Die Zeit auf alten Uhren. Gerhard Köpf

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Название Die Zeit auf alten Uhren
Автор произведения Gerhard Köpf
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783874682923



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sie in die Gesichter zerfetzter Greise, gemarterter Kinder und geschändeter Mädchen und Frauen geblickt habe. Ihr könne man nichts mehr vormachen, sie habe alles gesehen und noch mehr, meine Eltern seien – und hier durchfuhr es mich eisig lähmend – scheintot begraben worden, scheintot, scheintot, erst im Sarg seien sie wirklich erstickt, erst im Sarg, unter der Erde, die man auf sie geworfen habe. Jawohl, sie seien nicht verschollen geblieben, man habe sie schon nach einer halben Stunde nach Niedergehen der Lawine ausgegraben, auf Hörnerschlitten ins Tal gebracht und scheintot begraben. Scheintot. Sie hätten noch geatmet, noch gelebt, als der Pfarrer über ihnen das Kreuz gemacht habe zum Zeichen des Eintritts in alle Ewigkeit, Amen. Hierin kenne sie sich aus, denn das Buch, und Anna Koliks gichtige Finger mit den schmutzigen, entzündeten Nägeln klopften auf den schweren Band, welches in schützendes Papier, das sie vom Metzger habe, gehüllt sei, aus gutem Grund überdies, sei die Geschichte des Scheintodes, verfasst von einem spanischen Privatgelehrten, von dem sie einst im Osten, sie wisse nicht mehr, ob es in Dorpat, Riga oder Reval gewesen sei, vierzehn Tage lang jeden Abend einen Vortrag gehört habe: Auszüge aus seinen Forschungen, wie er sie später in jenem bestürzenden Werk niedergelegt habe. Wieder stopfte sie ein Stück von dem abscheulichen Kuchen in ihren Mund, lüftete hierzu blitzschnell das schwarze Tuch, um sofort die halbbehandschuhten Finger darunter verschwinden zu lassen. Erneut gelang es mir nicht, einen Scherben der Hässlichkeit, einen Beweis der Verunstaltung damals auf der Kurischen Nehrung zu erheischen. Noch einmal wagte ich zaghaft, nach einigem Räuspern jedoch mutiger werdend, einen Versuch, um Verzeihung wegen der zerschossenen Fensterscheibe zu bitten, doch energisch wischte sie meinen Versuch diesmal mit dem Stock beiseite, eine Steigerung also des Signals, dass sie keinerlei Unterbrechung noch irgendeinen Widerspruch dulde.

      Anna Koliks Finger griffen knorpelig und verwachsen zu dem Buch. Die Geschichte des Scheintodes. Cronica de la Muerte aparente. Von Don Jaime Bonfante, aus dem verzweigten Geschlecht spaniolischer Devotionalienhändler. Der erste Mann ihres Lebens sei ebenfalls Spanier gewesen. So sei es: Dummheit und Ignoranz verwechselten den Todesschlaf der Jungfrau Maria vor ihrer Himmelfahrt mit einem Scheintod, wie er das Mädchen befallen habe, welches, unterwegs im Wald, Wegelagerer zu vergewaltigen versucht hätten, hob Anna Kolik sich rechtfertigend an, obwohl ihr niemand widersprochen hätte bei solch herrischer Stimme.

      Als ich mich einmischen wollte, um zu zeigen, dass ich in der Schule aufgepasst hatte, wehrte sie ab: Barbarossas bartwuchsfördernder Schlaf im Kyffhäuser oder Dornröschen seien ungeeignete Lesebuchbeispiele. Der von ihr hochgeschätzte spaniolische Wissenschaftler, ein Kopf vom Kaliber Lenins, dessen historisches, achthundertzweiundzwanzig Seiten zählendes Lebenswerk ein Quell seltener Erkenntnis sei, arbeite reichhaltige Spezialliteratur zu den aus Gräbern und Grüften vernommenen Schreien sowie fressenden Leichnamen auf, um schließlich schlüssig zu beweisen, dass sämtliche pompösen, aber auch bürgerlich hilflosen Grablegungsriten letztlich nichts als Vorsichtsmaßnahmen gewesen seien, um vorschnelle Beerdigungen zu verhindern: Drei Tage gebe man dem dreimal laut Angerufenen Frist. Selbst Tolstoi habe man, nach Art der Päpste auf dem Sterbebett, als er auf einer gottverlassenen Bahnstation mit dem Tod gerungen, noch einmal dreimal beim Vornamen gerufen. Niemals habe man einem lärmend ausgeschmückten Leichnam das Gesicht verhüllt, wie sie, Anna Kolik, eine der namenlos Gedemütigten aus dem Osten, es aus gutem Grund tue. Das Geschrei der Klageweiber schließlich ziele in Wirklichkeit auf skeptische Kontrolle.

      Aufgeregt wetzte ich auf meinem Stuhl hin und her, die einstige Waschküche des aufgelassenen Bauernhofes kam mir noch düsterer und feuchter vor, als sie beim Eintreten einschüchternd auf mich gewirkt hatte.

