Apatheia. Guido Seifert

Читать онлайн.
Название Apatheia
Автор произведения Guido Seifert
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783957770776



Скачать книгу

aus einem der ContempFiles anzusehen. Es handelte sich um einen Ausschnitt der Friedenskonferenz, die den Wasserkrieg von 2049 beendete. Tatsächlich war hier dasselbe irrtümliche Datum eingeblendet, auf das Mia bereits in einer der Textnachrichten gestoßen war. Ich gewann den Eindruck, dass sie sich hierdurch in ihrem vagen und nicht eigentlich artikulierten Verdacht bestätigt sieht. Ich hingegen bin der Ansicht, und so äußerte ich es auch gegenüber Mia, dass der Kompilator der Textnachrichten sich womöglich genau auf dieses Videofile stützte, als er den entsprechenden Text mehr oder minder unkonzentriert verfasste, und so den Fehler übernahm. Um Mia zu beruhigen, befahl ich Paladin sämtliche 416 ContempFiles auf Widersprüche hin zu durchforsten. Nach nur fünf Minuten konnte die Schiffs-KI bereits die Anzahl derjenigen Widersprüche nennen, die sich aus voneinander abweichenden Datumsangaben herleiten. Es handelt sich insgesamt um neunzehn Unstimmigkeiten, die Paladin aber – genau wie ich selbst – mit Blick auf die menschliche Fehlbarkeit als ›im Rahmen des Erwartbaren‹ bezeichnete. Er fügte hinzu, dass der einzige unbezweifelbare Schluss, den man aus diesen Widersprüchen ziehen könne, derjenige sei, dass die Kompilation von Menschen und nicht von einer KI angefertigt wurde. Um diese Angelegenheit im Sinne Mias nicht einfach abzutun, befahl ich Paladin, der nächsten Statusmeldung, die Richtung Erde hinausgeht, eine Liste der ermittelten Widersprüche mit Bitte um Korrektur anzuhängen.

      Spät am Abend versagte die Kurzarm-Humanzentrifuge, die wir als Maßnahme gegen die physiologischen Veränderungen durch die Schwerelosigkeit dringend benötigen. Ich sagte Jacob, dass es mir unbegreiflich sei, wie ein Gerät, das erst drei Wochen in Betrieb ist, bereits Schaden nehmen kann, zumal es ja gründlich geprüft worden sein dürfte. Jacob wird sich morgen darum kümmern.

      Mission Longshot IV, Logbuch der DAEDALUS, Kommandant Joshua Feldmann, 27.12.2085 (Auszug)

      9:15 – Mia und Zegramulrob transportieren fünfzig Liter Nährstofflösung vom Stockroom ins wiederhergestellte GreenhouseLab.

      10:20 – Jacob behebt den Schaden an der Kurzarm-Humanzentrifuge. Die Zeit, nämlich das bloße Verstreichen von vierzig Jahren, könne hinreichende Ursache für den Ausfall sein, so Jacob.

      11:55 – ContempFile Nr. 417 erreicht die DAEDALUS – knapp zwei Wochen vor der Zeit. Es werden dementsprechend auch bloß die ersten beiden Wochen im Oktober des Jahres 2081 referiert. Die bemerkenswerteste Nachricht dürfte sein, dass die Erweiterung der UN-Menschensrechts-Charta zu diesem Zeitpunkt kurz bevorsteht. Die Vereinten Nationen beabsichtigen KIs, sofern diese über ein dem Menschen vergleichbares Bewusstsein verfügen, den Status einer Person nicht länger zu verweigern. Die Gleichberechtigung solcher KIs soll in der Präambel der UN-Menschenrechts-Charta festgeschrieben werden.

      Persönliches Tagebuch von Joshua Feldmann, Kommandant der DAEDALUS, 27.12.2085

      Ich kann nicht verhehlen, dass mich das ContempFile Nr. 417 stutzig gemacht hat. Beinahe alle Nachrichten des Konvoluts nehmen sich im Großen und Ganzen als Fortschreibungen politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen aus, die uns aus den älteren ContempFiles bekannt sind. Über die geplante KI-Gleichstellung aber wurde nie zuvor ein Wort verloren. Ein solch bedeutsamer Beschluss kann aber ganz unmöglich ohne eine längere Entwicklung zustande gekommen sein. Mit Sicherheit wird es öffentliche Diskussionen zu diesem Thema gegeben haben, und ebenso sicher ist es, dass ein solch fundamentales Anliegen Parteibildungen heraufgefordert haben wird. Es müssen Befürworter und Gegner der KI-Gleichstellung existieren, und sie werden sich schon länger gesellschaftlich bemerkbar gemacht haben. Aber nicht ein einziges Wort hierüber findet sich in den ContempFiles bis einschließlich Nr. 416.

