Kālī Kaula. Jan Fries

Читать онлайн.
Название Kālī Kaula
Автор произведения Jan Fries
Жанр Эзотерика
Серия
Издательство Эзотерика
Год выпуска 0
isbn 9783944180649



Скачать книгу

Kern. Dieser ist der vierte Zustand, das Turīya (Vierter), welches als die Ursache aller Zustände betrachtet wird und diese gleichzeitig vereint und transzendiert. Turīya ist schwer zu definieren, weil jede Definition am Thema vorbeigeht. Es ist nicht einfach ein vierter Zustand, sondern eine mysteriöse Zwischenempfindung, an welcher die drei anderen Zustände durchaus beteiligt sein können. Stell Dir zum Beispiel vor, Du würdest gleichzeitig im Tiefschlaf, im Wachbewusstsein und am Träumen sein, und geh noch ein wenig über diese Empfindung hinaus. Daher wird es üblicherweise nicht als ein voller Zustand gezählt, sondern als ein halber. Dies gibt uns dreieinhalb Zustände, die den dreieinhalb Windungen der Kuṇḍalinī entsprechen. In der Literatur wird Turīya üblicherweise dadurch definiert, dass aufgezählt wird, was nicht ist. Sieh Dir einfach die klassische Beschreibung an, die im Mantra-Kapitel (unter Oṁ) gegeben wird. Es ist nicht einfach, auf etwas zuzugehen, was nicht definierbar ist. Man kann das Turīya nicht tun, erlangen, erreichen oder steuern. So lange es Anstrengung und Absicht gibt, gibt es noch Denken, Tun und Träumen und eine Person, die in diese Dinge involviert ist. Wie ist es mit dem Nichttun? Bedenke, dass der Weg zum Turīya ein innerer Weg ist, eine Rückkehr zur Quelle der drei anderen Zustände. Manche Autoren vergleichen das Turīya mit dem traumlosen Schlaf, in dem es kein Wachen oder Träumen gibt, weder in der äußeren noch in der inneren Welt. Anders als der traumlose Schlaf ist Turīya aber sehr wach. Wir haben jetzt dreieinhalb Zustände. Es gab auch Seher, denen das nicht genug war: sie fügten einen jenseits von Turīya hinzu, der das wirklich Absolute sein sollte. Doch diese Vorstellung hat sich nicht sonderlich durchgesetzt.

      Bild 22

      Lakṣmī-Statue

      Stein, wahrscheinlich Kajuraho.

      Um die drei Zustände zu verstehen, ist es nützlich, ein paar Tage lang Deine Aktivitäten zu beobachten. Wann immer Du Dich gerade an diese Übung erinnerst, überlege, was Du gerade tust. Bist Du jetzt wach? Oder träumst Du? Oder bist Du irgendwo dazwischen? Hier kann es nützlich sein, die Zustände als ‘Welten’ zu betrachten. Die Welt des Wachbewusstseins ist das, was Du mit Deinen Sinnesorganen wahrnehmen kannst (oder eben erschaffst). Es ist, wie andere behaupten, die materielle Welt. Man kann sie sehen, berühren, hören, riechen und schmecken. Sie kann gemessen werden, und sie kann (in einem gewissen Ausmaß) mit anderen geteilt werden. Manche, üblicherweise Leute, die die letzten paar Jahrzehnte in einem Erdloch gelebt haben, halten diese für die objektive Welt und betrachten sie als ‘real’. Andere, die sich die Mühe gemacht haben, ihren Geist mit Quantenphysik, Philosophie und Hirnforschung zu verknoten, erklären, dass sie vielleicht für uns ein wenig objektiv sein könnte; nicht dass wir uns dessen sicher wären, aber vorläufig könnte das reichen. Die materielle Welt ist real für die Instrumente, die sie wahrnehmen und messen können. Oder, im klassisch indischen Denken, wird die materielle Welt durch die Sinnesorgane real gemacht. Die Traumwelt ist anders, da sie viel subjektiver und an Dein Körper/Geist-System angepasst ist. Sofern sie nicht einen materiellen Träger hat, wie ein Gemälde, eine Statue, ein Gedicht, Buch oder einen Film, ist sie sehr schwer zu vermitteln oder mit anderen zu teilen. Ich würde vorschlagen, hier zwei Welten zu unterscheiden, die Welt der Schlafträume und die der Wachträume. Die Traumwelten sind auf ihre eigene Weise real, indem sie Ideen, Emotionen und Inspirationen liefern, die die materielle Welt gestalten. Jeder Gegenstand in Deiner Umgebung, der nicht natürlich entstanden ist, ist eine Manifestation der Traumwelt. Häuser, Straßen, Autos, Bücher waren alle Ideen und Träume, bevor sie in materieller Gestalt manifest wurden. Viele Leute bringen die Realität dieser zwei Welten durcheinander. Tatsächlich überschneiden sie sich. Du kannst einen Baum sehen, fühlen, schmecken, riechen und manchmal hören; dies macht ihn zum Teil der materiellen Welt und des Wachbewusstseins. Du kannst Dir einen Baum vorstellen und ihn mit Deiner Imagination wahrnehmen. Wenn Du das gut machst, wird der Baum Dich beeindrucken, Dich bewegen, eine emotionale Reaktion verursachen; ein Test der Realität einer Imagination besteht darin, dass sie Dich bewegt und Gefühle hervorbringt. Beide Erfahrungen werden zur Erinnerung, der Erinnerung an einen Baum, den Du mit Deinen äußeren und inneren Sinnen erlebt hast. Beide Bäume sind in ihrer eigenen Welt real, beide Bäume sind Repräsentationen. Was bleibt, ist eine Erinnerung an eine Repräsentation Deiner äußeren und inneren Sinne.

