Diese bescheuerte Fremdheit in meiner Seele. Mathias Kopetzki

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Название Diese bescheuerte Fremdheit in meiner Seele
Автор произведения Mathias Kopetzki
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783943709919



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räusperte sich Frau Koslowski und sagte: »Naja, so ganz Unrecht hast du ja nicht damit, Markus.«

      Obwohl keiner mehr etwas sagte, klatschte Frau Koslowski in die Hände und rief: »Ruhe jetzt!« – wahrscheinlich, weil sie nicht wusste, was sie denn noch zu diesem Thema erzählen sollte, weder zu Anatolien, Andalusien, den Pampelmusen, noch zu Erdals seltsamem Aussehen, das sie immer wieder verstohlen von der Seite betrachtete.

      Um die Sache abzuschließen, schob sie ihn ein Stück weiter von sich weg, der Klasse zu, und sagte: »Erdal wird sich bestimmt gut bei euch einfügen. Nehmt ihn nett auf. Wenn er Fragen hat, beantwortet sie ihm. Aber er ist ja auch nicht mehr ganz so klein. Immerhin ist er ja schon viel älter als ihr, nicht wahr, Erdal?«

      Sie blinzelte ihm zu.

      »So, dann setz dich jetzt. Neben Mathias ist noch ein Platz frei.«

      Wie Frau Koslowski ausgerechnet darauf kam, Erdal neben mich zu setzen, war mir ein Rätsel. Schließlich gab es viele andere freie Plätze.

      Tatsächlich tat ich mich schwer mit diesem seltsamen Typen an meiner Seite. Ich fühlte mich beengt von ihm und irgendwie bedroht. Er war so groß, so breit, seine Ellbogen legte er stets auf meiner Tischhälfte ab und sein Haarlack stank zu mir herüber. Und dann dieses dämliche Dauergrinsen, das ich sogar wahrnahm, wenn ich ihn nicht ansah. Dieser Junge machte mich eindeutig nervös. Manchmal kippelte ich absichtlich nach hinten, um ihn von der Seite unbeobachtet betrachten zu können. Dann bemerkte ich erst, wie ähnlich er mir war – wenn man von seinem bescheuerten Haarschnitt einmal absah.

      Seine Nasenflügel waren so breit wie meine, er hatte ebenfalls einen Stiernacken und genau wie ich einen kleinen Buckel. Nur seine schwarzen Locken waren nicht so ausgeprägt wie meine, es waren eher Wellen, und ich hätte sie gerne gegen meine störrischen Filzdrähte eingetauscht, die mir jeden Morgen das Kämmen zur Folter machten.

      Die ersten zwei Tage sprach ich überhaupt nicht mit ihm, ich glaube auch nicht, dass jemand anderes aus der Klasse das tat.

      Das lag aber nicht daran, dass sich keiner für ihn interessierte. Im Gegenteil: Wir schienen alle eine gewisse Ehrfurcht vor ihm zu haben. Wir wussten halt nicht, was geschehen würde, wenn wir einfach mal so, aus heiterem Himmel, das Wort an ihn richteten.

      Für uns war er ein bisschen wie der biblische Goliath aus dem Religionsunterricht, so groß, so breit, so alt – jemand, den man aus der Ferne bestaunte, aber dem man besser nicht zu nahe kam.

      Und dann seine ganze Erscheinung: wie aus einer anderen Welt. Genau das stimmte ja auch irgendwie. Zudem wirkte er nicht gerade so, als würde er sich unbedingt mit einem von uns abgeben wollen. Er hing stets gelangweilt über seinem Tisch, den Kopf meist auf seine Handflächen gestützt, und starrte dabei ins Leere.

      Da aber dieses dämliche Grinsen wirklich keine einzige Sekunde lang aus seinem Gesicht wich, fragten wir anderen uns dann doch gegenseitig in der Pause auf dem Schulhof, was in diesem eigenartigen Kerl eigentlich so vorging.

      »Er nimmt uns überhaupt nicht ernst!«, klagte Martin. »Der denkt doch, wir sind alberne Kinder, und das nur, weil er schon fast elf ist!«

      »Ich hab mal gehört, dass die Ausländer im Kopf nicht so ganz dicht sind, jedenfalls nicht so dicht wie wir«, berichtete Klara, unser pausbäckiger Rotschopf, der, ob Sommer oder Winter, immer mit Strickpullovern in die Schule kam. »Und deswegen ist er wahrscheinlich auch sitzen geblieben und musste die Schule wechseln. Habt ihr bemerkt, dass er sich noch kein einziges Mal im Unterricht gemeldet hat?«

      Ein paar nickten, doch keiner sagte etwas. Jeder überlegte angestrengt.

      »Ich glaube, er ist ein Nazi«, sagte ich mitten in die Stille hinein.

      »Ein was?«, fragte Andreas, der mich vor ein paar Tagen wegen der Schuhcreme zurechtgewiesen hatte. Diesmal war nun er es, der sich schwer mit dem Verstehen tat, und ich es, der sich voller Genugtuung ob seiner Unwissenheit an die Stirn schlagen konnte.

