Diese bescheuerte Fremdheit in meiner Seele. Mathias Kopetzki

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Название Diese bescheuerte Fremdheit in meiner Seele
Автор произведения Mathias Kopetzki
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783943709919



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mir anschauen, ohne mich dabei zu fragen, wie es denn nun wirklich in Bagdad sei. Sie wusste, dass ich geflunkert hatte, nahm mir das aber weder übel, noch sprach sie mich jemals darauf an. Wir spielten auf unserem Rasen einfach weiter, als wäre nichts gewesen.

      Und Markus? Der glaubt mir die Geschichte mit dem Prinzen aus Italien wohl heute noch. Und auch im Fußball dribbelte er mich nie wieder so aus, wie er es davor immer getan hatte. Das hätte sich auch nicht geschickt, schließlich war ich ja auch von blaublütiger Herkunft!

      Ich hatte ihm Respekt eingeflößt. Insgeheim war ich Zeuge, wie er ein ums andere Mal anderen Kindern stolz erzählte, dass er jemanden kenne, der als Baby in einem Korb in unser Örtchen geschwemmt worden sei. Und er hatte ja auch recht! Anders konnte man sich das ja auch nicht erklären. Denn wie bitteschön sonst kam ein ausländisch aussehender Junge Anfang der siebziger Jahre ausgerechnet nach Hude? Die meisten Gastarbeiter zog es schließlich in die Stadt. Da war dann doch ein kleines bisschen mehr für sie los.

      So kam es, dass ich ganze neun Jahre alt werden musste, um meinen allerersten Ausländer zu sehen. Live und in Farbe! Und der ging dann sogar noch in meine Klasse.

      Erdal war schon fast elf, als er uns in der 3a der Katholischen Grundschule zum ersten Mal beehrte.

      Das Erste, was mir an ihm auffiel, war sein Haarschnitt: Die Seiten waren kurz, in der Mitte hob sich das Haar, streckte sich, wohl mit Klebstoff gestützt, wie ich damals dachte, in die Höhe, und mündete hinten in einem kleinen Pferdeschwanz. Experten hätten das vielleicht auch 1982 schon als eine Art verunglückten Irokesen bezeichnet, ich selber aber überlegte: So sehen die da im Ausland also aus, wenn sie mal ihren Turban ablegen! Obwohl es draußen regennasser Frühling war und bei Gott noch kein Hochsommer, trug er kurze Hosen und ein dünnes Polohemd, sodass ich auf seinem rechten Unterarm ein seltsames Zeichen entdecken konnte: ein eckiges Doppel-S, in schwarzer Schrift. Das hatte er sich wohl selber dran gemalt, anders konnte ich mir das nicht erklären. Es sah ziemlich brutal aus, wie bei einem japanischen Krieger, welche sich in Zeichentrickfilmen ja auch immer mit unleserlichen Lettern bemalten, bevor sie angriffen. War der Junge etwa ein »Halbstarker« wie mein Bruder Axel, der sich manchmal mit Gleichaltrigen prügelte? Ein bisschen sah er jedenfalls danach aus.

      Aber was mich an dem Typen vor allem faszinierte: Er war genauso braun wie ich!

      Erdal stand neben Frau Koslowski, unserer Klassenlehrerin, etwas verdruckst, verlegen an seinem rosafarbenen Tornister fummelnd, der vor seinen Beinen baumelte, und diese Verlegenheit passte so gar nicht dazu, dass er bereits größer war als sie. Und eigentlich die ganze Zeit grinste. Ein richtiges Grinsegesicht war dieser Neue.

      Ich fragte mich: War das ebenfalls typisch für Ausländer? Grinsten die da unten alle so? Ich überlegte, dass ich das in einer Neuauflage meiner Herkunftsgeschichte dann unbedingt einbauen musste.

      »Das ist Erdal!«, stellte uns Frau Koslowski den Grinserich vor und war dabei bemüht, sich durch Rückenstreckung größer zu machen, als sie eigentlich war.

      Ein Giggeln, Grunzen und Kichern breitete sich in unseren Reihen aus, als wir diesen sonderbaren Namen hörten, und auch ich konnte mir ein unterdrücktes Lachen nicht verkneifen.

      Wie hieß der Kerl da? Erdal? Das klang doch irgendwie nach Fernsehwerbung!

      »Vielleicht ist das ja gar nicht seine Hautfarbe«, flüsterte mir Andreas von hinten zu. »Vielleicht ist das ja Schuhcreme in seinem Gesicht!«

      Ich verstand nicht sofort. »Häh?« Andreas schlug sich an die Stirn.

      »Mann, bist du bescheuert! Erdal! Damit machst du dir doch die Schuhe sauber!«

      »Ruhe, gefälligst!«, zischte Frau Koslowski und schob sich ihre Nickelbrille auf die Nasenspitze. Das wirkte.

