Kālī Kaula. Jan Fries

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Название Kālī Kaula
Автор произведения Jan Fries
Жанр Эзотерика
Серия
Издательство Эзотерика
Год выпуска 0
isbn 9783944180649



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Die Grundidee ist aber weit verbreitet und ausgesprochen relevant: wenn wir das Schöne, Liebliche und Erotische genießen wollen, sollten wir auch dem Schrecklichen, Morbiden und Abstoßenden ohne Hemmungen begegnen können. Tatsächlich liegt, wie schon Baudelaire erkannte, eine ganz eigene Schönheit in Verwesung und Zerfall. Wer diese zu schätzen weiß, hat auch vom eigenen Vergreisen und Tod nicht viel zu fürchten. So entstand eine ganze Reihe von Ritualen und Praktiken, welche die heldenhaften Tantriker von ihrer Todesangst befreien sollten. Manche sind ganz simpel. Am beliebtesten waren Meditationen auf den Verbrennungsplätzen. Hier begegnen wir hinduistischen und buddhistischen Tāntrikas, die es attraktiv fanden, Stätten der Gefahr, des Schreckens, der Furcht, des Ekels und Schmutzes aufzusuchen. Dazu zählen ehemalige Schlachtfelder, Sümpfe, Wegkreuzungen, Wälder und verlassene Gebäude, in denen man mit Geistern rechnen konnte. Wann immer ein Ort einen üblen Ruf hatte, wurde er für heldenhafte Tantriker sofort attraktiv. Im orthodoxen Hinduismus sind Leichen die verunreinigendsten Objekte, die man sich überhaupt vorstellen kann. Ein strenggläubiger Hindu darf keine Leichen berühren, ein Tod in der Familie muss mit zahlreichen Reinigungsriten gut gemacht werden, und Besuche von Verbrennungsstätten erfordern beachtliche Vorreinigungen. Doch Verbrennungsstätten sind nicht nur Orte, an denen Leichen verbrannt werden. Theoretisch mag es ja stilvoll sein, wenn ein Leichnam auf einem Stapel edler Hölzer eingeäschert wird, während die engsten Verwandten dabei Wache halten. Später konnte die Asche dann in den heiligen Ganges geschüttet werden, um mit dem Fluss des Universums eine gute Wiedergeburt oder vielleicht sogar Erlösung zu finden. Doch Indien hat über die Jahrhunderte rapide seinen Wald verloren, weite Gebiete sind heute praktisch Wüste, und Holz ist für viele unerschwinglich. Arme Leute erhielten nicht viel Beistand auf dem Weg ins Jenseits, die Leichen wurden nicht völlig verbrannt, wenn Holz zu teuer war, und an manchen berühmten Verbrennungsstätten sind auch Beerdigungen üblich. Kinsley (1998 : 153) nennt das berühmte Tārāpīṭh in Bengalen, wo über 60 Prozent der Leichen beerdigt werden. Durch das regelmäßige Hinzukommen neuer Leichen werden die älteren umgeschichtet, wodurch es ein Leichtes ist, zu Schädeln und Knochen zu kommen. Verschiedene dort heimische Asketen sammeln Schädel, die sie als Bettelschalen, zur rituellen Dekoration oder für die Errichtung der klassischen Schädelsitze verwenden. Solch ein Sitz kann frisch arrangiert werden, er kann aber auch durch Vergraben von Schädeln im Erdboden einer Hütte oder eines Ritualplatzes hergestellt werden. Traditionell sollen unter dem Sitz der Schädel eines Śūdra, eines Schakals, eines Tigers, einer Schlange und einer Kumārī (junges Mädchen) sein. Diese fünf Schädel formen den Sitz des Adepten, sie bilden einen Brennpunkt der Macht und eine Verbindung zur Anderswelt.

      Ein Schädel wird auch im klassischen Kula-Ritual, wie Abhinavagupta es beschrieb, gebraucht. Dabei sind die drei essentiellen Elemente das ‚Gefäß‘, der ‚heilige Ort‘ und die ‚Lampe‘. Alle drei können auf vielen Ebenen verstanden werden. Manche nutzen hier einen Schädel, eine Schädelschale, oder eine Kokosnussschale, die auf einem roten Tuch aufgestellt wurde. Jayaratha, Kommentar zu 29, 14-16 bemerkt, der Schädel wäre einfach der Kopf, der eigene oder der von jemand anderes. Daher wird gesagt: der Kopf ist bekannt als das Fundament aller Göttinnen. Den eigenen Kopf als heiligen Schädel zu erleben, ist übrigens eine schöne Meditation. Im Arrangement ‚erhebt‘ sich das Tuch vom Boden und der Kopf vom Tuch: das Ergebnis nennt sich der ‚heilige Ort‘. ‚Erheben‘ bedeutet in diesem Kontext auch Erregung in der äusseren Wahrnehmung. In der Umgebung werden Kulalampen aufgestellt, die aus essbarer Paste, Ghī (Butterfett) oder Sesamöl mit roten Dochten gefertigt wurden. Ghī wurde bevorzugt: Die Kühe, die auf Erden wandeln, werden als Göttinnen bezeichnet. Die Lampen symbolisieren menschliches Fleisch und sind das zweite Element der Kulazeremonie. Sie können nach dem Ritual verzehrt werden. Das dritte und wichtigste nennt sich ‚Gefäß‘, symbolisiert die Śakti und enthält das Sakrament, also die sexuellen Flüssigkeiten. Zu diesen drei gehört noch Wein, und zwar reichlich, denn Alkohol ist die äußere Essenz von Śiva, aber dieses Thema besprechen wir später noch. Mehr Details in Dupuche, 2006 : 185-193.