      »Ein Nazi, Mensch! Weißt du nicht, was das ist? Das ist einer, der zum Frühstück Menschen verspeist! Habt ihr nicht auf seinem Arm dieses Zeichen bemerkt? Da steht ›SS‹! Ganz groß! Und das ist das geheime Erkennungszeichen der Nazis! Wenn ein anderer Nazi das sieht, dann freut er sich und zeigt ihm dann sein eigenes Zeichen. Und dann sind sie schon zu zweit, und wenn sie irgendwann ganz viele sind, dann fallen sie über uns her und fressen uns!«

      »Du hast sie doch nicht alle!«, urteilte Martin, der Winzling unserer Klasse. Doch merkte ich an seiner gekräuselten Stirn und den leicht geweiteten Pupillen, dass er bei meiner Erzählung ein wenig Furcht bekommen hatte. »Woher willst du das denn alles wissen?«

      Das konnte ich ihm natürlich nicht beantworten. Wie meistens bei mir bestanden meine felsenfest behaupteten und mit voller Inbrunst dargebrachten Informationen aus einer Mischung aus Halbwissen, das ich in Büchern, im Fernsehen oder von Erwachsenengesprächen aufgeschnappt hatte, und meiner manchmal allzu sehr auf Panik getrimmten Fantasie. Aber das durfte ich selbstverständlich nicht zugeben. Lieber schwieg ich und nickte nur wissend, während sich die anderen schon wieder dem Klettergerüst zugewandt hatten, da ihnen das Gespräch mittlerweile zu abstrus geworden war.

      Doch um für die nächste große Pause einen Trumpf im Ärmel zu haben, nahm ich mir vor, Erdal einfach mal auf meine These hin anzusprechen. Vielleicht gab er es ja zu, dass er ein Menschenfresser war. Als wir alle wieder in den Klassenraum zurückgekehrt waren, saß er wie immer gelangweilt auf seinem Platz und kaute die Reste seines Brötchens. Wahrscheinlich hatte er den Raum in der Pause gar nicht verlassen, wie er es eigentlich niemals tat – zumindest sah ich ihn nie auf dem Schulhof.

      Ich ließ mich neben ihn auf meinen Sitz fallen, tat unbeeindruckt, raschelte ein wenig mit meinen Heften herum, doch innerlich kratzte ich all meinen mir möglichen Mut zusammen. Auch auf die Gefahr hin, dass ich gerade mit meinem Leben spielte, wandte ich mich ihm zu.

      »Bist du ein Nazi?«, fragte ich, nachdem ich eine Weile vergeblich darauf gewartet hatte, dass er meinen durchdringenden Blick erwiderte.

      Doch plötzlich drehte er ganz langsam, als könnte er ihn nur unter großer Anstrengung bewegen, seinen Kopf in meine Richtung. So langsam, dass ich nun wirklich Angst bekam, ihm die falsche Frage gestellt zu haben. Und jetzt sofort, auf der Stelle, sozusagen als Strafe dafür, von ihm verspeist werden würde.

      »Häh?«, quiekte er, wobei seine Hasenzähne hervorblinkten. Jetzt ist es soweit, dachte ich. Jetzt frisst er mich! Aber das Dauergrinsen hatte sein Gesicht nicht verlassen. Im Gegenteil. Es war noch breiter geworden. Seine Augen leuchteten in mildem Glanz und der ganze Kerl wirkte nun plötzlich überhaupt nicht mehr so bedrohlich.

      Da er immer noch fragend zu mir herüberschaute, wies ich mit dem Finger auf seinen rechten Unterarm. Sein Blick folgte meinem Finger. Es dauerte ein paar Sekunden, dann prustete er los.

      »Du Idiot!« Er knuffte mir mit der Faust in die Brust. Und das kitzelte eher, als dass es schmerzte. »Das ist doch Kiss!« Damit zog er den Stoff seines Polohemdes nach oben und ich entdeckte zwei ähnlich gezeichnete Buchstaben wie das Doppel-S: »K« und »I«.

      Ich zuckte hilflos mit den Schultern. Kiss?

      Was wollte er mir denn damit sagen? War das eine anatolische Geheimorganisation? So etwas wie die Nazis der Türken?

      Er griff in seinen Tornister und zog eine Zeitschrift heraus, auf der vorn in gelbroten Lettern das Wort »Popcorn« prangte.

      Diese Zeitschrift kannte ich bereits von meinen Brüdern, und für mich war sie eines von den Dingen, die das Reich der Kinder von dem der Jugendlichen trennte. Und von denen waren es auch nur die »Coolen«, die »Popcorn« oder auch »Bravo« lasen und sich so etwas wie »Disco« oder »Musikladen« im Fernsehen anschauten. Aha, dachte ich. Zu denen gehört also auch Erdal!

      Er blätterte eine Weile angestrengt – es war das erste Mal, dass ich ihn so engagiert erlebte – und schließlich hatte er gefunden, was er suchte.

      »Kiss!«,