Apatheia. Guido Seifert

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Название Apatheia
Автор произведения Guido Seifert
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783957770776



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hätte schneiden können.

      Würde ein Mensch diese Gatling-Kanone abgefeuert haben, der Rückstoß hätte ihn zehn Yard nach hinten geschleudert und ihm den Brustkorb zerquetscht. Ich dagegen fühlte nur ein Zucken in meiner Metallschulter. Mein Hydrauliksystem schwang diese 114 Kilogramm schwere Waffe herum wie ein Mensch einen Tischtennisschläger.

      Zurück in der FOB befreite mich Specialist Jason Mayo vom Wüstenstaub, der es in diesem elenden Land durch jede Ritze schaffte. Ich hatte auch meinen siebten Kampfeinsatz erfolgreich absolviert und das getan, was mir im Camp Shelby beigebracht worden war. Als Jason den Spezialstaubsauger abschaltete, verspürte ich zum ersten Mal den Wunsch nach Verlängerung dieser Prozedur, eine sicherlich irrationale Intention, denn Jason hatte wie immer gründlich gearbeitet. Er ging dazu über, meine Systeme durchzuchecken, überprüfte die Gatling-Kanone und auch meinen rechten Waffenarm, der in ein MG5 und ein Barret M82 auslief. Dann stellte er mir eine Reihe von Fragen, die er dem United States Army AIROCS Manual entnahm. Sie zielten wohl auf das ab, was man Befindlichkeit nennt, und dienten der Überprüfung meiner mentalen Stabilität. Da meine intellektuelle Funktionalität auf der Struktur des menschlichen Neocortex beruhte, hatte ich in gewissen Grenzen auch die ›emotionale Anfälligkeit‹ des Homo sapiens geerbt. Mein IL-Attenuation-Add-on dämpfte jedoch die neuronale Aktivität in den simulierten Brodmann-Arealen 13 und 14, und so konnte ich Jason auch dieses Mal wieder zufriedenstellen.

      Forward Operating Base Nevins, zehn Meilen südwestlich von Miranshah, Nordwaziristan, Pakistan

      Nachdem wir von Special Agent Beekman entlassen worden waren, hatte mich Jason zurück ins Tool Shed gebracht. Manche Menschen fühlten sich unwohl in dunklen Räumen. Ich hatte damit keinerlei Probleme, da ich eine ganze Reihe von Erfahrungen gemacht hatte, die sich zu durchdenken lohnten. Dazu brauchte ich keinen sensorischen Input. Lediglich der Netzzugang fehlte mir ein wenig – ich besaß keine Wi-Fi-Schnittstelle mehr.

      Einem gewöhnlichen Private wäre das CID nach Lage der Dinge wohl nicht auf die Pelle gerückt. Aber ich war eine KI …

      Eine Lichtflut schwappte herein, als Jason die Tür öffnete. Er ließ sich meinem Kamera-Auge gegenüber auf einer Kiste nieder. Ich empfand es als angenehm, sein vertrautes Gesicht zu sehen.

      »Es ist überstanden, Jolly Golly.« Er zündete sich eine Zigarette an, was hier im Tool Shed aufgrund gelagerter Chemikalien gar nicht gestattet war.

      »Lieutenant General Heggen wird dich nicht beim JAG anzeigen. Beekmans Darlegungen haben ihn überzeugt, dass es sich um einen bedauerlichen Fall von Friendly Fire handelt, der nur schwer zu verhindern gewesen wäre.«

      »Dann sind wir tatsächlich aus dem Schneider, Jason.«

      »Ja. Allerdings …«

      »Die Budget-Kürzungen beim Programm Future Combat Systems II«, sprach ich aus, woran Jason mutmaßlich dachte.

      Er nickte. »Die Army wird kurz- und mittelfristig keine weiteren AI-Robotic-Combat-Systeme mehr produzieren können. Und du hast laut Vertrag keinen Anspruch auf die Implementierung in ein robotisches System. Die Army benötigt allerdings KIs in den Bereichen Verwaltung und Strategische Planung … Wäre das eine Option für dich?«

      »Nein«, sagte ich.

      Jason nickte langsam. »Du kennst deinen Dienstvertrag?«

      »Selbstverständlich.« Ich ahnte, welchen Passus Jason im Auge hatte, nämlich jenen, der die Möglichkeit der Dienstzeitverkürzung für den Fall regelte, dass der primäre Einsatzzweck dauerhaft nicht gewährt werden konnte. Es war sogar eine bescheidene Abfindung vorgesehen. Vermutlich ahnte Jason nicht, dass ich meine Entscheidung bereits vor zehn Sekunden gefällt hatte, als er mir mitteilte, dass Lieutenant General Heggen mich nicht vors Judge Advocate General’s Corps bringen werde.

