Die Zeit auf alten Uhren. Gerhard Köpf

Читать онлайн.
Название Die Zeit auf alten Uhren
Автор произведения Gerhard Köpf
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783874682923



Скачать книгу

an führte er mit ein paar Hühnern und Geißen sein eigenbrötlerisches Leben, ernährte sich von Erdäpfeln und Ziegenmilch und schrieb seine Lebenserinnerungen nieder, die ich als kostbaren Familienschatz in einer Schreiblade bewahre. Im Winter schlief er im Stall, er konnte jodeln, ein wenig auf der Ziehharmonika spielen, und er soll gerne geschnupft haben. War er einmal krank oder benötigte er Hilfe, was nur selten vorkam, so stellte er eine Laterne ins Fenster, die man bis ins Tal sehen konnte. Meist kurierte er sich jedoch mit Hilfe einheimischer Kräuter, mit denen er sich bestens auskannte. Als er starb, versagte man ihm seinen letzten Wunsch, im selbstgeschaufelten Grab neben seiner Hütte beerdigt zu werden. Die Bewohner des Blauen Landes packten den Falkenstein-Sepp in ein Fässchen und rollten es den Berg hinunter, um ihn am Weissensee zu begraben.

      Bis ans Ende meiner Tage werde ich stolz darauf sein, aus einem Geschlecht von Postillions und königlichen Kutschern zu stammen, die allesamt das schöne Lied „Hoch auf dem gelben Wagen“ gesungen haben, unser Familienlied gewissermaßen, in dem es zum Schluss heißt:

      „Sitzt einmal ein Gerippe

      dort bei dem Schwager vorn,

      schwingt statt der Peitsche die Hippe,

      Stundenglas statt das Horn,

      sag ich: Ade nun, ihr Lieben,

      die ihr nicht mitfahren wollt.

      Ich wär' ja so gern noch geblieben,

      aber der Wagen, der rollt.“

      Der Tod nämlich war der beständigste Fahrgast. Er war immer dabei, und für ihn fand sich immer ein Plätzchen.

      Anna Kolik

      Die medizinische Bibliothek meiner Tante Mirtel enthielt manchen Band, der mir in Kindertagen besonders rätselhaft und furchteinflößend erschien. Jahre später bin ich beim Entrümpeln auf eine Schwarte gestoßen, die mir bereits damals einigen Schauder über den Rücken gejagt hat. Es handelte sich um Hufelands gelehrte Abhandlung über den Scheintod. Sobald ich darin zu blättern begann, erinnerte ich mich an meine Begegnung mit Anna Kolik, einer Flüchtlingsfrau, die kurz nach dem Krieg von der Gemeindeverwaltung in einem verlassenen Bauernhaus untergebracht war, dessen einstige Besitzer ohne Nachkommen verstorben waren. Das Anwesen war deshalb an die Gemeinde übergegangen und wurde nur noch vom Straßenwart und Wegemacher Hans Nicolussi bewohnt. Ich war Anna Kolik einen Entschuldigungsbesuch schuldig, weil ich ihr mit der Steinschleuder eine Fensterscheibe zerschossen hatte. Meine Tante hatte mir dringend zugeredet, die Sache umgehend aus der Welt zu schaffen.

