Diese bescheuerte Fremdheit in meiner Seele. Mathias Kopetzki

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Название Diese bescheuerte Fremdheit in meiner Seele
Автор произведения Mathias Kopetzki
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783943709919



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man dann aber doch einmal gegen diese unausgesprochene »Steffen-auf-gar-keinen-Fall-ansprechen-Klausel« verstieß, und sei es auch nur, um ihn ein wenig zu trösten, bekam er umgehend einen Wut- und Heulanfall, aus dem die Worte: »Könnt ihr mich nicht alle mal in Ruhe lassen!« mehr schlecht als recht herauszuhören waren, und stürzte in die nächste freie Ecke, in der er dann die kommenden Stunden nahezu unbewegt kauerte. Mit dem Gesicht zur Wand, gern noch zusätzlich bedeckt von Teppichen, Handtüchern oder ähnlichem Weichkram, welcher weitere Annäherungen an ihn komplett verhinderte.

      Eigentlich hatte ich ja schon gelernt, dass ich ihm in solchen Stimmungen besser nicht begegnete, aber da gab es etwas, das war stärker: Ich wollte ran an die Puppen. Steffen besaß nämlich ein mehrstöckiges Barbie-Traumhaus mit voller Ausstattung, größer als ich, welches er sich von dem Geld, das er von den zahlreichen Verwandten zu seiner Kommunionsfeier geschenkt bekommen hatte, im letzten Jahr gekauft hatte. Es war sein ganzer Stolz, sein meistgehüteter Schatz, der wie ein Altar im Zentrum des staubigen Dachbodens prangte – aber seltsamerweise eines seiner wenigen Besitztümer, die er den wechselnden Freundesgruppen akribisch vorenthielt.

      In dieser rosa Villa wohnten nicht nur Ken und Barbie, sondern auch ihre Schwester Skipper, ihre Kusine Francie und die Zwillinge Tutti und Todd, die selbstverständlich alle ihr eigenes Zimmer besaßen. Das faszinierte mich ganz besonders, da wir drei Brüder uns im richtigen Leben zwei kleine Zimmerchen im Obergeschoss mit Dachschräge teilen mussten.

      Axel, mein größter Bruder, neun Jahre älter als ich und damit stolze pubertierende vierzehn (also ein »Halbstarker«, wie mein Papa das gerne abschätzig formulierte, obwohl dieser Ausdruck schon damals etwas aus der Mode gekommen war), durfte das sechs Quadratmeter umfassende kleine Zimmer allein frequentieren und Steffen und ich zu zweit das große (acht Quadratmeter).

      Ansonsten gab es eigentlich nicht so viele Gründe, warum ich unbedingt an Barbies Plastikvilla ran wollte, mit seinen langweiligen Bewohnern, diesen unförmigen Gummigeräten, die nicht einmal richtig sitzen konnten.

      Außer, dass ich grundsätzlich mit Sachen spielen wollte, mit denen mein bewunderter großer Bruder gerade spielte. Und sei es auch nur mit dämlichen Puppen, die mich ansonsten herzlich wenig interessierten.

      Ich schlich mich also auf Socken über die ausgefahrene Schiebeleiter auf den Dachboden und versuchte, keine Geräusche dabei zu machen, als ich mich von hinten an Steffen heranpirschte.

      Der kniete etwa zwei Meter von der Luke entfernt auf dem knarzenden Holzboden und versank gerade mit seinem Oberkörper, vor sich hin murmelnd, im geräumigen Puppenhaus.

      Ich beobachtete ihn von hinten, still auf eine Gelegenheit wartend, wenn schon nicht mit Ken, Barbie oder deren »großen« Verwandten, dann doch wenigstens mit einem ihrer Kinder, den Zwillingen Tutti und Todd, eine Zeitlang herumspielen zu dürfen, ohne eigentlich genau zu wissen, was ich mit denen überhaupt anfangen sollte.

      Steffen, in sein Spiel vertieft, brabbelte in aller Seelenruhe in unterschiedlichen Stimmlagen, die er seinen Püppchen zuteilte. Doch so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte keine vollständigen Worte, geschweige denn Sätze heraushören.

      Nach einer Weile begriff ich, dass das Puppenpärchen in der Küche wohl gerade Essen für die versammelte Familie kochte und sich angeregt über die Zutaten unterhielt – was umso skurriler war, da Steffen ja gerade auf sein eigenes Essen verzichtet hatte.

      Ich, ein Allesvertilger, dem Appetitlosigkeit völlig fremd war, der sich aber nicht ansatzweise für das Zustandekommen von Mahlzeiten interessierte, hatte plötzlich das immer heftiger werdende Verlangen, Steffen, Barbie und Ken beim Kochen behilflich zu sein.

      Fast hätte ich meinen Arm ausgestreckt und ihm einfach in die Küche gegrapscht, mitten hinein in den Herd und die kleinen Töpfe, aber im letzten Moment konnte ich mich gerade noch zusammenreißen. Die Zeit war noch nicht reif.

