Название | Kālī Kaula |
---|---|
Автор произведения | Jan Fries |
Жанр | Эзотерика |
Серия | |
Издательство | Эзотерика |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783944180649 |
Śiva und Śakti
Also gut, Du hast bestimmt schon davon gehört. Jeder hat das. Da sind Śiva und Śakti, männlich und weiblich, Penis und Vulva, und die ganze Sache kann als göttliche Sexualität verpackt und verkauft werden. Wir haben dem New Age Tantra so viel Müll zu verdanken. In der wirklichen Welt sind die Dinge wesentlich komplizierter. Sie ergeben auch viel mehr Sinn und sind nicht ganz so sexistisch. Bist Du bereit, Deinen Geist zu öffnen?
Eins der Grundkonzepte, das die Leute für tantrisch halten, ist eine Polarität. Bevor wir zur Polarität kommen, sollten wir am Anfang beginnen. Die meisten indischen Religionen postulieren ja ein ultimatives Brahman, ein undefiniertes, namenloses, allumfassendes, passives Bewusstsein. Da das Brahman überall und nirgends ist, ist es auch alles und nichts. Was Du, ich und jedes andere lebende Wesen als sein Selbst wahrnimmt, ist essentiell Brahman in der Form vom Jīva (Leben; das inkarnierte All-Selbst, d.h. ‘Seele’) plus eine Menge Irrtümer. Diese werden ‘Persönlichkeit’, ‘persönliche Geschichte’, ‘Ego’ oder ‘Identität’ genannt. Um sich über alles bewusst zu sein, muss das Brahman Nichts bzw. formlos sein. Aus Brahman erwächst das göttliche Spiel. Zahlreiche indische Religionen begannen an diesem Punkt und entschieden, dass aus dem reinen Allbewusstsein Brahman oder Parāśakti eine Polarität entsteht. Diese Polarität wird manchmal (nicht immer und sehr vereinfacht) als Śiva und Śakti personifiziert. Schauen wir uns die Beiden zunächst einmal als göttliches Paar an. Und schon beginnen die Dinge kompliziert zu werden! Die Gottheit Śiva ist, wie Du weißt, viel älter als die tantrische Bewegung. Im populären Volksglauben ist er ein Gott der Asketen, Tänzer, Philosophen, Heiligen und Yogīs, der nackt auf Erden wandelt oder nur mit einem Lendenschurz aus Leopardenfell bekleidet, mit weißer Asche beschmiert, das Haar lang und wirr, Schlangen um den Hals tragend, den Mond auf seinem Kopf und einen Dreizack in der Hand. Er ist ein Abbild des Asketen, der die Gesellschaft verließ, um Befreiung zu suchen. Um die Dinge noch komplizierter zu machen, ist sein Zeichen ein Liṅga, üblicherweise eine Phallusdarstellung, die aus Holz geschnitzt oder aus Stein, Lehm oder anderen Materialien angefertigt ist. Dies hat viele westliche Autoren, insbesondere missbilligende, dazu verleitet, ihn als einen Gott der Fruchtbarkeit und sexuellen Maßlosigkeit zu verurteilen. Obwohl in dieser Identifikation ein wenig Wahrheit liegt, solltest Du bedenken, dass das Liṅga mehrere Bedeutungen hat. In den Purāṇas kommt das Liṅga als ein strahlender Pfeiler aus Flammen und schierer Energie vor. Diese Energiesäule hat keinen Anfang und kein Ende, ist an nichts festgemacht und durchquert alle Himmel, Erden und Unterwelten.
Das ursprüngliche Liṅga ist eine Säule aus Vibration ganz ähnlich den zahllosen Lebensbäumen, Weltensäulen und Weltenbergen, die im eurasischen Schamanismus vorkommen. Es ist die Achse der Welt und der Weg, auf dem Schamanen in andere Wirklichkeiten reisen können. Das ursprüngliche Liṅga ist kein Penis. Das Wort Liṅga hat mehrere Bedeutungen: 1. Eigenschaft, 2. Zeichen, Symbol, Emblem, Fahne, 3. Śivas Emblem, 4. Penis; in der Zwielichtsprache kann es auch eine Metapher für die menschliche Wirbelsäule sein oder für die ganze menschliche Form, aufrecht sitzend in Meditation und Yoga. Manche Texte, wie der Kaulajñāna Nirṇaya, beschreiben ein Liṅga im Körper, das mit verschiedenen Blumen geschmückt ist: Ein Bild des energetischen Gegenstücks der Wirbelsäule und der verschiedenen Cakren. Hier wird die Verehrung von äußeren Liṅgas, egal welcher Art, als schweres Missverständnis betrachtet. Andere Systeme erklären, dass man über Liṅgas in Kopf, Brust und Bauch meditieren solle; hier bedeutet das Wort Zeichen oder Eigenschaften. Im Tirumantiram, Vers 1726 (nach D.J. Smith, 1996) finden wir:
Die menschliche Form ist wie das Śiva Liṅga.
Die menschliche Form ist wie Cidambaram (= Bewusstseins-Himmel).
Die menschliche Form ist wie Sadāśiva (= Ewige Glückseligkeit).
Die menschliche Form ist wie der Heilige Tanz.
