Die Zeit auf alten Uhren. Gerhard Köpf

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Название Die Zeit auf alten Uhren
Автор произведения Gerhard Köpf
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783874682923



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Adele Sandrock (in her later years). Und immer, wenn ich auf meinem alten Damenfahrrad an ihnen vorbeiflitzte und sie hurtig, aber ergebenst grüßte, riefen sie mir zu: „Erst mal Mütze runter, Junge. Und tu nich' so wüüüst!“

      Drei Schwestern – wie geträumt.

      Sie stammten aus jener fernen Zeit, da die „Welt noch voll wunderlicher Tanten war“, stillen und geräuschvollen, wie Siegfried von Vegesack sagt, und sie kamen schon seit vielen Jahren, und es gab niemanden im Blauen Land, der hätte sagen können, seit wann genau nun die Baronessen meinem Heimatdorf ihre Aufwartung machten. Jedenfalls kamen sie, seit ich denken konnte. In dem Jahr aber, von dem ich erzählen will, reisten sie besonders früh an. Mitte März gehörte das Dorf eigentlich noch den Wintergästen, die sich in der Frühjahrssonne ihre Bräune für die Büros in den Großstädten holten, und Mitte März war im Grunde genommen kein geeigneter Zeitpunkt für den Beginn einer Sommerfrische. Eines schönen Tages aber, es war an Josefi, trudelten die Damen wie üblich mit dem Zug ein: wie gewöhnlich mit Sack und Pack, Schrankkoffern und einer halben Armee von sperrigen Regen- und Sonnenschirmen. Die Damen beabsichtigen – wie jedes Jahr – bis zum ersten Schneefall Ende Oktober zu bleiben. Agathas Stimme übertönte den Pfiff der Lokomotive und erfüllte nicht nur das Bahnhofsgelände, sondern nahezu den ganzen Ort. Die Landärztin pflegte, sobald sie diese durchdringende Stimme nur von Ferne rufen hörte, Ovid zu zitieren und zu seufzen: „Selig sind die Zikaden, denn ihre Weiber sind stumm.“

      Jedermann wunderte sich über das frühe Eintreffen der treuen Sommerfrischlerinnen, und in Windeseile verbreitete sich die Nachricht von Haus zu Haus. So schrullig die Damen Vogelsang auch wirkten und so sehr sich die Einheimischen hinter ihrem Rücken über sie lustig machten, so sehr waren sie doch andererseits wegen ihres großstädtisch vornehmen Auftretens und ihrer großzügigen Trinkgelder bei den Gastwirten, den Gemüsefrauen und Schneiderinnen im Ort geschätzt und sogar beliebt. Sie waren die Garanten für die feinere Welt des Adels und der Noblesse, denn sie unterschieden sich grundsätzlich von den üblichen Kurgästen: zum einen wegen ihres exaltierten Auftretens, zum anderen wegen ihrer Kleidung. Die Damen Vogelsang liebten es, mehrere Schichten Röcke, Pullover, Überwürfe oder Jacken übereinander zu tragen und diese, sobald sie in der Sonne saßen, Schicht um Schicht abzulegen. Es schien ihnen gänzlich gleichgültig, im seltsam rosafarbenen Unterrock und mit herunter gerollten Wollstrümpfen beim Sonnenbad erwischt zu werden. Manchmal verabredeten wir uns, um bei Sonnenaufgang die drei Sommerfrischlerinnen barfuß im Ringelreihen, mit grotesken Bewegungen in flatternden Nachthemden und gelöstem Haar über die Wiesen tanzen zu sehen. Die Hässlichkeit der zaunlattendürren Frauenkörper wurde nur noch von den bizarren Bewegungen übertroffen. Natürlich konnten die Damen nicht tanzen, sondern sie zappelten, hüpften und jauchzten, um ihrer schöpferischen Phantasie freien Lauf zu lassen. Die schrillen Misstöne bewiesen, über welch reichhaltiges Repertoire an schräg angestauten Energien diese drei Vogelscheuchen verfügten, die allmorgendlich bei ihrer seltsamen Gymnastik im Begriff waren, die Gesetze von Harmonie und Ästhetik vollständig neu und nach ihrem Willen und ihrer ureigenen Vorstellung zu definieren. Damit verkörperten sie alles, was den Bewohnern des Blauen Landes hexenhaft fremd und geradezu furchteinflößend war, doch beabsichtigten sie damit keinesfalls, die Leute vor den Kopf zu stoßen, weswegen man sie auch – gelegentlich kopfschüttelnd – gewähren ließ. Schließlich wurden auch die morgendlichen Tänze zur Gewohnheit, und zuletzt kümmerte sich keine Seele mehr darum. Von meiner Tante Mirtel erfuhr ich, dass die Damen Vogelsang ihren exzentrischen Tanzpantomimen Namen gaben, die schwer zu deuten waren: „Vom Auto überfahrener Mann“, „Wasserleiche“ oder „Frühlingsopfer.“ Der bisweilen scheinbar gänzlich unmotivierte ruckartige Wechsel zwischen Verrenkung und Innehalten, Bewegungslosigkeit und wildem Zucken etwa mit dem Titel „Tote Grille“ oder wildem Geflatter und Wehen mit den Nachthemden unter dem Motto „Die Schwalben erwachen“ ließ uns Knaben, die wir hinter Büschen lauerten, angesichts der ekstatischen und leicht bekleideten Turnerinnen die Mäuler offenstehen.

