Die Zeit auf alten Uhren. Gerhard Köpf

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Название Die Zeit auf alten Uhren
Автор произведения Gerhard Köpf
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783874682923



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Schon berechnet sie das Gefälle, schon kennt sie den Winkel, schon weiß sie, wie die Fallhöhe zu nützen ist, schon setzt sie sich in den Kopf, vom Oberschenkel den Weg über das Knie, die Kniescheibe, über die Wade hinunter zum Schienbein zu nehmen, schon hat sie den Ehrgeiz, auch noch den Knöchel zu erreichen, schon erkennt sie, nein: den Knöchel wird sie wahrscheinlich doch nicht mehr schaffen, weil sie vielleicht von einem Schrei aufgehalten wird, das lässt sich wegen des Rauchs des Zigarillos meiner Tante Mirtel nicht genau feststellen, ob die siedend heiße Lauge nur über den Oberschenkel und die Kniescheibe bis zur Wade laufen kann, oder ob sie es wegen eines Schreies nicht mehr bis zum Knöchel schafft.

      Aber wer könnte den Schrei hören? Wem kann er gelten? Die Männer vom Reichsarbeitsdienst sind mit ihrem Lkw längst wieder ins Arbeitsdienstlager gefahren. Sonst ist niemand in der Waschküche. Kaspar ist bei der Eisenbahn. Er darf seinen Dienstplatz nicht verlassen. Unter keinen Umständen. Luis ist in den Bergen oder rennt querfeldein oder will herausfinden, wie sich bei den KdF-Mädeln die Haken am Mieder anfühlen. Kraft durch Freude, Schmalz durch Gaudi. Baptist ist so mit Gehorchen beschäftigt, dass er keinen Schrei hört. Ein Schrei bedeutete womöglich, dass er handeln müsste. Er kann aber nur etwas tun, wenn ihm vorher einer sagt, was er tun soll. Firmian ist mit dem Finger auf der Landkarte. Vielleicht erreicht der Nagel des rechten Zeigefingers gerade die Mündung des Rio Para. Dort liegt Belém, das auf Deutsch Bethlehem heißt, obwohl es nicht im gelobten Land liegt.

      Meine Tante Mirtel schlägt vor, dass wir zusammen überlegen, wem der Schrei gelten könnte, der da durch die Waschküche gellt. An wen hätte sich Walburg wenden können? Niemand ist zu Hause, niemand in der Nachbarschaft kann den Schrei hören. Vielleicht rangiert Kaspar gerade einen Güterzug, während er gewissenhaft auf seine Schweizeruhr blickt. Wir können es nicht sagen. Weil Walburg weiß, dass sie allein ist mit ihrem Schmerz, weil Walburg weiß, dass ihr niemand beistehen kann, während die kochende Lauge den Weg nimmt von ihrem Oberschenkel über die Kniescheibe, die Wade und das Schienbein womöglich bis zum Knöchel, weil nichts hilft: weder die Wickelschürze, noch der Holzgriff, weder die Holzpantinen, noch die Schmierseife, weder wir Wiener Weiber, noch das Zeigt her eure Füßchen, zeigt her eure Schuh, weder Stein auf Stein, noch das Häuschen, das ganz zweifellos bald fertig sein wird, weder das Feinsein, noch das Beieinanderbleib'n, weil nichts hilft, deshalb sagt sie still nach dem Schrei – und ich glaub' es nicht: Vergelt's Gott für die Armen Seelen.

      Meine Tante wiederholt diese Ungeheuerlichkeit, und malt mir mit ihren Worten, wie die Walburg Mehl auf ihre Brandwunde streut, immer wieder Mehl, „lllergold doppelgriffig“, und wie sie dabei betet. Sie betet für die Armen Seelen, die unerlöst umhertreiben, all die Toten, all die Worte im Wind des Unheils, verkeilt ineinander als Illusion und Enttäuschung. Walburg gedenkt der armen Seele ihrer Mutter, ihrer verstorbenen Geschwister, sie gedenkt des Glockenspiels vom Rathausturm, wenn der weiße Ritter den schwarzen Ritter vom Pferd sticht, wenn die Kinder um den Hollerbusch tanzen, wenn der goldene Hahn kräht und der Sensenmann Stundenglas und Hippe zeigt, ehe die Glock' Zwölfe schlägt, sie gedenkt aller Wiener Weiber, die wie sie die Wäsche waschen, sie summt ihr Lieblingslied „Fein sein, beinander bleib'n“, sie gedenkt ihres Herrn und Meisters Kaspar und seines Leitspruches, der da lautet: Ich trage, wo ich gehe, stets eine Uhr bei mir, denn unsere Walburg, sagt meine Tante Mirtel, ist musikalisch, sie gedenkt ihres Sohnes Luis, der auf die Berge rennt und querfeldein und bald hinter jedem Mädel her, sie gedenkt ihres Sohnes Baptist, der immer einen Vorgesetzten braucht im Leben, sie gedenkt ihres Sohnes Firmian, welcher Offizier auf einem stolzen weißen Segler und Herr der sieben Meere werden wird. Schließlich aber gedenkt sie des Häuschens, Stein um Stein, und sie gedenkt der ersten und der zweiten Hypothek, und sie hofft, dass auch sie vergolten werden, wie die kochend heiße Lauge den Armen Seelen.

