Diese bescheuerte Fremdheit in meiner Seele. Mathias Kopetzki

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Название Diese bescheuerte Fremdheit in meiner Seele
Автор произведения Mathias Kopetzki
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783943709919



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ständigen Schießereien mit den Schurken, das hält doch kein vernünftiger Mensch lange aus. Und Old Shatterhand wirkte dann doch noch einigermaßen vernünftig.

      Zwischenzeitlich kam er sicher immer wieder hierher, um sich zu erholen. Leider war ich ihm bisher noch nicht begegnet, aber ich hielt wachsam die Augen auf.

      »Quatsch!«, sagte Michael, als wir mit dem Fahrrad nach dem Gottesdienst gemeinsam wegfuhren – wir radelten zum Teil in dieselbe Richtung. »Winnetou hat doch überhaupt gar keinen Sohn!«

      »Wenn ich’s dir doch sage! Natürlich hat er einen! Ich muss es doch schließlich wissen! Ein kleines Baby hatte er da, im Zeltlager bei den Apachen! Aber in den Filmen kommt sein Söhnchen nicht vor, weil ein Baby halt noch nicht reiten und Abenteuer bestehen kann und Bösewichter niederschießen und so. Aber Winnetou ist ja von Rollins mit einer Kugel getroffen worden und ist hopsgegangen und Old Shatterhand hat sich um das Baby gekümmert und es nach Deutschland gebracht. Nach Hude, wo sich seine alten Freunde, die Kopetzkis, um das Kind kümmern sollten, weil er ja wieder zurück musste in die Prärie, um Abenteuer zu bestehen. Aber wenn ich mal groß bin und Old Shatterhand kommt zurück, dann nimmt er mich mit zu dem Apachen-Zeltlager, und dann zeigt er mir alles.«

      »Quatsch mit Soße!«, sagte Michael. »Und deine Mama? Warum hat die sich nicht um dich gekümmert?«

      »Na, die ist doch auch tot!«, rief ich. »Die ist doch schon in ›Winnetou II‹ gestorben! Weißt du das denn nicht?«

      Ich war geschickt, ich war ein Schelm, ich war ein Genie! Ich hatte mir gerade nicht nur eine wasserfest abgesicherte Geschichte ausgedacht, die für Michael verdammt schwer zu widerlegen sein würde, sondern ihn auch gekonnt mit Wissenslücken konfrontiert bezüglich »Winnetou II«!

      Schließlich war er ebenfalls ein Fan dieser Filme, die gerade vor kurzem mal wieder im ZDF ausgestrahlt worden waren. Er kannte sie eigentlich in und auswendig.

      Und Winnetou hatte ja tatsächlich eine Frau, die im zweiten Teil der Trilogie von einem Bösewicht feige umgebracht wurde. Warum, bitteschön, sollte das nicht meine Mama sein? Also meine richtige Mama – die andere kochte ja zu Hause gerade das Mittagsessen.

      Michael sagte jetzt gar nichts mehr. Ich hatte ihn platt geredet. Aber ich merkte, dass es in ihm arbeitete. Und das reichte mir. Schweigend, beide in Gedanken versunken, fuhren wir noch eine Weile nebeneinander her, bis uns unsere jeweiligen Nachhausewege voneinander trennten.

      Es waren nicht die einzigen Stories über meine Herkunft, die ich im Ort bei Freunden und Klassenkameraden verbreitete.

      Mal war ich Nachfahre vom kleinen Muck, mal kam ich aus dem Dschungel von Afrika, mal von den Eskimos vom Nordpol, wo es mir auf die Dauer einfach zu kalt gewesen war.

      Ich brauchte diese Geschichten und hatte das Gefühl, dass meine Freunde sie ebenfalls brauchten. Sie erklärten, warum die Dinge so waren, wie sie waren.

      Sie erklärten, warum ich nicht nur anders, so komplett anders aussah als der Rest meiner Familie, sondern auch als so ziemlich jeder in meinem Dorf, wo man Menschen aus anderen Ländern hauptsächlich aus dem Fernseher kannte.

      Und mir selber erklärten sie etwas, wofür ich noch Jahre brauchen würde, um es vollständig zu begreifen.

      Natürlich blieben die Fantasiegeschichten, die ich fortan meinen Freunden erzählte, nicht so ganz ohne Folgen.

      Michael fing mich eines Sonntagmorgens, als ich nichtsahnend zum Gottesdienst radelte, auf halber Strecke an einer dichtbewachsenen Kurve ab und fauchte mich an: »Du bist überhaupt nicht der Sohn von Winnetou!«

      Nachdem ich ihn fast über den Haufen gefahren hatte, weil er so plötzlich, wie aus dem Nichts, auf die Straße geschossen war, kam ich erst einmal zum Stehen und schaute ihn eine Weile lang fragend an.

      Ich schwieg und tat einfach so, als wüsste ich überhaupt nicht, wovon er sprach.

