Diese bescheuerte Fremdheit in meiner Seele. Mathias Kopetzki

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Название Diese bescheuerte Fremdheit in meiner Seele
Автор произведения Mathias Kopetzki
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783943709919



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mich wieder erfasst, ein entsetzlicher Hunger. Er verdrängte den guten Willen, ihrer Erzählung zu folgen, ohne mit so etwas Profanem wie Kuchenessen beschäftigt zu sein.

      Ich schob mir nach den süßen Streuseln auch noch den trockenen Boden Stückchen für Stückchen in die Mundöffnung. Nur schwerlich ließ er sich zerbeißen. Wie Lehm klebte er hartnäckig am Gaumen und an den Milchzähnen.

      Wie meine Mama schon richtig erkannt hatte: Ich verstand tatsächlich wenig von dem, was sie gesagt hatte – sehr, sehr wenig. Von welchen anderen Leuten redete sie denn da? Und wie, bitteschön, sollten diese komischen Leute »dafür gesorgt« haben, dass wir »auf die Welt kamen«? Warum waren sie »nicht gut« für uns? Und schließlich: Wie kamen wir dann überhaupt zu unserer Mama und unserem Papa? Zu Fuß? Mit dem Flugzeug?

      Das einzige, was ich verstand, war, dass, was auch immer mir da mit diesen komischen Leuten passiert sein sollte, meine Brüder etwas Ähnliches mit anderen komischen Leuten erlebt hatten. Axel hatte es erlebt, und vor allen Dingen auch Steffen.

      Ja, auch Steffen kam später zu Mama und Papa! Er gehörte also genauso viel oder genauso wenig zu unserer »Barbie-Familie« wie ich. Und das würde ich ihm tüchtig aufs Brot schmieren, wenn er mir das nächste Mal wieder diese bekloppte Negerpuppe entgegenschleudern sollte.

      Doch ich verstand auch etwas von diesem Gespräch, das mich sehr stolz machte: Nämlich, dass es für das, was sie mir da sagte, wert gewesen war, in eine Konditorei einzukehren – was wir ja sonst niemals taten – und Streuselkuchen zu essen.

      Für immer sollte nun der Geschmack von Streuselkuchen mit dieser ersten, wichtigen Unterredung mit meiner Mutter verbunden bleiben.

      »Darf ich Capri-Sonne?«, wagte ich nach einer nicht enden wollenden Pause zu fragen, in der wir uns schweigend begutachtet hatten, weil wir wohl beide nicht so recht wussten, wie wir diese Unterhaltung denn nun ordentlich zu Ende führen sollten.

      Mama lächelte.

      »Natürlich.«

      Sie stand auf, ging zum Kühlschrank, der neben der Brötchentheke stand, nahm eine bunt bedruckte Kunststoffpackung heraus, bezahlte sie an der Kasse und stellte sie auf meinen Teller.

      Kirsche.

      Ich betrachtete die Packung und verzog das Gesicht. Eigentlich mochte ich Orange viel lieber, aber das traute ich mich dann doch nicht zu äußern. Schließlich wollte ich nicht die Stimmung dieser so heilig anmutenden Erwachsenen-Unterredung kaputtmachen; im Grunde war ich ja ziemlich glücklich, sie mit meiner Mutter führen zu dürfen. Ich war halt schon ein großer Junge.

      Stattdessen fummelte ich den eingeschweißten Strohhalm von der Rückseite der Getränkepackung und rammte ihn mit ein wenig Fingerspitzengefühl in die Kunststoffhülle.

      Dann fiel mir etwas ein.

      »Kommen die Leute, die mich auf die Welt gebracht haben, aus Afrika?«

      Augenblicklich verfinsterte sich das Gesicht meiner Mama und sie lehnte sich erschrocken zurück.

      »Wie kommst du denn darauf?«, fragte sie entsetzt.

      »Na, wegen der Negerpuppe!«, rief ich, strotzend vor Stolz, ihr auch mal etwas erklären zu können, was sie vorher nicht gewusst zu haben schien. »Die Neger kommen doch aus Afrika und da kommt doch auch die Negerpuppe her! Und wenn Steffen sagt, ich sehe aus wie eine Negerpuppe, und Eltern sehen doch meistens so aus wie ihre Kinder, dann müssen meine früheren Eltern doch aus Afrika sein!«

      Ich war zufrieden mit meiner wasserdichten Argumentationskette, doch meine Mama hatte von Wort zu Wort entsetzter gewirkt.

      Ich spürte, dass sie schwer um ihre Fassung rang. Sie holte das Brillenetui aus ihrer Handtasche hervor und wedelte sich Luft zu.