Nun ist Śiva nicht nur der Gott der volkstümlichen Religion, er ist auch ein Gott mit zahlreichen Gesichtern. Es gibt hunderte von Göttern in Indien, die zu der einen oder anderen Zeit mit Śiva identifiziert wurden. Wenn Du Originaltexte liest (was ich dringend hoffe), wirst Du bemerken, dass der übliche Rahmen eines tantrischen Textes ein Dialog zwischen Śiva und Śakti ist. Das heißt nicht unbedingt, dass diese Namen irgendwo auftauchen. Meist wirst Du feststellen, dass die zwei sich in einem einzigen Text mit Dutzenden von Namen und Titeln anreden.
Die volkstümliche Religion ist oft irreführend, wenn ihr Bildwerk zu simpel ist. Wenn Śivas Bild ein Penis (Liṅga) ist, dann ist das Bild von Śakti eine Vulva (Yoni, Yonī). Hier sollte noch angemerkt werden, dass das Wort ‘Yoni’ normalerweise männlichen Geschlechts ist, und vor allem Ursprung, Schoß, Quelle, Herkunftslinie, Abstammung etc. bezeichnet. Nur in Bezug zu den weiblichen Genitalien ist das Wort von weiblichem Geschlecht. Und es wird im Allgemeinen nur selten als Umschreibung von Vulva und Vagina benutzt; Begriffe wie Gabha, Vivara, Bhaga, Sambhada etc. sind viel gebräuchlicher. Darstellungen von Liṅga und Yoni kommen oft in Tempeln und Schreinen vor, sehr zum Widerwillen der moslemischen Eroberer, christlichen Missionare und indischen Reformatoren, und haben zu der irrigen Idee geführt, dass ihr Kult hauptsächlich aus dem Liebesspiel besteht. Bis zu diesem Tage, und heute vielleicht noch mehr denn je, nehmen die Leute an, dass Tantra eine Form der geheiligten Erotik sei, und dass seine Anhänger sexbesessen seien. Zugegeben, manche von ihnen mögen es sein, aber genauso viele leben in Keuschheit; tatsächlich verlangen die meisten noch lebendigen Schulen des Tantra den Zölibat.
Während Śiva dank seiner höchst spezifischen Ikonografie leicht zu erkennen ist, bleibt Śakti universell. Es gibt nur wenige Darstellungen von Śakti als solcher. Śakti bedeutet Kraft, Macht, Energie (dies schließt im indischen Denken Form und Materie ein) und wird in der populären Ikonografie selten direkt personifiziert. Stattdessen erscheint sie als eine von vielen hunderten von Göttinnen. Abhängig von der Stimmung ihrer Interaktion nehmen Śakti und Śiva verschiedene Formen und Persönlichkeiten an. In der volkstümlichen Religion sind die beiden ein göttliches Paar, dessen Ehe und Liebesspiel das Universum erschafft, erhält und zerstört. Immer wieder und auch gleichzeitig. Dies ist eine sehr simple Idee, da sie menschliche Geschlechter und sexuelle Dynamik impliziert. Sie impliziert auch einen männlichen und einen weiblichen Teilnehmer. Schön und gut für schlichte Geister oder für Leute, die zu ‘Tantra Workshops’gehen, um etwas grundlegende Sexualtherapie zu bekommen. In den subtileren Systemen des Tantra, insbesondere unter den Traditionen von Kaschmir, ist die Polarität von Śakti und Śiva viel stärker verfeinert.
Die tantrischen Lehren sind komplex, wenn es um die Frage von Geschlecht und Göttlichkeit geht. Manche tantrischen Texte erklären, dass Männer Śiva manifestieren, während Frauen Śakti manifestieren. Im einflussreichen Kulārṇava Tantra 8, 103, stellt Śiva fest:
Oh Kuleśvarī! Warum viel reden? In der Mitte eines Cakra (Ritualskreis) werden alle Männer wie Ich und alle Frauen wie Du.
Das mag ein Schritt in die richtige Richtung sein, da es das göttliche Element in allen menschlichen Wesen anerkennt. Jedoch, wie Śmaśāna Kālī einwendet, zu glauben, dass Menschen entsprechend ihrer Geschlechtsteile und sozialen Rolle göttlich seien, ist über alle Maßen dämlich. Es mag die Gefühle vieler schlichter Geister unter den Śāktas verletzen, aber es braucht viel mehr als einfach einen Satz Genitalien, Kleidungsstücke und Verhaltensnormen, um Śakti oder Śiva zu manifestieren. Entsprechend der Geschlechterrollen und Anatomie Śakti oder Śiva sein zu wollen, reicht einfach nicht. Wir hatten Jahrtausende der sexuellen Diskriminierung, ohne dass jemand bedeutend froher oder weiser geworden wäre. Körper können weiblich oder männlich erscheinen, inkarnierte Seelen sind beides und nichts. In den meisten menschlichen Wesen ist Göttlichkeit nur als Potential vorhanden, und der Besitz einer Vagina oder eines Penis ist kaum genug, um Heiligkeit zu beanspruchen. Tatsächlich sind viele Leute umso weniger göttlich, je mehr sie vorgeben, komplett ‘männlich’ oder ‘weiblich’ zu sein. Spiritualität sollte auf Ganzheit und Verständnis abzielen, Sexismus zielt darauf ab, Menschen getrennt und auseinander zu halten. Es kommt kaum darauf an, ob ein gegebenes Geschlecht verdammt