Reiseziel Utopia. Victor Boden

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Название Reiseziel Utopia
Автор произведения Victor Boden
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783964260208



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deutschsprachige Wissenschaftler nach Afrika geflohen, zum anderen gab es in Südamerika einige deutsche Enklaven. Aber ich sehe, ich langweile dich, lassen wir die Linguistik erstmal beiseite.

      Die Kooperation hatte, nachdem das Goldene Zeitalter eingeläutet war, ein gewaltiges Problem, meiner Ansicht nach eines der besten Probleme, die man haben kann. Es gab keine Rüstungsindustrie mehr, die zuvor einen großen Wirtschaftsfaktor dargestellt hatte. Wie schon bei den alten Ägyptern mit dem Bau ihrer Pyramiden brauchte man also ein neues Großprojekt als Ausgleich. Schau nicht wie ein Ochse – schlag es nach. Frühgeschichte, Heimatwelt, Ägypten. Halt, nein, nicht jetzt. Mach das später.

      Über zwei Jahrhunderte steckte die Kooperation einen Großteil der Ressourcen in den Bau von Generationsraumschiffen zur Besiedelung anderer Welten. Wie gesagt, es füllte die Lücke der Rüstungsindustrie, außerdem wollte man verhindern, dass bei einem möglichen erneuten Zusammenbruch die Menschheit als solche ausgelöscht wurde. Man erstellte also quasi Backups auf fremden Planeten. Und schlussendlich – denn auch in der Kooperation war nicht alles eitel Sonnenschein – nutzte man einige der Schiffe zur ethischen Säuberung der Heimatwelt. Umbringen wollte man Andersdenkende nicht mehr, aber behalten auch nicht, also stellte man diversen Gruppen Raumfahrzeuge zur Verfügung und überredete sie mit Nachdruck, als komplette Einheit die Erde zu verlassen. Die Sklavenhalter von Madagaskar, religiöse Gruppen, Genoptimierte, Anarchisten jeglicher Couleur. Einige gingen freiwillig und mit Freuden, andere wurden geradezu interniert, besonders in der Endphase vor dem Zusammenbruch der Kooperation. Von hier an reden wir nicht mehr über Heimatweltgeschichte, hier beginnt die interstellare Geschichte.

      »Nuckelavee! Nuckelavee! Nuckelaviihihihi!« Das letzte Wort in ihrem Song ließ Marja in einem Wiehern enden. Dann fing sie wieder von vorne an. Den gesamten Shuttleflug von Neu Mekka zurück zum Schiff ging das nun so, und wäre ich nicht leicht angetrunken, wäre es mir wahrscheinlich ziemlich auf die Nerven gegangen. Als Teil des Handels hatte ich ein dreitägiges Entertainmentpaket für eine Zwölfjährige erbeten, mit ganz klarer Beschränkung, welche Themen absolut Tabu sind. Marja kommt von einer eher traditionellen Welt, und nicht jeder Planet legt das Mindestalter für Erwachsenenthemen auf dieselbe Weise fest. Auch das Thema Flugdauer und Relativität ließ ich aus offensichtlichen Gründen sperren. Anscheinend hatte sie den letzten Tag im großen Nuckelavee-Freizeitpark verbracht, welcher auf einer Kinderserie beruht, die derzeit auf ganz Neu-Mekka beliebt war. Sie besteht hauptsächlich aus knuddeligen Pferde-Hamster Hybriden, die Abenteuer erlebten und von Freundschaft sangen. Nach kurzer Recherche im iMplantat hatte ich beschlossen, Marja den Tag nicht zu vermiesen, in dem ich sie über die Herkunft des Wortes »Nuckelavee« aufklärte. Für die Produzenten war es wohl einfach ein knuffiges Wort, das irgendwas mit Pferden zu tun hat, und damit war es gut.

      »Oh Mann, das war sooo toll!«, begann sie eine weitere Erzählung ihrer Erlebnisse, die nach persönlicher Wichtigkeit sortiert war statt nach Chronologie. Trotz meiner beruflichen Erfahrung mit unterschiedlichsten Erzählstilen konnte ich ihr nicht folgen, allerdings schien es mir, dass pferdeartige Tiere anscheinend eine

      ganz besondere Faszination auf junge Mädchen ausübten. Insbesondere, wenn sie bunt waren und sangen.

      »Wenn diese ‘Vees einen Pferdekörper, aber einen Hamsterkopf haben, wieso wiehern sie dann? Müssten sie nicht eher pfeifen?«, versuchte ich einen Einwand, aber Marja ereiferte sich bereits über unseren Besuch im Greater Canyon. Wie gesagt – keinerlei Chronologie.

      Schließlich ging aber auch ihr die Energie aus, und sie wurde etwas ruhiger.