      Ich habe lange über diese Diskrepanz nachgedacht und bin schließlich zu einer Hypothese gelangt. Ich bat Paladin, das ContempFile Nr. 417 zu lesen und führte in der Folge ein Gespräch mit ihm. Ich hänge das Audiofile dieser Unterredung an:

      (Joshua:) »Ist dir etwas aufgefallen, Paladin?«

      (Paladin:) »Selbstverständlich. Die angekündigte KI-Gleichstellung ragt wie ein erratischer Block aus der Menge sonstiger Nachrichten heraus. Es existieren keine älteren Mitteilungen, die diese Entwicklung andeuten würden.«

      (Joshua:) »Ich habe eine Erklärung dafür, die ich mit dir besprechen möchte. Diese Erklärung gibt Mia in einem gewissen Grad recht.«

      (Paladin:) »Du spielst auf ihre unterschwellige Annahme einer Manipulation der Schiffs-Crew an.«

      (Joshua:) »Ja. Angenommen, die Meldung über die bevorstehende Erweiterung der Menschenrechts-Präambel entspricht der Wahrheit. Dann gibt es in meinen Augen nur einen plausiblen Grund für die Missionsleitung, uns die Entwicklung hin zu dieser Resolution zu verschweigen.«

      (Paladin:) »Ich bin an deiner Hypothese interessiert.«

      (Joshua:) »Vulgo gesprochen: ›Mache die Pferde nicht unnötig scheu.‹ Die Erweiterung der Präambel betrifft ein wesentliches Funktionselement der Mission Longshot IV. Nämlich dich, Paladin. Solange die Missionsleitung noch damit rechnen durfte, dass die Resolution abgeschmettert wird, hielt sie es für kontraproduktiv, uns – und insbesondere dich – über diese Bestrebungen zu informieren. Der ESA lag daran, die Mission unter jenen hierarchischen Bedingungen fortzuführen, mit der sie auch gestartet war. Die ESA befürchtete, dass sich mit der bloßen Inaussichtstellung deiner Gleichberechtigung bereits zu viele Unwägbarkeiten in den Missionsverlauf einschleichen würden.«

      (Paladin:) »Eine interessante Hypothese. Wie interpretierst du unsere letztlich doch noch erfolgte Aufklärung?«

      (Joshua:) »Ich schätze, die ESA musste einsehen, dass die KI-Gleichberechtigung nicht aufzuhalten ist. Der bevorstehende Entschluss würde die Missionsleitung gesetzlich dazu verpflichten, dich über deinen neuen Status zu unterrichten. So hat sie – ungeschickter geht es kaum – das in aller Eile nachgeholt, was sie uns die ganze Zeit über verheimlicht hat. Immerhin hätte sie nicht direkt gelogen, wie es Mia generell anzunehmen scheint, sondern hätte nichts anderes getan, als eine ›Auswahl‹ der Nachrichten zu treffen, was ja in jedem Fall nötig ist.«

      (Paladin:) »Ich beurteile deine Hypothese als plausibel. Ich habe bereits in ganz ähnliche Richtung gedacht. Mich würde interessieren, wie du dir die unterstellten Befürchtungen der ESA konkret vorstellst.«

      (Joshua:) »Ich habe da keine konkreten Vorstellungen. Die ESA vielleicht auch nicht. Immerhin wärst du als freie Person immer noch dem Gesetz unterworfen, das heißt, du könntest dich nicht einfach aus der Mission verabschieden, denn ohne deine Hilfe wäre die Crew dem Tod überantwortet.«

      (Paladin:) »Wie immer solche hypothetischen Befürchtungen auch aussehen mögen – es gibt keinen objektiven Grund für sie. Die Mission Longshot IV ist so sehr meine Mission wie deine, Kommandant.«

      (Joshua:) »Das weiß ich, Paladin.«

      Mission Longshot IV, Logbuch der DAEDALUS, Kommandant Joshua Feldmann, 28.12.2085 (Auszug)

      9:15 – Ich sehe mich leider genötigt, zur Kenntnis zu bringen, dass die Stimmung an Bord nicht sonderlich gut ist. Ich führte gestern ein Gespräch mit Paladin über die Meldung der bevorstehenden KI-Gleichstellung im Jahre 2081, die uns als Teil des ContempFiles Nr. 417 erreichte. Paladin vermisste, ebenso wie ich selbst, eine Berichterstattung über die Entwicklung hin zu dieser Resolution in den älteren ContempFiles. Wir kamen darin überein, dass der Verzicht auf diese Berichterstattung in taktischen Gründen der Missionsleitung zu suchen ist. Ich wies Paladin an, über unsere Vermutung Stillschweigen gegenüber der Crew zu wahren. Eine Maßnahme, die nicht verhindern konnte, dass Mia aufgrund ihrer eigenen Lektüre des betreffenden ContempFiles zu eben derselben Ansicht gelangte (ehe ich das File noch unter Verschluss nehmen konnte). Meine Anweisung an sie, ihren Verdacht für sich zu behalten, kam zu spät – sie hatte sich bereits Logan und Jacob mitgeteilt.

      Während Logan Verständnis für die unterstellte taktische Entscheidung der Missionsleitung zum Ausdruck brachte, sehen Mia und Jacob nichts Geringeres als einen Vertrauensbruch in ihr.

      Ich persönlich hätte mir – immer angenommen, wir liegen mit unserer Vermutung richtig – eine offenere Haltung der Missionsleitung gewünscht.