Die Zeit auf alten Uhren. Gerhard Köpf

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Название Die Zeit auf alten Uhren
Автор произведения Gerhard Köpf
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783874682923



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folgte.

      Madame Schaumlöffl nahm die junge Mutter und deren Leibesfrucht, einen prachtvollen glutäugigen Jungen mit südländischem Einschlag, unter ihre großmütterlichen Fittiche, fühlte sich endlich am Ziel ihrer fraulichen Wünsche, denn sie hatte nun Kind und Kindeskind, die Nachfolge der Zuckerbäckerei war gesichert, das vormals naive Vögelchen entwickelte sich zur tüchtigen Geschäftsfrau, blieb solide und schickte ihren Sprössling mit Omas finanzkräftiger Unterstützung bald auf ein teures Internat irgendwo am Genfer See.

      Lavarone wurde verurteilt, nahm das Urteil unter Heulen und Zähneknirschen an, verzichtete auf Revision, erhielt jedoch nie Besuch im Gefängnis, wo er sich bald die einflussreiche Position eines Kalfaktors erquasselte. Nachdem er seine Strafe abgesessen hatte, verließ er um etliche Jahre und einige Erfahrungen reicher das Blaue Land just mit jenem Musterkoffer in der Hand, mit dem er einst eingezogen war. Man hat nie mehr etwas von dem Mann mit der flinken Zunge gehört, denn die Zeit der Hausierer in Sachen Damenunterwäsche war abgelaufen.

      Furi

      Furi heißt man nicht, Furi war nur der Spitzname. Der richtige Name von Furi war Siegfried: wie zum Hohn, denn er war alles andere als ein blonder germanischer Held und Nibelunge. Er war ein zaunlattendürres Büblein mit einem blassen Gesicht, das wie aus Knetmasse schien und aus dem ungewöhnlich brennende Augen leuchteten, die in merkwürdigem Kontrast zu einem abscheulich fuchsroten Haarschopf standen, der in diversen Wirbeln aus einem offensichtlich zu klein gebliebenen Schädel spross. Mit seinen Eltern wohnte er über der Freibank, wo es nach Schweineblut roch und nach frisch Geschlachtetem. Man hätte meinen können, Furis Vater sei der bei der Gemeinde angestellte Metzger gewesen, dem eine Dienstwohnung unmittelbar über seinem Arbeitsplatz zustand, doch dieser Mann war mit nur einem Arm aus dem Krieg heimgekehrt und übte jetzt einen der am tiefsten verachteten Berufe aus. Er war Fremdenführer. Ein einarmiger Fremdenführer, der den Kurgästen im stets ein wenig feuchtfröhlich klingenden rheinländischen Singsang die erbärmlichen Sehenswürdigkeiten des Ortes, worunter eine Burgruine sowie eine zerfallende Hammerschmiede zählten, und den kürzesten Weg zwischen den Gasthöfen zeigte. Das kam in Rang und Ansehen gleich hinter Zigeuner, Scherenschleifer, Kesselflicker und Abdecker. Und die Wohnung über der Freibank gehörte bei der Gemeindeverwaltung zur Abteilung Armenhaus.

      Seinen Spitznamen verdankte Furi nicht etwa jenem schwarzen Pferd, das seinerzeit erstmals in die deutschen Wohnzimmer galoppierte, in denen bereits ein Köter namens Lassie neben dem ewig schwadronierenden Luis Trenker und seinem Geschwafel vom Herrgott und der Steilwand Raum gegriffen hatte. Nein, der schmächtige Siegfried, den die stolzen und reichen Bauernsöhne des Ortes einen Magermilchkrüppel nannten, hieß Furi, weil sein Familienname Fuhrmann lautete. Ein Fuhrmann aber konnte nur ein Bauer mit einem eigenen Gaul sein, und davon war der einarmige Fremdenführer unerreichbar weit entfernt. So wurde aus dem Fuhrmann eben bloß ein Furi, dessen gleichfalls magere und stets kränkliche Mutter in den Wirtshäusern spülte und die Latrinen reinigte.

      Es war damals üblich, alles, was nicht aus dem Dorf stammte, klein zu machen, aber auf die Idee, den Siegfried beispielsweise auf einen Siggi zu stutzen, ist keiner gekommen. Diejenigen, die man verachtete, die nannte man beim Familiennamen. Die christlichen Vornamen blieben den Besitzern der Felder, der Wälder und der Fremdenpensionen vorbehalten. Wer etwas besaß, der hatte auch einen Vornamen. Etwas zu besitzen war eben die Voraussetzung dafür. Ohne Besitz blieb man namenlos, und statt des verballhornten Familiennamens hätte es auch die Hausnummer getan, aber die Freibank hatte keine Hausnummer, denn sie war ja nichts weiter als eine gemeindeeigene Einrichtung zum Verkauf von minderwertigem, deshalb im Preis erheblich herabgesetztem Fleisch, das sich Notschlachtungen verdankte. Der Fleischbeschauer, meist der Bezirksveterinär, hat es in der Regel nur als „bedingt tauglich“ eingestuft, und was nicht über die Ladentheke ging, wurde zu Hundefutter verarbeitet. Gekauft wurde das billige Freibankfleisch von den kleinen alten Leuten mit den schmalen Kriegs- und Versehrtenrenten, Armenhäuslern mithin, die dafür auch noch Schlange stehen mussten, damit auch jeder sie begaffen konnte.