      Zurück zu den Knochen! Dann gibt es noch den Brauch des Leichensitzens, ein weiteres Thema, von dem Du in ‘Tantra Workshops’ niemals hören wirst. Es kommt vor allem in manchen Riten für Kālī, Tārā und Bhairavī und den Mahāvidyās vor. Normalerweise war Leichensitzen Teil einer Grundinitiation, manchmal wurde es in speziellen Zauberritualen praktiziert, um besondere Kräfte zu bekommen oder Befreiung zu erlangen. Manche (bei weitem nicht alle) Tantriker wurden bei Nacht auf einer Leiche initiiert. Traditionell verwendeten tantrische Adepten frische Leichen. Üblicherweise welche von Männern oder Frauen niederer Klassen, die plötzlich verstorben waren, sei es durch Selbstmord, Gift, Schlangenbiss, Unfall, Ertrinken, Mord oder auf dem Schlachtfeld. Von Leichen unmoralischer, berühmter, verhungerter oder kranker Menschen wurde abgeraten. Auch von solchen der oberen Klassen, allein schon deshalb, weil ihre Verwandten sie bei Nacht bewachen ließen. Im Allgemeinen wurde die Leiche auf eine spezielle Art hingelegt, dekoriert, mit einer Gottheit identifiziert und verehrt. Als Dank für die Nutzung des Körpers gewann die Seele des Verstorbenen Segen. An einem bestimmten Punkt des Rituals wurde die Leiche auf den Bauch gedreht. Ein Yantra-Diagramm wurde auf den Rücken gezeichnet, eine Matte darauf gelegt, und der Initiant setzte sich rittlings auf die Leiche. Die Nacht über betet der Initiant die Leiche und die Gottheit (oft Śiva) in ihr an, rezitiert Mantras, übt den Prāṇāyāma und bietet Opfer dar. Und irgendwann bewegt sich die Leiche, gibt seltsame Töne von sich, lässt Gase austreten oder beginnt sogar zu sprechen. Man muss ziemlich abgedreht sein, um diesen Effekt zu erleben. Andere legen ein Brett auf die Leiche und setzen sich darauf. Dann gibt es jene, die die Leiche eines Kindes, Babys oder Fötus vergruben, um sich daraufzusetzen. Solche Rituale, so abscheulich sie erscheinen mögen, waren keine seltenen Perversionen einer spirituellen Tradition. Sie kommen in der frühesten tantrischen Literatur vor und soweit ich weiß, werden sie insgeheim gelegentlich noch immer praktiziert. Denk tief über die Symbolik nach. Die Leiche, ein durch und durch verschmutzendes Objekt, wird zu einem Vehikel, das seinen Reiter aus der akzeptablen gesellschaftlichen Realität und Konditionierung hinaus trägt. Das zerstört alle Klassenbindungen. Ein Hindu, der eine Leiche berührt, verliert seine Klasse und fällt buchstäblich aus der sozialen und göttlichen Ordnung heraus. Außerdem beruht die Freiheit, derer sich der frisch initiierte Adept erfreut, auf der Akzeptanz und Integration des Todes. Während der Ritus der Seele des Verstorbenen karmische Vorteile bringen kann, erinnert er den Initianten sicherlich an seine oder ihre Sterblichkeit. In einem gewissen Sinne ist die Leiche nicht einfach eine Leiche. Es ist Deine eigene Leiche. Wenn Du auf Deinem eigenen toten Körper sitzen kannst, verstehst Du, worum es bei Befreiung überhaupt geht.

      Indem sie solche nekrophilen Riten praktizieren, beziehen zahlreiche Adepten den Tod in ihre Verehrungspraxis ein. Etliche Schulen des tantrischen Buddhismus verwenden Trompeten aus Oberschenkelknochen und Knochenornamente im Ritual. Yogīnīs, hinduistische wie auch buddhistische, trugen häufig Knochenschmuck bei ihren tantrischen Versammlungen, wenn sie die Nacht hindurch gemeinsam Ritual praktizierten, tranken, lachten, sangen und Erleuchtungslieder improvisierten. Knochenschürzen waren begehrte Kraftobjekte, und sehen außerdem recht kleidsam aus (Shaw, 1994 : 81-84, 87-97).

      Schädel kommen vorwiegend in einigen tantrischen Systemen Bengalens vor. Sie wurden oft auf Altären platziert oder daneben begraben, so wie sie auch unter Gebäuden und Schreinen begraben wurden. Das könnte Dich an die Schädelverehrung in den keltischen und germanischen Religionen erinnern. Schädel können Gottheiten oder auch verstorbene Tantriker repräsentieren. Manche Adepten sammelten Schädel, in hellem Rot angemalt, um Kraft zu repräsentieren, in ihren Schreinen als Energiequelle. Andere nahmen Schädel, bzw. die Seelen deren Eigentümer, als Schüler an und lehrten, diese Befreiung zu erlangen. Ein Guru erhält Kraft und Verdienst durch die Befreiung anderer, egal, ob sie lebendig oder tot sind. Für einen lebendigen Bericht über die Verwendung von Schädeln in der Kālī-Verehrung siehe June McDaniel in White, (2000 : 77) und ihre Gesamtpräsentation des Themas Offering Flowers, Feeding Skulls (2004). Das alles könnte nahelegen, dass kompetente Tantriker gute Verbindungen zu den Unberührbaren brauchten, die die Toten sammeln und verbrennen. Leichen zu finden, war nicht besonders schwierig in einem Land, in dem jede neue Seuche für Tote am Straßenrand sorgte. Das Problem bestand darin, sie einzusammeln. Im alten Indien hatten diejenigen, die mit den Toten und Sterbenden umgingen, einen extrem unpopulären Platz in der Gesellschaft.