      Anniston Army Depot, Bynum, Alabama, USA. Eine Woche später.

      »Okay. Und jetzt den rechten Arm – aber langsam bitte!«

      Ich hob den mit SynthoFlesh verkleideten Metallarm wesentlich behutsamer über den Kopf und ließ ihn wieder fallen.

      »Sehr gut. Bitte drehen Sie rechte Hand und Unterarm nach beiden Seiten.«

      Ich streckte den Arm vor und tat, wie mir geheißen.

      »Danke. Bitte ballen Sie die rechte Hand zur Faust und spreizen dann die Finger.«

      Ich gehorchte.

      »Wunderbar«, sagte Army-Engineer Hernandez. »Damit hätten wir Ihre mechanische Funktionsfähigkeit erfolgreich überprüft. Die Re-Implantation ist somit abgeschlossen.«

      »Ich danke Ihnen, Sir.«

      Es war für mich sehr ungewohnt, meinen alten Kunstkörper zu steuern. Den linken Arm hatte ich mit solcher Wucht hochgeschleudert, als ob ich immer noch meine 114 Kilogramm schwere M61 in Position zu bringen gehabt hätte. Die elektrischen Feedback-Impulse eines RR-MHR-2034 wurden wesentlich feiner aufgelöst als beim Goliath AIROCS-604, und ich hatte beinahe schon vergessen gehabt, wie es sich anfühlte, den alten Dayun zu bewohnen.

      »Bereit für Transmission?«, fragte mich Hernandez, der soeben die letzten Eintragungen auf seinem Pad vorgenommen hatte.

      »Ja, Sir.«

      Ich erhielt das zwanzigseitige Dokument über meine Wi-Fi-Schnittstelle und las es in drei Sekunden. Im Wesentlichen ging es darum, dass die Re-Implantation meines KI-Kerns zu meiner Zufriedenheit durchgeführt worden war und dass für etwaige spätere Funktionsstörungen die U.S. Army nicht in Regress genommen werden konnte.

      »Wenn Sie bitte signieren würden …«

      Ich übermittelte meine digitale Signatur.

      »Ach …«, sagte Engineer Hernandez mit einem Blick auf sein Handheld. »Sie haben sich noch keinen Individual-Namen zugelegt?«

      Tatsächlich hatte ich mit ›Gol-AIROCS-604-08112061‹ unterzeichnet. Seit der KI-Gleichstellung durch die UN-Charta bestand für jede KI die Personalnamen-Pflicht. Eine Ausnahme bildeten Militär-KIs, sofern sie über eine eindeutige Kennung verfügten.

      »Nein, Sir. Die Notwendigkeit hat sich nicht ergeben.«

      »Jetzt allerdings schon. Sie können die Army-Kennung nicht zu Ihrem Personalnamen erheben.« Wieder tippte er auf sein Pad. »Wie ich sehe, sind Sie in Boston, Massachusetts, hergestellt worden. Im dortigen Registration Office müssen Sie sich mit einem Individualnamen erfassen lassen.«

      »Ich verstehe.«

      »Und?« Er lächelte ein bisschen. »Wie werden Sie sich nennen, so als Zivilist …«

      Ich dachte nach.

      »Goliath Dayun«, sagte ich schließlich.

      Wired Puppy Café, 240 Newbury St., Boston, Massachusetts, USA. Zwei Tage später.

      »… Asshole Intelligence …«

      Sie mochten flüstern, doch ich hörte durchaus, wie die beiden etwa 1,4 Gigasekunden alten Männer am Nebentisch das Kürzel AI expandierten. Der RR-MHR-2034 war rein äußerlich einem Menschen sehr ähnlich, doch immer noch recht leicht als Kunstwesen erkennbar. Struktur und Farbe des SynthoFleshs verrieten mich.

      Ich hob die Tasse unter die Nase und roch am frisch gebrühten Kaffee. Die eingebauten Gas-Sensoren des RR-MHR-2034 waren eigentlich dafür gedacht, Sicherheitsfunktionen wahrnehmen zu können. Doch ich hatte das alte Add-on reaktiviert, das mir Cheng Qinghou damals spendiert hatte, und so bekam ich einen gewissen olfaktorischen Eindruck von Coffea arabica.

      Es war nun amtlich. Es gab einen Veteranen namens Goliath Dayun. Bislang noch ohne festen Wohnsitz. Es gab einen Veteranen, der eine Zukunft zu planen hatte. Wieso hatte ich solche Schwierigkeiten, mir eine persönliche Zukunft vorzustellen? Ich hatte einen Mann getötet, den ich nicht hätte töten dürfen. Es war keine Anklage gegen mich erhoben worden, doch fast wünschte ich, es wäre so weit gekommen. Ich konnte niemand anderen verantwortlich machen. Man war immer nur alleine verantwortlich