      Schon im Sarg, als der Henkel gebrochen und die Kiste polternd auf das Pflaster geschlagen sei, habe sich ein schöner Jüngling noch einmal retten können. So mancher sei von der Bahre gesprungen, so manche Leiche habe das Tuch zerrissen, um aus der Grube zu fahren und ihrer Wege zu gehen, Scheintote hätten später nicht selten noch etliche Kinder gezeugt oder geboren. Aber wie oft habe man fahrlässig gehandelt oder nichts bemerkt und unübersehbare Zeichen als Einbildung krankhafter Betschwestern abgetan? Könne man ermessen, ereiferte sich Anna Kolik, jetzt flinker mit den Knorpelfingern in dem Buch blätternd, welcher Schrecken Leichenfledderern in die Glieder gefahren sei, als sie, eben noch mit dem Abstreifen der Ringe von den erstarrten Knöchelchen beschäftigt, den Beraubten sich regen sahen? Nicht wenige Erblasser hätten vor der Eröffnung des Testamentes verlangt, dass man sie mit glühenden Zangen verschiedener Proben unterziehe: eine französische Prinzessin habe sogar angeordnet, man solle ihr vor der endgültigen Grablegung Bambusspieße oder Zahnstocher zwischen die Zehennägel zaubern. Bei der zunehmenden Sehnsucht nach Ordnung sei man zuletzt der Idee verfallen, jedwedes Abscheiden durch Gesetz von zwei Zeugen beglaubigen zu lassen, ehe man den Corpus, wie Anna Kolik sagte, auf stacheligem Rosshaar in kalter Luft aufgebahrt habe: Abstellräume, Waschküchen, Asyle des zweifelhaften Lebens. Der spaniolische Gelehrte führe wundersam aufregende Belege an, Geschichten aus De miraculis cadaverum – auch sie habe Latein gelernt, einst, in einem heute zusammengeschossenen Kloster, befreundet mit den von strengen Institutsfräulein erzogenen höheren Töchtern des Ostens, welche unvergleichlich stolz ihre linnene Tracht zu tragen verstünden. Leichen, wie der Spaniole schreibe, die bluteten, bissen, schwitzten, bei denen Haare und Nägel unaufhörlich wüchsen: verzweifelte Beweise einer monströsen Anomalie, niedergelegt in den Debatten eifriger Gelehrter über die Existenz einer Todeszeit. In jenen Tagen habe man außerdem, beiseite gesprochen, das Vergessen kunstfertigen Einbalsamierens zugunsten einer neuen Medizin eingeleitet.

      Ich suchte nach Halt in der eisigen Waschküche und hätte mich am liebsten zwischen zwei in die Blechschüssel schlagenden Tropfen des Wasserhahns an der Wand unter dem Kissengebirge von Anna Koliks Bett versteckt, hätte ich nicht auch dort die ekligen Reste des nassschweren Kuchens und Flecken erkalteten Kakaos vermutet. So hielt ich mich mit klammen Fingern am Stuhl und schickte meinen Blick auf das vor dem Fenster sorgfältig aufgeschichtete, kleingehackte Brennholz, das Anna Kolik mühsam mit Lederriemen und groben Stricken, Abfällen vermutlich aus dem Papierkorb der Postagentur, verschnürt aus dem Wald herbeigeschleppt hatte: jeder Schritt ein Wagnis, jeder gemeisterte Meter Beweis für die zappelnd zähe Überwindung der allen Lebewesen anhaftenden Schwerkraft.

      Anna Koliks Augen weiteten sich, als blickten sie auf ein Meer, vielleicht auf das jenseits der Kurischen Nehrung, auf der man ihr Gewalt angetan und sie für ihr Lebtag entstellt hatte, ihre Hände suchten den Knoten am Hinterkopf, prüfend, ob das Geflecht in Ordnung sei, woraufhin wieder sorgfältig das schwarze Tuch über das Haar gebreitet wurde.

      Ich hätte mich gerne hinter den über dem Kanonenöfchen entlang dem Ofenrohr quer durch den Raum auf ein Waschseil gespannten Lumpen, Handtüchern und Hemden verborgen, die schützenden Hände meiner Tante Mirtel sehnlichst herbeiwünschend. Konnte sie nicht auf der Stelle mit dem Hubschrauber wie Lurchi Salamander, der Held meiner Kindheit, einfliegen? Anna Kolik aber schlug, meine Gedanken ertappend, die letzte Seite des Folianten auf, legte das umfangreiche Werk in ihren Schoß, holte eine Drahtbrille aus einem schnappenden Etui, welches wie ein luxuriöser Sarg mit leuchtend grünem Filz ausgelegt war, setzte die Brille nach Art alter Frauen auf ihre stattliche Nase und las, ihr schützendes Tuch in einigem Abstand vor ihrem Mund, so dass sie die Worte in baltischem Singsang deutlich rollen lassen konnte, die letzten Sätze aus dem einzigen Buch vor, das sie besaß:

      „In der Nähe der Schleusentore, durch welche die Natur in die Bezirke der Menschen eindringt, haben wir begonnen, schweigend Angst vor dem Tod zu haben. Denn alles Verlorene möchte wiedergefunden, will neu erschaffen und sich selbst zurückgegeben werden: aufgelesen auf einer langen Wanderung entlang der Strecke im Nebel, einer zügellosen Reise über den Schnee, in der flimmernden Erwartung, unter einem unbegreiflich hellen Himmel mit erhabenem Stolz einzusinken, und keiner würde wissen, wie tief.“

      Anna Kolik schloss sanft das Buch und wandte sich ab, dem Fenster zu, sah hinaus und schwieg. Über mir hörte ich Schritte, jemand ging durch den Flur des aufgelassenen Bauernhofes, die dunkle Holzstiege hinauf, vorbei an den Regenmänteln und Lodenumhängen, eine Tür schlug: Der Wegemacher und Straßenwart Hans Nicolussi kehrte nach Hause zurück. Ich nahm dies als willkommenes Zeichen und schlich mich auf leisen Sohlen davon. Anna Kolik stand gedankenversunken noch immer am Fenster, hielt sich das Tuch vor den Mund und hatte weite Augen, sehr weit.

      Walburg