      Wenn ihre Nickelbrille auf der Nasenspitze landete, wusste jeder: Ein weiterer Pieps und es hagelte Hausarbeiten, Nachsitzen, in der Ecke stehen und manchmal sogar Linealschläge auf die Fingerspitzen.

      Eigentlich war zu dieser Zeit die Prügelstrafe in Schulen bereits abgeschafft worden. Nur waren wir halt leider eine katholische Schule, und da lebte die bewährte Tradition noch munter ein paar Jahre weiter.

      Frau Koslowski verharrte ein paar Sekunden in ihrer Pose, bis auch der leiseste Anflug von Flüstern, Kichern, Stuhlrutschen oder sonstigen Geräuschen endgültig aus dem Klassenraum entschwunden war.

      Sie war schon eine recht betagte Dame, hager bis auf die Knochen, etwas bucklig, mit grauer Dauerwelle und für uns Kinder ohnehin nicht mehr weit vom Friedhof entfernt – heute weiß ich, dass sie damals gerade mal Anfang Fünfzig war.

      Die Hitlerjahre und die Vertreibung aus Schlesien hatte sie einigermaßen gefasst überstanden, wie sie uns oft erzählte, doch nun merkte man ihr an, dass sie diesem seltsamen Geschöpf da neben sich etwas befremdlich gegenüber stand. Sie rieb ihre Hände aneinander, als würde sie sie in der Luft waschen wollen, und trippelte von einem Fuß auf den anderen.

      »Erdal wird ab heute Schüler in unserer Klasse sein«, erklärte sie mit dem breitesten Lächeln, zu dem sie fähig war, aber das wirkte ziemlich angespannt. »Vorher hat er in Oldenburg gelebt und da ist er auch in die eine oder andere Schule gegangen. Aber eigentlich kommt er aus Anna … Anna …« Sie wandte sich Erdal zu und griff ihm an den Unterarm und – ob zufällig oder nicht – genau auf sein Doppel-S. »Wie heißt das noch gleich?«

      »Anatolien!«, skandierte Erdal, mit dunklem Timbre (er war tatsächlich schon im Stimmbruch!), brüllte fast dabei, sichtlich stolz, etwas besser zu wissen als eine Lehrerin.

      Ich konnte mir vorstellen, dass es nicht das erste Mal war, dass jemand Probleme hatte, dieses eigenartige Wort auszusprechen.

      Und er fügte hinzu: »Da kommen aber nur meine Eltern her. Ich selber komm aus Kreyenbrück.«

      Frau Koslowski lachte verlegen und ließ Erdals Arm wieder frei.

      »Genau, Anatolien«, bestätigte sie.

      Auf seine letzten Worte aber ging sie nicht ein. Vermutlich hatte sie sie überhaupt nicht gehört.

      »Das ist gaaaanz weit weg von hier. Weiß denn jemand, wo das ist?«, fragte sie in die Runde, wahrscheinlich, um davon abzulenken, dass sie wohl selber nicht so viel darüber wusste.

      Ich meldete mich.

      »Spanien!«, rief ich siegessicher und meinte das einmal in einer Dokumentation im Fernsehen aufgeschnappt zu haben.

      Frau Koslowski schüttelte den Kopf.

      »Nein, Mathias, das verwechselst du vermutlich mit Andalusien, wo die Pampelmusen herkommen. Andalusien klingt so ähnlich, ist aber ganz woanders. Anatolien ist in der Türkei. Das ist so weit weg, dass es schon gar nicht mehr in Europa ist. Und von dort kommen viiiele, gaaanz viele Leute her zu uns, die ein bisschen so aussehen wie Erdal und so ähnliche Namen tragen.«

      Wieder machte sich ein Giggeln in der Klasse breit, diesmal aber um einiges verhaltener, sodass es Frau Koslowski vermutlich gar nicht mitbekam.

      Katja meldete sich, von uns immer nur »Katjes« genannt. Sie war unsere Klassenbeste und trug braune Zöpfe, eine dicke Brille und eine Zahnspange. »Und wieso sind dann Erdals Eltern hierhergekommen, wenn es so weit entfernt von hier ist?«

      Frau Koslowski lächelte ihr milde zu.

      »Eine gute Frage, Katja. Eine sehr gute Frage.« Sie wandte sich wieder an uns.

      »Ja, wer kann uns das sagen?«, fragte sie in die Klasse. »Weiß das etwa jemand?«

      Markus wusste es, mein alter Fußballfeind: »Da unten ist es so heiß, da können die alle vor lauter Hitze überhaupt nicht arbeiten. Deswegen verdienen die kein Geld und müssen zum Geldverdienen zu uns kommen. Sonst können sie sich ja nichts kaufen.«

      Da Frau Koslowski leise zu lachen begann und zu Erdal blickte, der dann wohl mehr aus Höflichkeit in ihr Lachen einfiel, lachten auch alle anderen,