Was du nie siehst. Tibor Baumann

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Название Was du nie siehst
Автор произведения Tibor Baumann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783943709766



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die Menschen, die gerade meine Hand gepackt hatten. Ich richtete mich auf und zog das Shirt aus, drehte mich zurück und riss das Mikro an mich.

      Das Ausziehen ist mittlerweile Programm; eine Marke. Das Bedürfnis ist komischerweise echt. Wenn ich mich wohlfühle auf der Bühne, kommen die Schuhe und das T‑Shirt weg. Barfuß, oben ohne. Ich habe da keine Scheu und irgendwie ist es einfach gut zu spüren, dass man das kann. Ein bisschen Sixpack zeigen, grinsend die Oberarme anspannen und den schweißglänzenden Körper in der von den Scheinwerfern erhitzten Luft drehen. Es ist eben ganz oder gar nicht, auf der Welle reiten, sich dem Gefühl hingeben, dass man gerade die Balance gefunden hat und weiß, dass die Welle einen so lange tragen wird, wie man sie respektiert und keine Angst hat. Und natürlich ist es ein bisschen eingebildet.

      Irgendwann in er Mitte unseres Gigs flogen BHs und Höschen auf die Bühne. Ich wusste, dass Björn einigen Mädels die Dinger in die Hand gedrückt hatte, aber ich genoss die Show und wickelte einen BH um meinen Blindenstock und steckte mir einen anderen in die Hosentasche.

      Pretend to; dann funktioniert’s auch.

      Es war eines dieser befreienden Konzerte. Die Leute gingen mit, Applaus und Gejohle als Belohnung; dass einige manche Passagen schon mitgrölten, war ein besonderer Kick, und ich traute mich, ein paar Pogokicks schwingend, ein wenig aus meinem Radius hinaus.

      Das Rocken, Australien, die langen Bar-Nächte, all das ist eine Wendung, die ich nicht vermutet hätte, nachdem meine Vorstellung von dem, wie das Leben abzulaufen hat, sich in Wohlgefallen aufgelöst hatte.

      Bei der letzten Nummer gaben wir noch einmal alles. Wir erreichten die letzten Strophen und mir knickten die Knie ein. Ich rief schwer schreiend die letzten Zeilen in das Mikro und lehnte mich nach vorne auf die Box.

      Das Handy drückte sich durch den Stoff der Hosentasche gegen mein Bein.

      Da bin ich mir sicher.

      Es bleibt unentscheidbar, ob ich es nun dort verloren habe oder nicht. Ihre Nummer hat sie mir dort gegeben und ich bin mir sicher, dass ich es da noch hatte. Logisch. Aber danach habe ich es nicht mehr benutzt.

      Aber falls ich es doch dort verloren habe, dann hat es vielleicht dort jemand gefunden. Der Gedanke wirkt wie ein Turbo. Ich springe vom Teppich und hechte, die Arme ein wenig vor mir ausgestreckt, in den Flur zum Telefon.

      Es läutet eine gefühlte Ewigkeit bis jemand abnimmt.

      Ob Sachen gefunden wurden – ja.

      Ob sie das dann aufheben – ja. Aber sie bringen sie zum Fundbüro Süd. In zyklischen Abständen und so. Das war jetzt gerade fällig, wegen Datum und Anfang vom Monat und so und ich müsste also ins Fundbüro.

      Ich und mein scheiß Glück.

      Das Problem mit der Bewegung – einfach losmarschieren ist nicht drin. Im Fundbüro war ich noch nie und ich kenne den Weg nicht. Google wird helfen.

      Das mit dem sprechenden Computer und der Internetnutzung habe ich erst vor ein paar Jahren angefangen. Das erleichtert vieles. Sehr vieles. Aber eben nur virtuell. Ich kann den Computer durch das Sprachprogramm benutzen, aber zum Fundbüro muss man eben selbst kommen. An das Leseprogramm gewöhnt man sich mit der Zeit. Ist ähnlich wie mit dem sprechenden Wecker: ein Roboter aus einem Siebziger-Jahre-Science-Fiction.

      Die Nutzung des Internets macht vieles leichter für mich. Fahrpläne, Wegbeschreibungen, alles ohne nerviges Herumtelefonieren, vorgelesen von meinem persönlichen Terminator ohne Kill-Befehl. Brillant natürlich auch die Braillezeile; alles Wunder der Technik, die für mich alltäglich sind.

      Das Fundbüro Süd ist nicht weit weg von einer U‑Bahnhaltestelle. Von dort zurück sollte es gehen. Hin allerdings wird schwierig. Vor allem, weil ich so durcheinander wegen des bedepperten Handys bin. Zurück bin ich dann ruhiger, da fahre ich dann mit der U‑Bahn zurück. Okay, eins nach dem anderen: ein Taxi. Ich muss dem Fahrer nur sagen, von welcher Seite er hinfahren soll, dann habe ich die Orientierung, und ich spare mir eine Fahrt. So oder so ähnlich ist mein Plan. Mit der U‑Bahn zurück. Und meinem Handy.

