Kālī Kaula. Jan Fries

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Название Kālī Kaula
Автор произведения Jan Fries
Жанр Эзотерика
Серия
Издательство Эзотерика
Год выпуска 0
isbn 9783944180649



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Geschlechterdefinitionen vergisst und beginnst, jedes Wesen als einzigartig anzusehen? Wie würdest Du denken und erleben, wenn Du in deinem nächsten Leben im anderen Geschlecht unterwegs bist? Wie würdest Du Deine Freunde und Bekannte erleben, wenn sie vom anderen Geschlecht wären? Wie viele Leben bist Du schon hetero-, bi- oder homosexuell gewesen? Oder hast Dich, wie eine große Zahl komplett asexueller Menschen, überhaupt nicht für Sex interessiert?

      Denk darüber nach. In einigen Generationen werden sich die biologischen Wissenschaften bis zu einem Niveau entwickelt haben, dass es Dutzende von Geschlechtern in Körper und Geist gibt. Die Menschen der Zukunft werden sich aussuchen, was sie sein wollen. Sie werden auf die Vergangenheit zurückschauen und sich wundern, wie unglaublich primitiv wir waren.

      Glücklicherweise gibt es noch eine tiefere Schicht der Kula- und Kaula-Lehren, die die Beschränkungen der körperlichen und gesellschaftlichen Konditionierung transzendiert. Denn was auch immer ‚normal‘ in Deiner Zeit und Deiner Kultur gerade sein mag, es wird hoffnungslos überbewertet. Oben hast Du gelesen, wie das Kulārṇava Tantra die Geschlechterrollen vergöttlicht. Hier sind Männer zumindest potentiell Śiva und Frauen Śakti. Wenn sie sich Mühe geben. Doch das gute Buch ist eine Zusammenstellung, an der mindestens drei Jahrhunderte lang herumgedoktert wurde. Es ist deshalb kaum überraschend, Widersprüche darin zu finden. Kulārṇava Tantra, nach Rai:

      8, 97. Ob Frau oder Mann, ob Cāṇḍala oder hochgeborene Dvija, es gibt absolut keine Diskriminierung im Cakra (Ritualkreis). Jeder hier wird wie Śiva angesehen.

      9, 41. O Devī! Der Körper selbst ist der Tempel. Der Jīva (Leben, inkarnierte Seele) selbst ist der Gott Sadāśiva (ewige Glückseligkeit). Wirf die welken Blumen der Ignoranz und Verehrung weg in dem Bewusstsein des ‘Er ist ich’ (So’haṁ).

      9, 42. Jīva ist Śiva. Śiva ist Jīva, der Jīva ist nur Śiva. In Fesseln wird er Jīva genannt, von den Fesseln befreit wird er Sadāśiva genannt.

      In dieser Interpretation ist jeder Teilnehmer des Ritualskreises, egal ob männlich oder weiblich, eine Inkarnation von Śiva. Und damit kommen wir zu einer etwas anspruchsvolleren Deutung der Polarität. Erinnerst Du Dich an das Bestreben mancher Śiva-Anhänger, ihren Gott zum formlosen, absoluten Brahman zu erklären?

      Im fortgeschrittenen Kula, Kaula, Krama, Trika Tantra ist Śiva kein männlicher Gott, sondern reines Bewusstsein. Śiva kann als reine, passive Wahrnehmung beschrieben werden, als ein Beobachter und Zeuge, als das formlose Selbst, das sich an dem nie versiegenden Spiel von Bildern, Wesenheiten und Wirklichkeiten erfreut, die die Welt bilden. Als solches erscheint das höchste Bewusstsein buchstäblich als nichts. Abhinavagupta schrieb:

      Jener Gedanke, nämlich ‘nichts ist mein’, durch den die bewusstlosen Geschöpfe unaufhörlich zur Erbärmlichkeit reduziert werden, jener ganze Gedanke ‘nichts ist mein’ bedeutet für mich ‘Ich bin alles’. (PTV, 2002 : 57, nach Singh)

      Bild 18

      Hölzerne Skulptur, Südindien, 19. Jahrhundert.

      Hier identifiziert sich Abhinava mit dem formlosen, undefinierbaren, absolut freien Śiva selbst. Dieser ist pures Allbewusstsein, und um sich Allem bewusst zu sein, muss er ganz einfach selber nichts sein. Vielleicht sollte ich noch anfügen, dass der Begriff ‚nichts‘ im tantrischen hinduistischen und buddhistischen Denken kein absolutes Vakuum, sondern völlige Formlosigkeit bedeutet, das uneingeschränkte Potential, aus dem alle Formen entstehen und in die sie wieder zurückkehren. Wenn Buddhisten zitieren: Form ist Leere und Leere ist Form; noch sind Formen und Leere trennbar, oder Formen anders als Leere (Prajñāpāramitā Sūtra, nach Evans-Wentz), bedeutet dies vor allem, dass die Formen keine Substanz, keine inhärente Realität und keine Dauerhaftigkeit haben. Leere und Nichts sind dabei nicht Abwesenheit, sondern reine Vibration. Doch schauen wir uns an, wie es jetzt weiter geht. Śiva ist also reines, formloses, passives Bewusstsein, und da dieses keine Form, Substanz und Bewegung hat, ist es ewig, unfassbar und unzerstörbar. Daher kann die Selbstessenz, das reine Bewusstsein, auch keinesfalls sterben.

