Kālī Kaula. Jan Fries

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Название Kālī Kaula
Автор произведения Jan Fries
Жанр Эзотерика
Серия
Издательство Эзотерика
Год выпуска 0
isbn 9783944180649



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ist es genau umgekehrt: hier sind die Götter aktiv tätig, während die Göttinnen als passive Weisheitsgefährtinnen dabei sind. Wenn Śiva also weiblich wird, wird aus ihm Śaivī. Sie sieht ihm ziemlich ähnlich, ist nackt, ascheverschmiert, schlangengeschmückt und hält einen Dreizack, wenn auch möglicherweise in etwas graziöserer Weise. In einem gewissen Sinne ist Śaivī die Śakti von Śiva, also sein Ausdruck als Śakti, aber wir begegnen auch einer Anzahl von Göttinnen wie Durgā, Kālī, Gaurī oder Pārvatī, die als unabhängige Wesenheiten auftreten, als Śivas Śakti. Das hat historische Gründe: die Anhänger verschiedener Kulte und Gegenden wollten ihre Lieblingsgöttin mit einem der wichtigsten Hochgötter vermählen. Wenn also Śiva viele Frauen hat, bedeutet dass nicht, dass er einen Harem unterhält. Wir sollten diese Göttinnen auch nicht einfach als Aspekte von einander oder von einer bestimmten Göttin wegerklären, denn immerhin hat jede ihren eigenen religiösen und ethnischen Hintergrund. Bei solchen Göttinnen ist es nicht der Fall, dass sie Śiva in weiblicher Form darstellen. Erinnern wir uns:

      In den indischen Religionen sind Götter keine klar definierten voneinander getrennten Wesen, sondern neigen dazu, ihre Erscheinung zu verändern und ineinander überzugehen, wenn ihnen (oder ihren Anhängern) danach ist. In der Mythologie sind Fälle von Geschlechtswechsel nicht selten. Im Cidambara Māhātyma gehen die Götter Śiva und Viṣṇu in den Kiefernwald, um die Asketen in Versuchung zu führen. Śiva nimmt die Form eines ungewöhnlich gutaussehenden jungen Bettlers an, während Viṣṇu als seine schöne Frau erscheint. Sie verführen erfolgreich alle jungen Asketen und deren Frauen, scheitern aber an einigen älteren Weisen, die sie mit magischen Waffen zu vernichten versuchen, die aus dem Opferfeuer hervorgehen. Aus den lodernden Flammen erscheinen Tiger, Reh, Axt, Mantra und Zwerg und greifen die Gottheiten an. Śiva unterwirft sie und nimmt sie als seine Attribute an. Dann tanzt er zum ersten Mal den weltzerstörenden, befreienden Tāṇḍava-Tanz.

      Śiva erscheint auch in weiblicher Form. Mookerjee (1988) gibt eine Episode aus den Purāṇas (keine genaue Quellenangabe, sorry) wieder:

      … König Īla kam bei der Jagd zu einem Hain, in dem Śiva Sex mit Pārvatī hatte und die Form einer Frau angenommen hatte, um ihr zu gefallen. Alles in den Wäldern, selbst die Bäume, waren weiblich geworden, und als er sich näherte, wurde König Īla in eine Frau verwandelt. Śiva lachte und sagte ihm, er könne ‘um jeden Segen bitten außer Männlichkeit.’

      Es ist nicht anzunehmen, dass die Erfindung solcher Śaktis lediglich ein philosophisches Mittel war, um eine weibliche Form eines normalerweise männlichen Gottes zu erzeugen. Manche Texte, wie das MNT (5, 56) schließen solche Śaktis in die tägliche Ritualroutine ein. Am Morgen meditiert unser/e Verehrer/in über Brahmī, die eine rötliche Jungfrau ist, gekleidet in ein schwarzes Antilopenfell, geschmückt mit einer kristallenen Mālā (Gebetskette), die eine Schale voll Weihwasser hält und auf einem Schwan reitet. Mittags meditiert der Anhänger über Vaiṣṇavī, die eine goldene Dame in einer Sonnenscheibe ist, die eine Girlande aus wilden Blumen trägt. Sie hat volle Brüste, ihre vier Hände halten Muschelschale, Stab, Diskus und Lotus, und sie reitet einen Garuḍa-Vogel. Die Abendmeditation ist für Śaivī, die als eine alte Frau erscheint, mit weißer Haut und in Weiß gekleidet, freundlich und großzügig; ihre Hände halten Dreizack, Schlinge, Speer und Schädel. Sie reitet auf einem Stier.

      Hier begegnen wir Brahmā, Viṣṇu und Śiva in weiblicher Form. Die Śaktis sind jedoch mehr als nur Kopien der männlichen Götter. Sie entsprechen den drei Tageszeiten und Altersstufen, was mit ihren männlichen Formen nicht viel zu tun hat. Und wir erleben auch das Gegenteil: Manche männlichen Gottheiten wurden nach Göttinnen modelliert. Der schreckliche Mahākāla (Großer Verschlinger, d.h. die Zeit), schwarz, nackt, schlangenumwunden, mit hervorgewölbten Augen und schrecklichen Zähnen, ist nach Mahākālī gestaltet. Er ist Mahākālīs Gatte und offiziell eine Form von Śiva, aber bei näherer Betrachtung ist er ganz klar eine männliche Personifikation der dunklen Göttin selbst.