      Unternahmen die Damen Vogelsang eine Wanderung, so schleppten sie nicht nur gewaltige Rucksäcke und Unmengen von Proviant wie Haferflocken und Zwieback mit sich, als gelte es, wochenlang im Gebirge zu überwintern, sondern jede der drei Schwestern stützte sich auch auf einen mächtigen Haselnuss-Stock, der ihnen als „Gebirgsstange“ geläufig war. Das genagelte Schuhwerk hätte zweifellos auch eine Durchquerung der Wüste Gobi überstanden.

      Die Damen Vogelsang reisten von weither. Sie kamen von Irgendwo aus dem hohen Norden, wobei sie allergrößten Wert darauf legten, nicht aus jener Stadt zu stammen, in der sie augenblicklich „zu leben gezwungen“ seien, wie sie opernhaft anmerkten. In Wirklichkeit, so betonten sie gebetsmühlenartig, stammten sie aus dem Baltikum. Darunter konnte sich zwar in meinem Heimatdorf niemand etwas vorstellen, doch man war sich einig darin, dass dieses Baltikum sehr weit weg sein müsse, wofür allein schon die seltsame Aussprache bürge, die man dort der deutschen Sprache angedeihen lasse. Jemand will vom Apotheker gehört haben, das Baltikum, auch genannt „Die kalte Heimat“, grenze an Russland, ja es sei gewissermaßen ein Teil Russlands, und zwar des Zarenreiches, das es heute gar nicht mehr gebe. Die anderen beiden Stichworte, die als ungefähre geographische Koordinaten herhalten mussten, lauteten „Ostsee“ und „Kurische Nehrung.“ Und diese hätten für einen aus dem Blauen Land auch auf dem Mond liegen können.

      Das Auftreten der Damen Vogelsang durchlitt meine Tante mit dem ihr eigenen Anstand, aber sie wirkte dabei wie eine Mater Dolorosa, und sie zog ein Gesicht, als trage sie nun den ganzen langen Sommer über eine Dornenkrone auf ihrem Haupt. Sobald die Damen in ihrer Sprechstunde aufkreuzten, und es war jedes Mal ein bühnenreifer Auftritt, verbreiteten sie eine operettenhafte Feierlichkeit, als handle es sich um eine exquisite Gesellschaft schnatternder Ladies aus dem diplomatischen Corps, die mit nichts anderem beschäftigt schienen als dem neuesten Klatsch vom Wiener Kongress.

      Dieser Hang zum Repräsentativen verwandelte jeden, der auch nur in die Nähe dieser Sommerfrischlerinnen trat. Selbst ich bewegte mich, als bekleide ich das Amt eines Pagen an einem kaiserlichen Hof, und es hat nicht wenig gefehlt, und ich hätte meine Tante mit Exzellenz angesprochen. Sie jedoch war vollauf damit beschäftigt, hinter ihrer wohlerzogenen Form der Höflichkeit ihren sanften Spott zu verbergen. Nur gelegentlich konnte man mit feinem Ohr einen unterirdisch rollenden und grollenden Zorn aus ihren Komplimenten heraushören. Die Damen Vogelsang freilich sprachen von ihr, die sie die „Madam Kurärztin“ nannten, stets respektvoll als von einer Frau, der man die Noblesse bereits an der tadellosen Bügelfalte ihres weißen Kittels ansehe. Und obgleich die Damen Vogelsang durchaus für die Erkenntnis standen, dass Misserfolg die Menschen einsam macht, brachten sie es doch mit ihren theatralisch verwirbelten Auftritten jedes Jahr fertigt, das Dorf in dem Blauen Land in ein Seebad mit dem Flair von Ostende und dem Zuschnitt von Deauville zu verwandeln.

      Ihre letzte, wahrhaft große Szene hatten die Damen Vogelsang, als mit mächtigem Pomp, vielen Kreuzen und noch mehr Fahnen der Geistliche Rat Köberle zu Grabe getragen wurde. Er starb in jenem Sommer einen ihm durchaus angemessenen Tod, ganz im Gegenteil zu dem Bergführer Rindfleisch, der zwar die steilsten und gefährlichsten Gipfel der Heimat erklommen hatte, in einer Winternacht aber, als er gut abgefüllt aus dem „Adler“ gewankt und ihn inmitten der prächtigen weißen Winterlandschaft mit ihrer meterhohen Schneedecke ein Bedürfnis angekommen war, dem er auf der Stelle nachgab. Zu seinem Unglück freilich war ihm die Natur justament mitten auf dem verschneiten Bahngleis gekommen, und da der Schnee bekanntlich nicht nur alles zudeckt, sondern auch jedes noch so kleine Geräusch schluckt, hatte der in archaischer Hocke befindliche Rindfleisch, der Gipfelstürmer mit herabgelassener Hose, vermutlich aus wetterfestem Trenkercord, den letzten Schienenbus aus Tirol nicht kommen gehört, und auch der Lokführer hatte, seiner späteren Aussage zufolge, bei dichtem Schneefall die zusammengekauerte, yetihaft schneeumwehte Gestalt zu spät erkannt und nicht mehr rechtzeitig bremsen können. Meine eilends herbeigerufene Tante konnte nur noch beim Zusammensuchen der weithin verstreuten Rindfleischreste helfen, wohingegen sie beim Geistlichen Rat Köberle, zu dem sie von dessen Zölibatesse gerufen worden war, durchaus noch ihre ärztliche Kunst anwenden musste, denn der geweihte Herr war, nachdem er mit eben jenem letzten Zug aus dem Tirol gekommen war, der schon dem Bergführer Rindfleisch zum Verhängnis geworden war, und unter Absingen seines Dreigesangs von „Die Wacht am Rhein“, „Meerstern, ich dich grüße“ und „Völker