      Ich übte mich weiter in Bewegungslosigkeit, tatenlos wie eine Sphinx hockte ich hinter seinem Rücken, obwohl es mir zunehmend schwerfiel. Ich hatte dabei das sichere Gefühl, dass mein Bruder mich bisher noch nicht bemerkt hatte.

      Doch da täuschte ich mich: Auf einmal schob er seinen Oberkörper aus dem Spielgestell und drehte sich zu meinem Entsetzen direkt zu mir um.

      »Hau endlich ab!«, giftete er mich an. »Ich will alleine spielen!«

      Augenblicklich kräuselte ich meine Unterlippe zu einem »Flunsch«, wie es meine aus Schlesien stammende Mama immer so treffend formulierte. Ich sah ihn mit aufgerissenen Augen an, mit schwerem Atem, die Stirn zu einer Leidensmiene hochgezogen. Meist genügte das, um schließlich doch noch sein Mitleid zu erwecken und aus Gnade eines seiner Püppchen überlassen zu bekommen. Aber heute nicht. Heute leider nicht. Zumindest keines von denen, die ich gerne gehabt hätte.

      »Du willst also mitmachen, was?«, fauchte er mich an. »Kannst du haben!«

      Er kramte in seiner Stofftier- und Puppenkiste, einem mit zahlreichen Stickern übersäten ehemaligen Umzugskarton, den er in jahrelanger Sammelarbeit nach und nach gefüllt hatte, und zog eine (Achtung Vokabel-Polizei: So hieß die damals wirklich!) Negerpuppe heraus.

      Die war aus Plüsch, schokoladenbraun, hatte rote, wulstige Lippen, schwarze, dichte Locken aus Wollkringeln und riesige, dunkle Knöpfe als Augen.

      Er warf sie mir vor die Füße.

      »Das da«, rief er. »Das bist du!«

      Die Puppe starrte mich an, aus voluminösen Glupschaugen, und sie machte mir Angst.

      Ich berührte sie nicht, auf keinen Fall, sorgsam hielt ich meine Arme auf dem Rücken verborgen, als würde auch nur der kleinste Kontakt mit ihr eine ansteckende Krankheit auslösen, betrachtete das Stoffungetüm nur verstohlen von der Seite, wie eine Frucht, von der man weiß, dass sie giftig ist, die einen aber trotzdem auf magische Weise anzieht.

      Und als hätte mich mein Bruder mit dieser seltsamen Puppe und seiner bescheuerten Äußerung nicht schon genug irritiert, wies er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf sein Traumhaus und die versammelte Barbie-Familie in der Puppenküche. Dabei imitierte er den Tonfall eines Show-Moderators, der seine Gäste ankündigte: »Und das hier sind …« Er zog die Worte in die Länge, um die Spannung zu steigern, auf das, was jetzt kommen würde: »Wir!« Nacheinander zeigte er auf Barbie, Ken, Todd und Tutti. »Das sind Mama, Papa, Axel und ich!«

      Er grinste mich erwartungsvoll an, als hätte er mir gerade seine allerneueste Erfindung offenbart, und wäre gespannt, wie ich darauf reagieren würde.

      Ich zuckte mit den Achseln. Ich hatte keinen Schimmer, was er mir damit sagen wollte.

      Mir fiel an seiner eigenartigen Argumentation eigentlich nur auf, dass, wenn Axel Todd, der Junge sein sollte, dann ja wohl Steffen Tutti, das Mädchen war, und das fand ich lustig. Also begann ich zu lachen.

      Das brachte ihn erst recht zur Weißglut. Er riss die Negerpuppe hoch und hielt sie mir direkt vor die Augen. Sie glotzte mich mit unveränderter Miene an.

      »Fällt dir was auf?«, schrie er. »Was ist das? Was ist das?«

      Ich sah abwechselnd zu ihm und zu der Puppe, mit offenem Mund und konnte nichts erwidern. Mein Bruder machte mir Angst.

      »Das da, das ist braun! Und die da drinnen, die sind weiß!«, erklärte er mir mit erhobener Stimme, als wäre ich geistig zurückgeblieben. Und fuhr fort: »Du bist überhaupt nicht mein Bruder! Und das Kind von Mama und Papa, das bist du auch nicht!«

      »Und du … du bist nicht Tutti!«, schrie ich umgehend zurück. Schließlich konnte ich seine lautstarken Beleidigungen und seine dummen Negerpuppen-Vergleiche nicht einfach so auf mir sitzen lassen.

      Ich sprang auf und stapfte heulend über die ausgefahrene Holzleiter zurück nach unten. Mir war die Lust vergangen. Steffen war böse zu mir gewesen.

      Ich verkroch mich in meiner Zimmerhälfte im Obergeschoss und spielte auf dem Kinderbett mit den Sachen, die mir gehörten, mir allein, meinem Playmobilschiff, meiner Playmobilkutsche und meinen Matchbox-Autos. Da würde