      »Also, erstens«, stellte sie fest, nachdem sie eine Weile wieder mal die richtigen Worte gesucht hatte, »siehst du nicht aus wie ein Neger. Ganz und gar nicht. Die sind viel brauner als du. Das, was Steffen da gesagt und getan hat, war sehr gemein, und das solltest du so schnell wie möglich vergessen. Mag sein, dass deine … diese …« Sie ruderte mit den Händen in der Luft herum, als müsste sie sich die korrekte Formulierung regelrecht herbeiwinken. Dann hatte sie es geschafft. »… also die Menschen, die dafür gesorgt haben, dass du zur Welt kamst«, fuhr sie fort, »und die dir vielleicht auch ein ganz klein wenig ähnlich sehen, aus einem anderen Land kommen als diesem, aber …« Sie machte eine Pause, atmete langsam ein und dann schnaufend wieder aus. »Aber wir wissen es nicht. Damit müssen wir alle leben. Und außerdem …« Jetzt sah sie mir erneut tief in die Augen, »möchte ich nie wieder, dass du diese Menschen deine Eltern nennst. Nie wieder. Hast du mich verstanden? Wir sind deine Eltern. Wir sind Mama und Papa. Da gibt es keine anderen!«

      Ich hatte die Hälfte der Capri-Sonne ausgetrunken, mich eben mit dem ekelhaften Kirschgeschmack so halbwegs arrangiert, als diese Worte meiner Mama in meine Ohren drangen und dort geradezu schepperten. Sie hatten Gewicht, diese Worte, bleiernes Gewicht, das spürte ich. Sie klangen wie die, die ich im Gottesdienst hörte, in den meine Eltern mich seit einigen Wochen immer sonntags mitnahmen.

      Da stand dieser Mann mit der bunten Kutte hinter dem Steintisch und sprach lauter so wichtiges Zeug, das in dem riesigen, hallenden Raum meistens echote und dadurch noch größere Wichtigkeit bekam.

      »Aus einem anderen Land«, »Du siehst ihnen ähnlich«, »Wir wissen nicht, woher. Damit müssen wir leben«, »Aber niemals diese Menschen deine Eltern nennen!«, echote es nun auch in meinem Kopf, und ich fühlte mich ganz plötzlich unendlich müde.

      Meine Mama hatte nie zuvor so mit mir gesprochen. Zwar war sie natürlich streng zu mir, wenn ich meine Spielecke nicht aufräumte, mit meinem Roller zu weit auf die Straße fuhr oder einen meiner Brüder zuweilen »Furzknoten« oder »Kackgesicht« nannte, aber das klang alles anders. Und es sollte auch noch Jahre dauern, bis sie wieder so oder so ähnlich mit mir sprechen würde.

      Doch diese wichtigen, schweren, nachhallenden Worte, die ich ja im Grunde besser verstand, als ich mir eingestehen wollte, schufen Raum in mir, Raum für Gedanken und Gefühle, die sich nach und nach in mir breitmachten. Sie sorgten dafür, dass ich mir immer, wenn ich einem erwachsenen Menschen begegnete, der so schwarze Locken besaß wie ich, so dunkle Augen und eine so dunkle Haut, so dicke Lippen und eine so dicke Nase, vorstellte, er oder sie könnte »dafür gesorgt haben, dass ich auf die Welt gekommen war«.

      Ganz tief in mir drin, in einer verborgenen Ecke meines Wunschdenkens, wartete ich mit einer Mischung aus angsterfülltem Schaudern und nervös gespanntem Kribbeln auf den Moment, in dem zwei dieser dunklen Menschen auf mich zutreten und zu mir sagen würden: »Hallo, Mathias. Wir sind deine richtigen Eltern. Komm mit. Wir gehen nach Hause.«

      »Ein Prinz«, sagte ich und streckte meine Brust heraus. »Er war ein Prinz!«

      Markus stierte mich mit herabhängendem Unterkiefer an. Er zeigte mir einen Vogel, wandte sich von mir ab und warf den Fußball in die Luft, den er bis jetzt in der Hand gehalten hatte, um ihn nun abwechselnd auf beiden Füßen tanzen zu lassen. Dabei zählte er die Ballkontakte – »Drei, vier, fünf, sechs, …« – und tat so, als wäre ich gar nicht mehr da.

      Ich beobachtete ihn, während ich gleichzeitig überlegte, wie ich ihn davon überzeugen könnte, mir doch verdammt nochmal zu glauben.

      »… zehn, elf, zwölf, …«

      Das macht er gut, dachte ich. Er ist ja wirklich ein guter Kicker. Ein Künstler am Ball! Aber er soll bloß nicht denken, dass mir das Respekt einflößt!

      Wir lungerten auf der Fußballwiese herum, die an unsere Grundschule grenzte und die auch mal wieder hätte gemäht werden können. Die langen Halme krochen zuweilen bis zu den nackten Oberschenkeln hinauf und manche ganz böswillige stachen uns sogar in die Waden. Aber das machte uns nichts aus, wir waren eh nur zu zweit, kickten nach Schulschluss ein wenig ziellos vor uns hin, weil wir noch keine Lust hatten, nach Hause zu radeln, und zeigten uns gegenseitig ein paar Dribblings, die wir