      Furis Vater hat die Sommerfrischler freilich nie in die Gegend geführt, in der er gewohnt hat. Er schwärmte lieber von der Majestät der Alpen und hatte durchaus ein Auge für eine weibliche Frohnatur in seiner Kundschaft. Und eine war garantiert immer dabei. Furi war arglos und folgsam, seine Schrift war sorgfältig aus Angst davor, etwas falsch zu machen, freilich tat er sich ein wenig schwer mit dem Rechnen, schrieb dafür aber mit geschmeidigen Worten phantasievolle Aufsätze und erzählte darin von Höhlen, in denen sich Truhen mit Golddukaten stapelten, er schwärmte von fernen Juweleninseln, von Sklavenkarawanen, Halbblutindianern, von Trapper Geierschnabel, der Pyramide des Sonnengotts, von Satan und Ischariot und von allem, was er in seiner kindlichen Vorstellungskraft miteinander verknüpfen konnte. Furi las nämlich viel, ja, er las fast pausenlos, und zwar mit Vorliebe das, was der Pfarrer im Religionsunterricht als Schundliteratur bezeichnet hatte. Doch Furi blieb mit seinen zwölf oder dreizehn Jahren davon seltsam unbeeindruckt und hielt sich an den dickleibigen, eng bedruckten Schmökern fest, die er unter der Bank versteckte oder im Schulranzen mit sich herumtrug und deren Titel er schneller herschnurren konnte als das Confiteor in der Messe: „Confiteor Deo omnipotenti et vobis, fratres, quia peccavi nimis cogitatione, verbo, opere et omissione …“ Was da auf den Buchdeckeln stand, klang allemal weitaus geheimnisvoller: „Durch die Wüste“, „Durchs wilde Kurdistan“, „Von Bagdad nach Stambul“, „In den Schluchten des Balkan“, „Durch das Land der Skipetaren“ … Mit diesen magischen Worten schien Furi imstande, die Erdachse zu verschieben. Aber woher kamen die Bücher? Es lag doch auf der Hand, dass sich eine Spülerin oder ein einarmiger Fremdenführer keine Bücher leisten konnten, und seien es noch so windig gebundene Exemplare. Woher stammten sie also? Hatte Furi sie geklaut? Aber wo? Wer in aller Welt hätte im Blauen Land solche Schwarten besitzen sollen, die vom Tal des Todes erzählten, von Derwischen, dem Löwen der Blutrache, dem Sand des Verderbens oder vom Rio de la Plata? Was war das überhaupt: Rio de la Plata?

      Furi trug eine Brille, natürlich mit Kassengestell und wurde deshalb gelegentlich auch Brillenschlange gerufen. Wenn er las, schienen die dicken Gläser anzulaufen, und man hätte glauben können, das schmächtige Bürschlein entziffere die Buchstaben wie durch einen Nebel, aber das Beschlagen der Brille rührte vom Eifer der Lektüre, welcher die Knabenstirn über Gebühr erhitzte. Ansehen erwarb sich Furi nicht mit seiner Leidenschaft – im Gegenteil. Wenn einer sportlich eine Flasche war und weder für die Elite, die Fußballmannschaft gewählt noch aufgestellt werden konnte, dann taugte er nur noch dazu, gehänselt zu werden. Wozu wäre so ein Magermilchkrüppel auch sonst gut gewesen? Dürr, rothaarig, Brillenschlange: das genügte. Und dann auch noch diese Bücher. Also machten sich die Bauernsöhne einen Spaß daraus, Furi nach der Schule tüchtig zu verprügeln. Die Lust, den Schwachen zu peinigen, entwickelte sich zur neuen Sportart. Nur die Champions blieben dieselben, die auch den Fußball dominierten. Schon während der großen Pause hatten sie Furi aus nichtigem Grund angerempelt und ihm befohlen, sein Butterbrot in den Dreck zu werfen. Weil er sich standhaft geweigert hatte, war einem von den Größeren einfach die Hand ausgerutscht und derart heftig klatschend in Furis Gesicht gelandet, dass seine Stulle ganz ohne sein Zutun auf den Schulhof flog. Der Lehrer war dazu gestoßen, hatte Furi sogleich an den Ohren gezogen und ihm die Leviten gelesen: er solle sich schämen, derart verächtlich mit Brot umzugehen. Kinder in Afrika würden dankbar sein … Furi war gar nicht dazu gekommen, den wahren Hergang zu erklären, denn der Lehrer glaubte ihm ohnehin kein Wort. Wer blass und rothaarig war, von der Freibank kam, wer einen einarmigen Fremdenführer als Vater hatte und als Mutter eine, die Latrinen säuberte, wer sich überdies noch anmaßte, Bücher zu lesen, dem konnte man nicht glauben. Der log, sobald er sein Maul auftat. So kam es, dass Furi außer seinen Büchern keine Freunde hatte. Die Mitschüler verspotteten ihn, sie schalten ihn einen Lügner, wenn er von der Sklavenkarawane erzählte oder vom Sand des Verderbens, wenn er die Derwische tanzen ließ oder die Pyramide des Sonnengotts bestieg. Und wer lügt, dem war alles Schlechte zuzutrauen. Der Pfarrer hatte sie mit diesen Worten gewarnt: „Wer lügt, der stiehlt und kommt in d'Höll und wird des Teufels G'sell.“ Daraus folgte: Furi musste seine Bücher gestohlen haben. Aber er schwieg zu den Vorwürfen, und es gelang auch nicht, ein Geständnis aus ihm herauszuprügeln.

      Viele Butterbrote landeten noch im Dreck, und auch die Bücher nahmen