Reiseziel Utopia. Victor Boden

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Название Reiseziel Utopia
Автор произведения Victor Boden
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783964260208



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sich mit den Vorräten an Bord zu schmuggeln, brachte schonmal gute Voraussetzungen für einen Fernhändler mit. Und ich musste gestehen, dass ich mir schon länger einen Assistenten und Lehrling gewünscht hatte – idealerweise jemanden, der meine Leidenschaft teilte. Es konnte natürlich auch sein, dass ich ihn beim nächsten Aufenthalt hinauswerfen musste oder er nach ein paar Stopps das Schiff verließ, um mit einer exotischen Schönheit auf einer freizügigen Welt ein bis drei Familien zu gründen. So etwas konnte man vorher nicht wissen, und umso gespannter war ich, wer wohl mein Gast sein würde.

      Als ich mit dem Zustand des Wohn- und Arbeitsbereiches zufrieden war, schaltete ich eine Verbindung zum Vorratslager.

      »Herzlich willkommen auf der Axon Zwölf«, ließ ich über das Intercom verlauten. »Ihre Anwesenheit wurde bemerkt und wird mit Skepsis betrachtet. Bitte verlassen Sie Ihr Versteck und zeigen Sie sich der Kamera.« Den Spruch hatte ich geübt und manchmal nach der Abreise von einer hochtechnisierten Welt auch einfach so in den Laderaum übertragen. Man weiß ja nie.

      Als sich auch nach einer Weile nichts rührte, fügte ich hinzu: »Sie können natürlich auch in Ihrem Versteck verweilen, das ist mir einerlei. In diesem Fall werde ich Sie auf dem nächsten Planeten wieder entladen. Das wird allerdings ein paar Tage dauern.«

      Schließlich rührte sich etwas, und der blinde Passagier wühlte sich durch die Verpackungen ins Freie. Verflucht, blinde Passagiere waren in der Regel zwar jung, aber selten so jung. Das Mädchen war bestenfalls 12 Standardjahre. Mit verheulten Augen blickte sie in die Kamera und schluchzte, so dass man kaum ein Wort verstehen konnte: »Ich habe Mist gebaut. Ich will wieder nach Hause.«

      Marja – so hieß unser Ausreißer – saß am Tisch mit einem heißen Tee zwischen ihren Händen (Earl Grey – alte Raumfahrertradition). Ich hatte sie in warme Decken gepackt, denn im Lagerraum war es naturgemäß recht kühl. Bislang hatte ich außer Schluchzen, ihrem Namen und dass sie nach Hause wollte, nicht viel aus ihr herausbekommen. Intensiv starrte sie in die Tasse, als wären dort die Lösungen aller Probleme, und ließ gelegentlich ein leises Schniefen hören.

      »Kann es sein, dass ich dich auf dem großen Empfang gesehen habe? Du warst dort mit deinen Eltern, einem Diplomatenpaar vom südlichen Kontinent. Wie hieß er doch gleich? Ich kann mir diese Namen nie merken.«

      »Neuropa«, kam eine schüchterne Antwort. Das ist genau der Grund, warum ich mir keine Mühe machte, diese Namen zu lernen. Jeder zweite Kontinent hieß Neuropa, Neu-Afrika oder Neurasien. Viele Städte hießen Perth, Mexiko, Luanda etc. (mit oder ohne »Neu« davor) und Planetennamen waren entweder Terra Novas (in verschiedenen Versionen toter Sprachen), Abarten des Wortes Paradies oder – in einigen Einzelfällen – von Hölle. Planetennamen merkte ich mir. Zum einen gab es davon weniger als Städte und Kontinente, zum anderen gebot das auch die Höflichkeit.

      »Ja, genau, Neuropa! Gemäßigte Zone, landwirtschaftlich geprägt«, las ich vom iMplantat ab. »Oh, und der Sitz der Unterhaltungsindustrie.« Sie sah mich fragend an. »Bücher, Filme, Spiele, Cortexdramen?«, spezifizierte ich. »Naja, Cortexdramen eher nicht, dazu ist das technische Niveau nicht ausreichend.«

      »Ich hab von Cortexdramen gehört, die sind gefährlich und machen dumm«, beteiligte sie sich endlich am Gespräch. Das Eis brach.

      »Das hat man von den anderen Dingen auch irgendwann behauptet«, gab ich lakonisch zurück.

      »Aber bei Cortis stimmt es«, schniefte sie in den Tee. Ich zuckte mit den Schultern. Im Moment stand mir wenig der Sinn danach, das Für und Wider verschiedener Medien zu diskutieren.

      Mit »Also, was …«, und »Können wir bitte …«, versuchten wir beide gleichzeitig, das peinliche Schweigen zu durchbrechen. Ich bedeutete ihr, auszusprechen.