       Drei Temperamente

      Indoeuropäer sind im Allgemeinen verrückt nach Dreiheiten. „Alle guten Dinge sind drei.“ Wenn irgendetwas in Dreiergruppen geordnet werden konnte, wurde das auch getan. Du findest dieses Faible unter den Kelten und Germanen genauso wie im griechischen Mythos und in der indischen Kosmologie. Eine der am besten bekannten und am wenigsten verstandenen Dreiheiten sind die Guṇas: sie sind eines der Fundamente der Saṁkhya-Lehre und wurden von vielen anderen Philosophien übernommen. Der Guṇa hat mehrere Bedeutungen; drei davon sind: 1. Faden, Seil, Schnur, 2. Qualität oder Eigenschaft, 3. Sorte, Art, Kategorie. Die drei Qualitäten sind eine der grundlegendsten Ideen in der hinduistischen Philosophie. Śakti als Prakṛti (Natur, Materie, Erscheinung) stellt man sich als aus drei Guṇas bestehend vor: Sattva, Rajas und Tamas. Tamas ist am leichtesten zu verstehen: Das Wort bedeutet ‘Dunkelheit’ und ist verwandt mit dem deutschen ‚dämmrig‘ und dem englischen ‘dim’ für Halbdunkel, Zwielicht, Düsternis. Es wird gebraucht zur Beschreibung von Schwere, Trägheit, Stabilität, Routine, Gewohnheitsverhalten und, im Bereich der menschlichen Empfindungen und Verhaltensformen, für Ignoranz, Faulheit, Bequemlichkeit, Eingleisigkeit, Weltlichkeit und Materialismus. Der oder das Rajas bedeutet in der Saṁkhya-Philosophie vor allem Leidenschaft; in der tantrischen Schattensprache kann es auch Menstruation bedeuten. Rajas ist heiß, energisch, aktiv, rastlos und der einzige veränderliche Guṇa. Im Bereich der menschlichen Erfahrung drückt sich Rajas als Entzücken, Begierde, Frustration, Leidenschaft, Gefühlsausbrüche, Besessenheit, Eifersucht, Triebe, Rastlosigkeit, Verwirrung, Hader, Zorn und Traurigkeit aus. Hierbei geht es stets um starke Gefühle, die sich auch immer wieder gegenseitig erzeugen. Wenn starke Begierde frustriert wird, kommt es z. B. zum Zorn. Dabei handelt es sich im Grunde um Babyverhalten: wenn das Baby nicht bekommt, was es will, brüllt es, bis die Mama die Welt wieder gut macht. Und was für’s Baby funktioniert hat, wird oft von Erwachsenen weiter betrieben. Denk daran, wenn Du das nächste Mal meinst, zornig werden zu müssen.

      Sattva, der Saguṇa, wird ‘gut’ im Sinne von ‘Güte’ genannt. Das Wort bedeutet unter anderem Existenz, Realität, Wesen, Geist, Sein, wird aber im Saṁkhya-Denken vor allem als das Prinzip des Guten betrachtet. Das Sattva ist der heikelste der drei Guṇas. Es erscheint als verfeinert, abgehoben, ruhig, friedvoll, ausgeglichen und subtil, schwer zu definieren und nicht immer begreiflich.

      Die drei Qualitäten werden oft mit Farben gleichgesetzt. Tamas ist dunkel, schwarz oder braun, Rajas ist rot und feurig, und Sattva ist von einem blassen, kühlen, mondähnlichen Weiß. Diese Farbcodes sind oft in der hinduistischen Literatur zu finden, wo sie manchmal zu einer tieferen Bedeutung führen und genauso oft Verwirrung erzeugen. Ein Beispiel: Für manche Leute folgt die populäre Trinität der Götter dem Muster von Schöpfer, Bewahrer und Zerstörer. Diese Funktionen erfüllen etliche Gottheiten, und nach dem Glauben vieler lautet die richtige Ordnung: Brahmā für die Schöpfung, Viṣṇu für die Bewahrung und Śiva oder Rudra für die Zerstörung. Dies ist eine populäre Vorstellung, die in Büchern einen guten Eindruck macht, aber wenig mit dem zu tun hat, was die Anhänger dieser Gottheiten glauben. Du hast hoffentlich gleich gemerkt, dass diese Trinität alles andere als ausgeglichen ist: zwei der Teilnehmer sind weltumfassende Hochgötter mit gewaltig vielen Anhängern, während Brahmā, bestenfalls ein Schöpfergott unter vielen, ständig auf die Hilfe der anderen zwei angewiesen ist. Wer die Bhagavad Gītā gelesen hat, weiß dass Viṣṇu nicht nur erhält, sondern auch schafft und alles verschlingt. Für die Anhänger Śivas ist dieser nicht nur für die Zerstörung zuständig, sondern für alle drei Funktionen. Derartige kosmische Götter auf simple und einseitige Funktionen zu reduzieren, ist bestenfalls in den Mythen nützlich, während es bei der direkten Gotteserfahrung einfach nur belastet. Śiva bildet oft ein Paar mit Kālī, die den Uninitiierten auch dunkel und zerstörerisch erscheint, und folglich glauben viele Leute, dass Śiva und Kālī von tamasischer Natur sind. Für die Anhänger dieser Götter sehen die Dinge ganz anders aus. Dunkelheit ist ja schön und gut, aber mit Trägheit, Materialismus und Ignoranz haben die beiden herzlich wenig zu tun. Von Kālīs alles verschlingendem Mund sagt man zum Beispiel, dass er alle drei Qualitäten enthalte: Die Lippen sind dunkel