      Die Damen Vogelsang

      In einem Feuilleton über die französische Stadt Nizza beschreibt Joseph Roth Mitte der zwanziger Jahre einmal Sommergäste, „denen der Arzt den Winter verbietet und denen die Brieftasche den ewigen Sommer erlaubt.“ Genau dies traf auch auf die Damen Vogelsang zu, die zu den treuesten Patientinnen meiner Tante Mirtel, der Landärztin zählten. Sie besuchten ihre Sprechstunde wegen jeder noch so kleinen Kleinigkeit, meine Tante sagte dazu „wegen jedem Hundsscheiß“, und dieses kuriose Trio in einer Schilderung des Blauen Landes, aus dem ich komme, zu übergehen, wäre ein schlimmes Versäumnis, denn die Damen Vogelsang gehörten zweifellos zu den unvergesslichen Kuriositäten dieses Landstriches, wobei sie zugleich als Sommerfrischlerinnen einer bestimmten Epoche des Fremdenverkehrs kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Maßstäbe setzten und ihren charakteristischen Stempel aufdrückten.

      Die Absonderlichkeiten begannen mit den Namen: Niemand tauft sein Kind heute noch auf den Namen Theobald oder Gerda. Es ist nur verständlich, wenn auch die Wahl der Vornamen unserer Kinder der Mode und dem Zeitgeist unterliegt. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass beispielsweise Agatha so gewöhnlich war wie heute Kathleen, Vicky oder Cindy im Osten unseres wiedervereinigten Vaterlandes. Bei Agatha muss ich freilich nicht an die englische Kriminalschriftstellerin denken, sondern immer an die Damen Vogelsang. Korrekt und eigentlich: von Vogelsang. Drei Baronessen, die niemals einzeln auftraten, sondern stets nur im Verbund zu haben waren. Sie hätten alle Agatha heißen können, aber nur die Älteste hörte auf diesen Namen, eigentlich auf den Doppelnamen Agatha-Littegarde. Ihre Eltern mussten wohl Kleist gelesen haben. Sie führte das Kommando, sie war gewissermaßen der Feldwebel der Eskadron. Sie war lang und dürr wie eine Bohnenstange. Außerdem hatte sie ein abstoßendes Pferdegebiss, als sei sie die Zwillings-Schwester des Darstellers von Don Camillo. Für sie galt, was einst Siegfried von Vegesack, der Übersetzer von Gogol, Turgenjew und Nabokov über seine Tante Locka gesagt hatte: „Eigentlich war sie ein Mann, dem der liebe Gott aus Zerstreutheit Röcke wachsen ließ.“ Auguste-Bertha, so hieß die Mittlere, die wir Gusti nannten, trug Tag und Nacht eine Brille mit tiefschwarzen Gläsern, erfuchtelte sich mit in der Luft rudernden Händen ihren Weg und war offensichtlich blind wie ein Maulwurf, während Edith-Georgine, kurz: Gini, am Stock ging und so hinfällig daherkam, als sei sie mit Abstand die Älteste des Trios. Ihr klappriges Skelett wurde scheinbar nur noch von gefährlich gelockerten Schräubchen zusammengehalten, die sich jeden Augenblick lösen konnten, was unweigerlich zum kompletten Zusammenbruch dieses Gespenstes führen würde. Etwas Geheimnisvolles umgab sie, denn im Gegensatz zu ihren Schwestern hörte man sie kaum schnattern. Ein stummer Blick aus wässrig verträumten Augen genügte, um ihren Willen kundzutun. Mitunter seufzte sie über die große Anzahl von Bewerbern, die sie in ihrer Jugend abgewiesen habe, und dies nur, um bei ihren Schwestern bleiben zu können. Sie hatte es mit dem Poetischen und sprach konsequent vom Lenz, nie aber vom Frühling, den Jasmin nannte sie „Schasmin“ und zu Orchester sagte sie „Orschester“. Wenn sie lächelte, was selten geschah, verschob sich ihr Gebiss, und trat man näher an sie heran, so meinte man, ein wenig „Uralt Lavendel von Lohse (1910)“ riechen zu können, mit dem sie sich bevorzugt betupfte.

      Die Damen Vogelsang, wie man sie allgemein nannte und geflissentlich das „von“ übersah, womöglich weil sich „von Vogelsang“ für die einfachen Menschen aus dem Blauen Land nicht so bequem aussprechen ließ, die Damen Vogelsang also kamen jedes Jahr zur Sommerfrische und requirierten das obere Stockwerk des winzigen Häuschens der Witwe Rosa Dopfer, die eine fromme Frau war, jeden Tag zur Kommunion ging und arg darunter litt, dass ihr zweiter Dauermieter, der unverheiratete, von einem verwegenen Menjou-Bärtchen verzierte Hauptlehrer Oskar Niemeyer, stolzer Besitzer eines VW-Cabrios und angeblich der beste Tänzer weit und breit, häufig auch über Nacht Besuch von seiner unentwegt filterlose französische Zigaretten rauchenden Freundin Vera Baumeister bekam, von der man munkelte, sie sei früher in der Großstadt als Sängerin in verruchten amerikanischen Nachtclubs aufgetreten.

      Und jetzt auch noch diese Damen Vogelsang. Rosa Dopfer, deren enges Treppenhaus himmelblau gestrichen war und Heiligenbildchen an Heiligenbildchen aufwies wie ein Kreuzweg mit seinen Stationen, betete einen Rosenkranz extra, aber sie brauchte das Geld. Vogelsang: der Name sprach für den Rest, und der war laut, lebhaft, ständig quasselnd, immer das Besondere, nie das Normale, immer in Bewegung, nie still sitzend, immer voller Erwartung, immer voller Ungeduld, immer grell geschminkt, immer das Schrille, und ja nichts ohne Superlativ, stets die Nase hoch und ebenso den Kopf, auch wenn der Kragen mal schmutzig war. Sie trugen Hüte groß wie Wagenräder,