an. Aber ich kann nichts tun, wenn ich nicht ein paar Merkmale habe.«

      Das nimmt mir den Wind aus den Segeln. »Es ist von Nokia«, sage ich kleinlaut.

      »Na, damit hätten wir das Ganze schon mal auf fünfunddreißig Stück eingegrenzt! Ich hoffe, dein Tastsinn ist so gut, wie es die Mythen über Blinde erzählen. Ich gehe in den Keller und hole sie.«

      Ich höre, wie er sich auf dem Drehstuhl umdreht, aufsteht und sich langsam schlurfend entfernt, während das Geklirr und Gefluche im Hintergrund gefährlich anschwillt.

      »Halt, warte, mir ist was eingefallen«, hebe ich den Kopf rufend. »Es müsste mit den Sachen von den Jungs aus dem K4 abgegeben worden sein.«

      Ich kann den Schwung richtig hören, mit dem er sich umdreht.

      »Das hört sich doch ganz danach an, als ob unser blinder Freund mit scharfem Blick uns dem Erfolg ein bisschen näherbringt.« Es hört sich nicht an, als ob er mich verschaukelt, eher wie gelernter Text. Er springt auf seinen rollenden Bürostuhl auf, wie ich das nur bei Pferden und meinem alten Motorrad gemacht habe, und fängt wie wild an, in die Tasten zu hacken.

      Es vergeht für mich eine Ewigkeit.

      Die Mühle in meinem Kopf dreht sich wieder um sie. Ich merke, dass ich grinse. Das muss ziemlich grenzdebil aussehen – grinsdebil.

      »Nein, tut mir leid. Kein Handy dabei«, reißt mich seine lakonische Feststellung aus meinem Gedankenkarussell.

      Meine Schultern hängen, mein Grinsen ist verschwunden. Erwartungen tragen einen immer schön hoch, bis man tatsächlich so tief fallen kann, dass man sich auf jeden Fall die Fresse blutig schlägt.

      Er muss hinter dem Tresen meine Enttäuschung sehen.

      »Tut mir leid, ich hätte wirklich gerne geholfen.«

      Mir fällt darauf nichts ein.

      »Willst du deine Mailadresse oder Telefonnummer hierlassen? Ich würde dir Bescheid geben, falls doch noch was auftaucht.«

      Irgendwie nett. Ich winke ab. Die Vorstellung, dass der Spielshow-Fund-Master meine Nummer hat, ist eher abschreckend als hilfreich.

      Ich drehe mich um und lasse den Stock die Vorarbeit machen. Links von mir ist immer noch das Fluchen und Klirren zu hören. Ich mache die zwei Schritte weiter, in Richtung der Türe, der Raum wird hier kleiner und dumpfer.

      Eine Idee hält mich zurück. Mich an »Scheiße« und »Arschloch« orientierend drehe ich mich in Richtung der Schlüsselwand, die sich, dem Klirren nach zu schließen, über mehrere Meter erstreckt.

      »Frau Hölzer?«

      »Ja? Ah, der blinde Mann ohne Telefon.« Niemand, der normal ist, spricht dieses Merkmal in meiner Gegenwart so aus. Und trotzdem klingt sie klarer, jünger. Was für ein Irrenhaus.

      »Hören Sie, mich geht Ihr geheimes Zimmer nichts an. Aber ich habe einen Vorschlag für Sie.«

      Das Klirren hört auf. Sie macht einen Schritt auf mich zu.

      »Kennen Sie den Bahnhof?« Ich sage es verschwörerisch und hoffe, mich so mit ihr zu verbünden.

      »Jaja, natürlich.« Frau Hölzer kommt trippelnd etwas näher.

      »Dort ist unten, neben dem Gemüsestand, im Durchgang zur Passage, ein Schlüsselmacher. Verlassen Sie diesen Raum hier, der ist nicht gut für Sie.« Ich strecke meine Hand aus und finde ihre dünne Schulter, an der ich sie sanft berühre. »Ich weiß, dass der Herr, dem der Laden gehört, sehr nett ist und auch, ja, so eine Art Hausbesuch macht. Der kommt zu Ihnen, besieht sich das Schloss und macht Ihnen einen neuen Schlüssel. Dann können Sie wieder in den Raum hinein.«

      »Aber er hat meinen Schlüssel geklaut«, flüstert sie mir entgegen.

      »Das glaube ich nicht, er ist nur ein bisschen … seltsam. So wie Sie«, lächle ich.

      Sie sagt gar nichts. Sie steht nur vor mir.

      »Das wird schon wieder«, sage ich noch, weil mir nichts Besseres einfällt.

      Schlagartig wird mir bewusst, dass ich hier bin, in einem Raum, den ich nicht kenne, am anderen Ende der Stadt – also fast –, und dass die Umgebung hier diesen verzerrten, leicht irrsinnigen Bleigeschmack hat.

      Ich muss hier weg.

      Ohne ein weiteres Wort, aber irgendwie mit dem Gefühl, das Richtige zur verzweifelten Frau Hölzer gesagt zu haben, drehe ich mich um und kann die Richtung der Türe ausmachen, weil sie gerade aufgeht. Lederjacken knarzen, an mir vorbei gehen zwei Typen. Einer riecht nach Pomade und langer Nacht, der andere trägt schwere Stiefel und macht satte, bedrohliche Schritte. Die beiden gehen an mir vorbei zum Tresen.

      Es scheint jetzt absolut sicher, dass es gleich Ärger geben wird.

      Vielleicht klaut der Typ hinter dem Tresen wirklich Sachen, und die beiden sind da, um ihm dafür ordentlich eine zu verpassen. Ich mache, dass ich durch die sich schließende Tür hinaus auf die Straße komme. In mir dreht und wirbelt sich alles durcheinander. Das Zentrum, das Auge des Zyklons, ist die Enttäuschung.

      Kein Handy – keine Nummer – kein Date.

      Die Türe fällt hinter mir klappernd ins Schloss. Ich atme kurz durch, krame in meiner Tasche und ziehe eine Kippe hervor. Irgendwie werde ich schon an ihre Nummer rankommen. Ich versuche, ruhig zu werden und durchzuatmen, ziehe und schmecke den Rauch. Es ist kühler geworden, der Abend senkt sich über die Stadt. Von der Hauptstraße dröhnt der Feierabendverkehr und der süßlich-strenge Geruch der Abgase legt sich über die feuchte, frühabendliche Luft.

      Und dann löst sich meine Ruhe auf. Selbst wenn ich an ihre Nummer herankomme – in dem verdammten Scheißding sind über vierhundert Kontakte gespeichert. Kontaktmöglichkeit zu Freunden rund um den Globus, Bekannte, meine Geschäftskontakte, Wildnisschule, Presse, Patienten – alles weg.

      Die Ruhe ist dahin. Ich taste mit dem Stock nach vorne.

      Und mir ist sofort klar, dass ich die Orientierung verloren habe.

      Die Scheißorientierung geht im Lärm unter, der vorher nicht da war. Oder die Enttäuschung darüber, dass im verdammten Fundbüro nur Verrückte waren, aber kein