      Beide Bäume sind real, aber jeder ist nur in seiner eigenen Welt real. Ein Monster, das sich unter Deinem Bett versteckt, ist nicht real oder messbar mit den äußeren Sinnen (Wachbewusstsein), es ist Teil der Traumwelt. Es ist nicht real in der materiellen Welt, aber es ist sicher real in der Imagination. Versteckte Monster haben schon viele Kinder mitten in der Nacht verängstigt, und jede Idee, die das kann, ist ziemlich real. Das selbe gilt für die Trancen, in die Menschen geraten, wenn sie verliebt sind, Angst haben, paranoid, gierig, verärgert, ambitioniert, traurig, inspiriert usw. sind. Du kannst Liebe nicht in der Wachwelt messen, aber sie ist sicherlich stark genug, um Menschen zu beeinflussen. Du kannst Furcht nicht messen, und doch ist Furcht so stark, dass sie Kriege, gesellschaftliche Verpflichtungen, Hierarchien, Traditionen und geregelte Arbeitszeiten verursacht. Jeder der Zustände enthält eine Menge Realität in sich. Die Realität des Wachbewusstseins ist abwesend, wenn Du schläfst und träumst, sie ist bedeutungslos, wenn Dein Geist Tagträume hat und wenn Du starke innere Gefühle wie Sehnsucht, Liebeskummer oder Überlebensängste erlebst. Die Schlaftraumerfahrung ist äußerst real, wenn Du im Traumland bist; sie verblasst zur Erinnerung, wenn Du am Morgen aufwachst. In Magie, Ritual und Religion neigen die Welten zur Überschneidung. Ein materielles Objekt kann eine starke imaginäre Realität haben, ein Traum kann in die Welt des wachen Erlebens projiziert werden. Wenn sich die Welten überschneiden, erleben wir Transformation. Es ist nur von zwischendrin und außerhalb, d.h. Turīya, möglich, dass die anderen Zustände willentlich veränderbar sind. Wir brauchen manchmal einfach Leerlauf, um von einem in den anderen Gang zu kommen.

       Schädel und Leichen

      Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat ein Haufen von schlecht informierten Möchtegern-Gurus die Idee populär gemacht, dass Tantra einfach spirituelle Erotik sei. Zahllose New-Age-Propheten verkaufen kostspielige ‘Tantra Workshops’, in denen die Leute ein bisschen von der nötigsten sexuellen Grundausbildung bekommen. Was auf diesem Markt als ‘Tantra’ verkauft wird, hat mit dem Original sehr wenig zu tun. Schaumbäder, Kostüme, Make-up, Massage, orientalische Dekoration, ätherische Öle, Kerzen und Räucherstäbchen, Erzeugung einer erotischen Atmosphäre, gemeinsames Atmen, lange Umarmungen, Überwinden von Schüchternheit, Sinnlichkeit, anspruchsvolle Stellungen, Verzögerung der Ejakulation, Reichianische Körpertherapie, bioenergetische Übungen usw. sind gut, wichtig und schön, aber gewiss nicht das, was die Tāntrikas im Sinne hatten. Wenn Du die New-Age-Vision des Tantra als die wirkliche Sache akzeptiert, dann kannst Du in einem Denkmuster landen, das Hedonismus, Sinnlichkeit und Körperkult zum Selbstzweck macht. Ich nehme an, dass jene tantrischen Gurus, die tatsächlich Sex in ihrem Programm hatten, wussten, was passiert, wenn Menschen Erotik als den einzigen Weg zur Glückseligkeit und Befreiung ansehen. Wenn Du den Körper zu sehr verehrst, wirst Du in einer totalen Bindung daran enden. Wenn Du nur das Schöne, das Verführerische, das Wünschenswerte kultivierst, was wirst Du machen, wenn Du und Dein Partner alt werden? Und was wird aus der erotischen Spiritualität, wenn Deine Gelenke nicht mehr wollen, Dein Rücken Probleme macht und die Drüsen einfach nicht mehr so viele Hormone produzieren? Ist Tantra nur für junge, fitte, schöne Menschen gedacht? Nein, das ist eben nicht der Fall. In allen authentischen tantrischen Systemen war erotische Praxis bestenfalls ein Teil des Programms, und bei weitem nicht der wichtigste. Wer in Schönheit schwelgt, muss auch das Gegenteil integrieren.

      Kommen wir zu dem im Westen so stark vernachlässigten Gegengewicht zu Erotik und dem Kult der ewigen Jugend: Willkommen auf dem Leichenverbrennungsplatz! Buddha hatte seine eigenen radikalen Ideen bezüglich Schönheit und Begierde. Um seinen Anhängern bei der Überwindung der Versuchungen des Fleisches zu helfen, empfahl er die Beobachtung von Alter, Tod und Verfall. Spätere Generationen machten ein ganzes System von unterschiedlichen Meditationen daraus. Dieselbe Idee taucht in zahlreichen Tantras auf, insbesondere in der nördlichen Tradition. Bitte beachte, dass die folgenden Praktiken nicht für alle tantrischen