      »Danke, dass du mich überredet hast, den Planeten zu besichtigen, bevor wir zurückfliegen.«

      »Naja, wann sieht man schon mal einen fremden Planeten?«

      »Das war so ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte.«

      »Enttäuscht?«

      »Nein, nein, überhaupt nicht!« Sie boxte mich auf den Oberarm, wissend, dass ich sie nur aufziehen wollte. »Ich dachte nur, dass die Leute da ganz anders drauf sind. Wegen dem Namen und so.«

      »Wieso das?«

      »Naja, Mekka war doch so eine heilige Stadt auf der Heimatwelt, und die Siedler waren streng religiöse Arabier.«

      »Woher weißt du denn etwas über Araber?«, hakte ich nach.

      »Hab ich nachgelesen! Aber die Leute da waren gar nicht so, sondern richtig nett.«

      »Was hattest du dir denn so vorgestellt?«

      »Naja«, sie wurde rot, »mehr arabisch halt. Turban und Bart und Pluderhosen, sowas in der Richtung.«

      »Meine Güte, wo hast du das denn her? 1001 Nacht?«

      Sie nickte. »Aber hier waren ganz normale Leute. Ich musste kein einziges Mal zu Allah beten oder einen Schleier tragen oder so.«

      »Ja, so ist das mit den Menschen. Egal was du für eine Gruppe Kolonisten nimmst, nach ein paar Generationen wächst sich das alles raus und du hast wieder dieselbe alte Mischung. Die Welten sind ständig im Wandel.«

      »Aber wenn man jetzt zum Beispiel nur superschlaue Leute nimmt …«

      »… dann muss immer noch jemand die schwere Arbeit machen. Falls die Schlauköpfe die Aufbauphase der Kolonie überleben, hast du hinterher ganz schnell wieder Gruppen von mehr und von weniger Gebildeten.«

      Marja wirkte enttäuscht. »Also sind alle Planeten gleich?«

      »Aber überhaupt nicht! Sie sind sich zwar ähnlich, so wie sich zwei Menschen ähnlich sehen – Kopf, Arme, Beine, Nase, Augen – aber trotzdem grundverschieden sein können. Fandest du, Neu-Mekka war genauso wie dein Planet?«

      »Die haben hier fliegende Autos! Aber auf dem Klo benutzen sie noch Papier.« Marja kicherte. »War schon anders als zu Hause, aber doch irgendwie ähnlich.«

      »Was hältst du davon, dir noch eine Welt anzuschauen?«, wagte ich den Vorstoß. »Auf die eine Woche kommt es jetzt auch nicht mehr an. Wann wirst du jemals wieder eine solche Gelegenheit bekommen?«

      Jubelnd fiel sie mir um den Hals. Anscheinend hatte sie selbst schon versucht, den Mut für die Frage aufzubringen. Ich hatte eine Gnadenfrist gewonnen.

      Später sichteten wir die Geschenke, die sie von Neu-Mekka mitgebracht hatte. Neben erstaunlich viel Nuckelavee-Merchandising brachte sie besonders ein Prinzessinnen-Diadem in Verzückung. »Das muss unglaublich wertvoll sein!«, vermutete sie.

      »Darf ich mal? Das sind wahrscheinlich bloß Diamanten«, erwiderte ich. Reiner Kohlenstoff in Gitterstruktur, das war das Einfachste, was der Assembler zusammensetzen konnte.

      »Ja, Diamanten«, bestätigte ich nach der Analyse. »Sehr hübsch gemacht und sicher ein tolles Geschenk, aber das Wertvollste, das du bekommen hast, ist das da.« Ich zeigte auf den Datenträger mit der kompletten Nuckelavee-Serie. »Dafür, mein Kind, fliege ich durch das All. Dafür bin ich Fernhändler.«

      »Für Kinderserien?«, fragte sie erstaunt.

      »Quatsch, ich handele doch nicht mit Kinderserien!”

      »Aber womit handelst du denn dann? Ich hab eigentlich keine Ahnung, was du so durchs All fliegst.«

      »Außer blinden Passagieren, meinst du? Also gut, da muss ich etwas weiter ausholen. Zeit für die nächste historische Lektion!«

      Sie seufzte gespielt auf, fügte sich aber und hörte mir brav zu.

      Historischer Exkurs, Teil II

      Das Aussenden der Kolonieschiffe hatte eine gewisse Endgültigkeit. Die ersten Jahre konnte man noch Kontakt halten, aber selbst der beste Richtfunk kann nur beschränkte Entfernungen überwinden, und zumindest die Schiffe verfügten ab einer bestimmten Distanz einfach nicht mehr über Sender mit der ausreichenden Präzision und Stärke.