      Wenn es da ist.

      Es ist bestimmt da.

      Es muss einfach da sein.

      Ich ringe mit mir, ob es eine gute Idee ist, alleine in das Fundbüro aufzubrechen. Obwohl ich gerne bis ans Ende der Welt fahre und mich über die Welt bewege, sind solche Entscheidungen manchmal trotzdem nicht leicht.

      Ich könnte den Taxifahrer warten lassen. Aber das fände ich feige. Die U‑Bahnhaltestelle ist direkt die Straße hinunter vom Fundbüro aus. Das ist machbar. Auch ohne Hund, den ich noch nicht habe.

      Ich lege das Telefon zur Seite und beschließe, dass ich erst einmal trainieren muss. Erst einmal das tun, was ich tun wollte, mich nicht gleich abhängig machen. In Unterhose und T‑Shirt setze ich mich auf mein Rennrad, das auf einer Rolle im Schlafzimmer steht, und fange an zu fahren. Zu denken, zu schwitzen. Noch während ich strample und schwitze und denke, fällt mir auf, dass ich vor lauter Aufregung was durcheinanderbringe. Normalerweise trainiere ich erst und dusche dann. Das macht auch Sinn. Gerade ergibt aber nichts Sinn, also ist der Quatsch schon wieder folgerichtig.

      Was für ein Chaos; in mir.

      Manchmal bin ich zu schnell, als dass ich hinterherkommen würde.

      Die Tendenz, mich schnell und heftig zu verlieben, ist in den letzten Jahren besser geworden. Das Heftig ist geblieben, aber das Schnell hat sich verändert.

      Als ich im Internat war, gab es eine Phase, in der ich das Gefühl hatte, niemals mehr eine Frau kennenzulernen, zu knutschen, zu vögeln. Irgendwie drehte sich dann doch immer wieder alles um dieses Thema. Und egal, ob nun im Internat oder an den Wochenenden zu Hause in meinem kleinen Heimatkaff, immer wieder wurde mir klar, dass die Mädels mich mochten. Und je näher ich der Zwanzig kam, desto schlimmer wurde das: Sie mochten mich eben; wie einen Freund oder einen Bruder.

      Und niemand knutscht mit seinem Bruder.

      Auf dem Dorf konnte ich nicht mit dem Mofaschlüssel in der Tasche lässig am Bushäuschen unterhalb des Hügels, an dem sich der Ausläufer meiner Heimat erstreckt, in der Sonne warten. Ich konnte auch später nicht mit dem röhrenden Auspuff angeben und sagen: »Hey Baby, steig ein, ich fahr dich später auch heim, aber jetzt lass erst mal hier weg – ich will dir was zeigen.«

      Im Internat war es ähnlich. Es ging auch da immer um was, das man vorzeigen konnte. Je besser die Jungs sehen konnten, desto leichter war es. Aus irgendeinem Grund kam ich tatsächlich nie dazu, eine Beziehung mit einem blinden Menschen zu führen. Auch im Internat waren es die Mädels, die zumindest mehr sahen als ich, auf die ich abfuhr. Nicht mit Kalkül, das war einfach so.

      Bernie war damals mein Vertrauter in diesen Sachen. Der Typ war blitzgescheit, wir spielten zusammen Goalball und er war gerade noch so sehbehindert. Er konnte tatsächlich so gut sehen, wie er behauptete. Eine echte Ausnahme. Am gefährlichsten ist es, sich mit einem hochgradig Sehbehinderten zu bewegen. Meiner Erfahrung nach überschätzen die sich meistens und bauen deswegen auch den größten Scheiß.

      Bernie und ich machten die Woche über gemeinsam das Internat unsicher, stellten den Mädels nach, gingen nachts in der Küche räubern und stahlen uns über ein Fenster auf ein Flachdach, wo wir dann unter dem Nachthimmel lagen, soffen, ratschten und rauchten. In dieser Nacht lagen wir auch auf dem Dach, verputzten Zwieback mit Leberwurst und tranken billiges Büchsenbier.

      Als wir uns die letzte Kippe teilten, sagte Bernie zu mir: »Du musst das so sehen: Jetzt wollen die Mädels jemanden, der größer ist, älter ist … du weißt schon … führt. Jetzt schaust du halt mal ein paar Jahre in die Röhre.«

      Man kann es nicht anders sagen, zwischen 14 und 17, meine Güte, da standen sie alle auf mich. Und dann, plötzlich – niemand mehr. Bis ich 21 wurde, hatte ich das Gefühl ein Aussätziger zu sein.

      »Aber dann, Alter, dann wirst du richtig abräumen – also, wenn du weiter so Goalball spielst und so schlank und gut aussehend bleibst und nicht fett wirst.« Er stieß mir kameradschaftlich in die Seite. »Und vor allem,