      »Könn … Können wir bitte wieder umkehren? Bitte?« Mit großen Augen sah sie mich an. Ich schluckte.

      »Ich fürchte, das ist nicht möglich. Einmal initiert kann der Sprung in ein anderes Sonnensystem nicht mehr abgebrochen werden.«

      »Aber dann können wir doch zurückspringen? Ja?«

      »Das ist natürlich denkbar, aber ...«

      »Und wie lange dauert so ein Sprung?«

      »Puh, also, du warst jetzt zwei Tage im Lager, also noch fünf Tage bis zur Ankunft in Neu-Mekka. Jeder Sprung dauert sieben Tage Rel...« Wieder unterbrach sie mich.

      »Also etwa zwei Wochen. Das ist ganz schön lang. Mama macht sich bestimmt Sorgen.« Nach kurzen Überlegen fügte sie hinzu: »Und Papa.«

      »Ich habe bereits eine Nachricht abgesetzt, dass du als blinder Passagier an Bord bist und es dir gut geht. Standardprozedur, sobald der Name bekannt ist. Ich vermute, es sind an dem Tag nicht viele Marjas verschwunden, also dürfte klar sein, dass du gemeint bist.«

      Panisch blickte sie auf, dann schien ihr klar zu werden, dass sie ohnehin in dicken Schwierigkeiten steckte und ihren Ausflug unmöglich noch verheimlichen konnte. Oh Mädchen, du hast ja keine Ahnung, in was für einem Schlamassel du steckst!

      Sichtlich erarbeitete sie sich den Mut für die nächste Frage.

      »Darf ich vielleicht solange an Bord bleiben? Wenn es keine Umstände macht? … Bitte?«

      »Na, ich kann dich ja wohl schlecht aus der Schleuse werfen, oder? Für die kommenden Tage werden wir uns wohl arrangieren müssen.«

      »Danke sehr.«

      »Sag mal, nach zwei Tagen im Lager – und der Computer zeigt keine Verunreinigungen an – musst du da nicht dringend aufs

      Klo?« Sie nickte heftig. Ich wies ihr die Richtung und sie verschwand in der Hygienezelle.

      Irgendwie musste ich ihr die schlechten Nachrichten klarmachen. Wenn sie zurückkam? Oder später, ich hatte ja noch fünf Tage Zeit, sie langsam an das Thema heranzuführen. Ich alter Schisser kann mit sowas nicht umgehen.

      Historischer Exkurs, Teil I

      Die Menschheit hatte sich auf der Heimatwelt – Erde, Earth, Tierra, Земля́, 地球 oder wie man sie in dem Sprachwirrwarr noch nannte – beinahe selbst ausgelöscht. Kaum hatte man die Gefahr der atomaren Verstrahlung technologisch in den Griff bekommen, bombte sich die Nordhalbkugel zurück in die Steinzeit. Zum Schluss musste irgendein Idiot dann doch die schmutzigen Bomben zünden, und wenn erstmal einer anfängt …

      Zentren der neuen Zivilisation wurden Südamerika, Afrika und Australien – in dieser Reihenfolge. Es war die selbe krude Mischung, wie man sie heute auch auf weiteren Welten nach planetaren Katastrophen findet. Auf der einen Seite lebte ein Großteil der Bevölkerung auf niedrigstem technischen Niveau. Ich rede hier von Holzhütten und Ochsenkarren – ihr habt doch Ochsen auf eurer Welt? Auf der anderen Seite gab es Zentren der Hochtechnologie. Es gab noch Satelliten, so dass man sich global austauschen konnte. Rohstoffe und Spezialanfertigungen wie etwa Computerchips wurden Mangelware, denn die Förder- und Produktionsstätten lagen – soweit überhaupt noch vorhanden – zu weit auseinander, und die Versorgung mit Treibstoff war vollständig zusammengebrochen.

      Es gibt viel Spannendes aus dieser Zeit zu erzählen, von Militärdiktaturen, dem Hungerschwarm und so weiter, aber letztendlich konnte sich die Kooperation durchsetzen. Mit dem, was an Technologie noch vorhanden war und mit dem Wissen, was technisch

      möglich ist, baute die Kooperation die Welt langsam wieder auf, hob das allgemeine Niveau erneut auf den alten Stand und breitete sich von den Zentren Mexiko, Perth und Luanda auch auf die Nordhalbkugel aus. Ja, ich weiß, technisch gesehen liegt Mexiko auf der Nordhalbkugel. Schalt die Karte ab und halt die Klappe.

      Durch die enge Kooperation in der Kooperation (Daher der Name. Hör auf zu kichern) hat sich auch eine neue Verkehrssprache entwickelt, die zunächst zur Gelehrtensprache und schließlich zur Weltsprache wurde. Nahezu jedes alte Idiom hat