      Śakti dagegen ist Kraft, Macht, Energie, und weil alle Dinge, die existieren, Energie sind, ist Śakti buchstäblich alles. Dieses Alles ist veränderlich, es kommt, verwandelt sich, verschwindet, ruht im Vergessenen und kommt erneut hervor. Śakti ist dadurch ewig und dauerhaft, dass sie sich ständig wandelt. Hier sind wir weit von personifizierten Gottheiten mit menschlichen Formen und Genitalien entfernt.

      Werfen wir einen Blick auf die Begriffe Kula und Akula. Kula bedeutet Familie, Gruppe, Bund, Clan, Menge und gehört zu Śakti. Da Śakti Form und Kraft ist, ist sie auch alle Dinge, und Dinge, wie wir alle wissen, stehen zueinander in Beziehung, erschaffen, erhalten und zerstören einander, kurz gesagt, man kann sich kein einziges Ding ohne Beziehung zu vielen anderen vorstellen. Deshalb ist der Weg des Kula der von der Einheit zum Vielfachen: alles, was existiert, ist eine Śakti, und jede Śakti erschafft mehr Śaktis. Akula bedeutet ‘ohne Familie, Gruppe, Bund, Clan, Menge’ und bezeichnet Śiva. Hier ist Śiva die Wahrnehmung, die frei von Beziehung und Verbindung existiert; sie ermöglicht das Spiel der Realität, ist aber kein Teil davon. In der Meditation ist Kula eine Form von Trance, bei der man im Alles verschwindet, und Akula eine Trance, bei der man sich vor Allem ins Nichts zurückzieht. Beide laufen so ziemlich auf dasselbe hinaus, nur der Weg der Transformation ist unterschiedlich. Wenn sich Kula und Akula vereinen, erlangen wir Kaula. In diesem Modell gibt es keine männlichen und weiblichen Teilnehmer. Jedes Wesen ist formloses Bewusstsein (Śiva) und Form/Energie (Śakti). Die Wahrnehmung ist Śiva; Körper und Welt sind Śakti. Dies bedeutet, dass jedes einzelne Ding, aus dem die weite Welt besteht, Śakti ist. Der Körper jeder Person, jedes Tieres, jeder Pflanze, jedes Mineral, Element, jedes Wesen oder Gottheit ist Śakti. Dies gilt für die männlichen ebenso wie für die weiblichen.

      Die männliche Form, die weibliche Form, jede Form – alle Formen sind zweifellos Ihre höchste Form (Gandharva Tantra).

      Und wenn es um die rituelle Vereinigung geht – wer immer DU bist, bist Du Śiva-Bewusstsein im Śakti-Körper. Das was an Dir reine, namenlose, freie Wahrnehmung ist, ist Śiva. Das, was an Dir Form, Name, Bedeutung hat, ist Śakti. Wenn Du Dich mit Deinem Partner vereinigst, bist Du immer Śiva, egal, ob Du einen männlichen oder weiblichen Körper bewohnst, und egal, welche sexuelle Orientierung Du hast, und Dein Partner, egal welchen Geschlechts, ist immer Śakti. Genauso bist Du Śakti für jedes andere Lebewesen. Auf eine sehr wichtige Art ist Śakti das, was Austin Spare die Alle-Andersheit nannte, während Śiva als Alle-Diesheit bezeichnet werden könnte, wenn er dies wäre, aber das ist er nicht. So geht’s. Mit den Unterschieden zwischen Śiva und Śakti braucht man sich ohnehin nicht verrückt zu machen. Wie die meisten tantrischen Traditionen erklären, sind Śakti und Śiva im Prinzip zwei, aber in Wirklichkeit sind sie eins (oder keins). Es ist unmöglich, den Unterschied auszumachen. Ohne Wahrnehmung kann Form nicht existieren. Ohne Form gibt es nichts wahrzunehmen. Das klingt jetzt nach Theorie, aber Du kannst es später, in tiefer Trance oder hoher Bewusstheit selbst erleben. Daher der berühmte Spruch: Śiva ist Śava (Leichnam) ohne Śakti. Das ist noch nicht alles. Eine andere Interpretation geht darüber hinaus und erklärt, dass beide Bewusstsein sind: Śiva ist formloses Bewusstsein und Śakti Bewusstsein in Form. Eine dritte Interpretation erklärt, dass beide aus der höchsten Śakti (Parāśakti) entstehen, die reines Bewusstsein ist.

       Sex, Geschlecht und Religion

      Im traditionellen indischen Denken scheinen Frauen ein notwendiges Übel zu sein. Dies war nicht immer der Fall. In vedischen Zeiten (ca. 1500-800 v.u.Z), wie W.F. Menski (in Leslie 1992) zeigt, hatten Frauen noch einige Rechte und verdienten ein gewisses Maß an Respekt. Die Veden ehren Frauen für Fruchtbarkeit und vergleichen sie mit den Feldern, die alle ernähren. Das mag nicht viel scheinen, aber es ist besser als in klassischen Zeiten (800 v.u.Z.-200 u.Z.), in denen sie lediglich als Gefäße betrachtet wurden, um Sperma zu empfangen und Söhne hervorzubringen. In der vedischen Epoche wurden Mädchen als heiratsfähig angesehen, wenn sie körperlich