      »Du weißt ganz genau, wovon ich spreche!«, durchschaute er mich umgehend. »Meine Mama sagt, du spinnst!«

      Ich lächelte und entschied mich dafür, auf gleichgültig zu stellen.

      »Na, wenn du meinst.«

      Das provozierte ihn noch mehr. Er funkelte mich an, sein Kopf war rot angelaufen.

      »Und dann hat sie gesagt, dass du deine richtigen Eltern überhaupt nicht kennst! Und deine anderen Eltern, die kennen die auch nicht! Du lügst!«

      »Wenn du meinst«, wiederholte ich betont entspannt.

      Innerlich tobte es aber in mir. Ich suchte verzweifelt nach einer Lösung aus dieser verflixten, ziemlich peinlichen Situation.

      Beim Lügen ertappt zu werden, war so etwa das Unangenehmste und Schlimmste, was einem Jungen meines Alters widerfahren konnte. Es gab mich komplett der Lächerlichkeit preis. Und das vor allen! Dem Hohn, dem Spott, dem Dorfgespräch – ich war Freiwild! Denn was wusste ich denn schon, mit wie vielen meiner Freunde oder Schulgefährten er sich in Zukunft über meine kleine, unbedeutende Story das Maul zerreißen würde? Sich kaputtlachen würde? Mich an den Pranger stellen würde?

      Ich atmete tief durch, wischte mir mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und zwang mich dazu, über solche Horrorszenarien nicht weiter nachzudenken. Stattdessen versuchte ich, kühl und sachlich zu reflektieren: Wie verdammt nochmal komme ich da jetzt raus? Und gab mir sogleich die Antwort: Gar nicht. Keine Chance. Du bist im Arsch.

      Trotzdem probierte ich es. Schließlich hatte ich nichts mehr zu verlieren.

      »Du wirst schon sehen«, beharrte ich ganz einfach und ruhig auf meiner hanebüchenen Geschichte. »Du wirst staunen, wenn Old Shatterhand plötzlich hier in Hude einreitet, auf seinem Pferd Hatatitla und ich sitz dann da oben mit drauf! Dann werden dir die Ohren schlackern! Und dann kannst du deiner Mama ja gerne Bescheid geben, dass sie rauskommen soll aus ihrem Haus, um sich das dann einfach mal anzuschauen! Dann werden wir ja wissen, wer recht gehabt hat!«

      Für einen Augenblick blitzte in seinen Augen so etwas wie Begeisterung auf. Vermutlich stellte er sich gerade vor, wie es denn wäre, wenn ich tatsächlich recht hätte und seine Mutter nicht. Und er dann vielleicht ja sogar selbst eine Runde auf Hatatitla mitreiten dürfte, weil er immer an mich geglaubt hatte. Wie wir dann gemeinsam mit Old Shatterhand durch den Ort trabten, unter dem Jubel des Dorfvolkes, das uns mit Palmenzweigen oder ähnlichem Kraut zuwinkte, als würden wir in Jerusalem einziehen.

      Doch dann hatte Michael sich wieder gefasst und seine Nüchternheit, die er von seinem Papa geerbt haben musste, der Postbeamter war, hatte die Schlacht gewonnen.

      »Ja, ja, ja, erzähl du mal!«, winkte er ironisch ab. »Ich glaub dir kein Wort! Und dass ich mit dir zusammen weiter messdienere: Vergiss es! Das kannste knicken. Mit einem Lügner steh ich doch nicht vorm Altar! Heute ist das letzte Mal!«

      Es wurde dann doch nicht das letzte Mal – so viele Messdiener gab es in unserer kleinen Kirchengemeinde schließlich auch nicht, als dass man sich seine Partner hätte aussuchen können. Wir beide waren halt die Kleinsten und wurden sowieso immer ungefragt zusammen eingeteilt.

      Aber er sprach eine ganze Weile (gefühlte Monate, wahrscheinlich waren es aber nur Tage) kein weiteres Wort mehr mit mir, stellte sich stur, obwohl ich ihm ansah, dass er mir verflucht gerne geglaubt hätte.

      Wahrscheinlich war er ja gerade deswegen so sauer auf mich: Er hatte mir die Story, als ich sie ihm erzählt hatte, fraglos abgenommen. Und wenn ihm seine Mutter da nicht so übel hineingefunkt hätte, würde er das wohl auch immer noch tun. Eigentlich war nämlich sie die Schuldige. Sie hatte nicht nur meine harmlose Lügengeschichte, sondern obendrein Winnetous Macht entzaubert. Seine Macht, etwas mit unserem kleinen, beschaulichen Leben zu tun haben zu können.

      Und so lauteten dann auch die ersten Worte, welche Michael nach langer, langer Funkstille eines Sonntagmorgens endlich wieder an mich richtete: »Sag mal, wann kommt er denn nun endlich, dein Old Shatterhand?« Und ich bin mir sicher, dass er diese Frage nicht scherzhaft