      Die grün gestrichene Holztür zu Anna Koliks Behausung konnte nicht einmal abgesperrt werden. Lediglich eine altmodische Schnalle hielt sie notdürftig am Rahmen, durch die Ritzen fiel schräg das Licht in den gemauerten Gang, der mit einer Türe zur einstigen Waschküche, mit der anderen, einem Lattengitter, dessen Schloss aus einem quergelegten, in die Öffnung geschobenen abgebrochenen Kochlöffel bestand, aber zum Kellerloch führte, welches völlig finster war. Dies war der Hausgang von Anna Kolik, die von einem wacklig an die Wand genagelten Zigarrenkistchen eine Packung Streichhölzer nahm, ein Zündholz anriss und damit einen aus dem Kistchen hervorgezauberten Kerzenstummel entzündete, um den unverhofften Besuch anzuleuchten. Sobald ich in Anna Koliks Verschlag stand, glaubte ich, in einer Gruft zu sein und Verwesendes zu riechen. Ein feuchter Kuchen, auf einem Teller auf dem in der Mitte des Raumes stehenden rohen Waschtisch liegend, moderte vor sich hin. Daneben stand eine sehr große Tasse mit einem aufgemalten Enzian, ein blechern schimmernder Kaffeelöffel steckte in einer Art Kakao oder Schokoladenpudding, welcher gleichfalls schon einige Tage alt zu sein schien, über den Tisch verteilt lagen Brotrinden, teils angenagt, teils mit dem Messer flach geschabt. Auf einer bräunlich schäbigen Kommode entdeckte ich neben schmutzigem Geschirr einen kleinen Brotkasten, dessen Schuber aus schmalen, eng aneinander liegenden Brettchen wie der Verschluss des Armaturenbrettes im Schienenbus aussah, mit dem ich täglich als Fahrschüler unterwegs war. Anna Kolik war in einen schwarzen Schal gehüllt, so dass nach orientalischem Vorbild nur die Augen sichtbar waren. Sie schlurfte voraus und hieß mich mit einer Bewegung ihres Krückstockes, an dem mich die vom einseitigen Belasten schräg abgewetzte Gummikappe faszinierte, auf einem der beiden Holzstühle Platz zu nehmen. Sie selbst versank ächzend in einem knarrenden Korbsessel mit schwarzen Knöpfen an beiden Enden der durchgezogenen Armlehne, den sie energisch neben ihr gewaltig aufgetürmtes Bett gerückt hatte, welches mit einer Art schwerem Vorhang bedeckt war, seinem Muster zufolge vermutlich türkischer Herkunft. Die zu Sehschlitzen verengten Augen fragten, ob ich einen Schluck von dem bräunlichen Gebräu oder ein Stück von dem feuchtmarmornen Kuchen wolle, was ich mit beflissenem, krampfhaft höflichem Kopfschütteln quittierte.

      Noch war kein Wort gefallen, noch hörten wir nur das Tropfen des drohend aus der Wand wachsenden Wasserhahnes, unter dem auf einem krummen Hocker eine Schüssel mit verwittertem Emailleboden stand. Mein trotz aller Furcht neugierig umherschweifender Blick blieb an dem Nachtkästchen, genauer an dem gestickten Deckchen über der Glasplatte hängen, die von vier Nasen gehalten wurde. Dort lag ein dickes Buch. Gerade in der Sekunde, da ich es entdeckt hatte, schien sich Anna Kolik dieser Nachlässigkeit wegen zu schämen, griff mit gichtigen Fingern hinüber zu dem in braunes Packpapier eingeschlagenen Band und meinte halblaut, Schriften über den Tod seien nichts für einen Jungen in meinem Alter, auch wenn er auf die Lateinschule gehe, wie sie wisse. Ich für meinen Teil wollte meine lästige Pflicht der Entschuldigung so schnell wie möglich loswerden, doch auch dies schien Anna Kolik sofort bemerkt zu haben. Immer stärker setzte sich in mir der Verdacht fest, sie habe eine ähnliche Gabe des Vorhersehens wie meine Tante Mirtel, auch sie besitze ein unbestechliches Gedächtnis, welches alles aufbewahre, nach dessen Verlust aber sich jemand wie ich in solcher Lage sehnte. Noch ehe ich meinen Entschuldigungssatz, den ich den halben Vormittag auswendig gelernt hatte, ausstoßen konnte, war mir Anna Kolik schon nach Art alter Leute blitzschnell zuvorgekommen. „Geschenkt“, winkte sie ab, und ich glaubte in meiner Verzweiflung, sie hinter dem schwarzen Strickschal, den sie unentwegt vor ihren Mund hielt, lächeln zu sehen: ein furchterregendes Lächeln, das sich über die ausgefransten Mundwinkel hinaus zu verlängern schien.

      Halbverkrüppelte Finger mit Knorpeln, Schrunden und Warzen, Auswüchsen und kleinen, rötlich-violett schimmernden Geschwüren unter den Nagelbetten blätterten jetzt in dem Buch, dessen Titel von fettigem Papier verborgen wurde. Der bedrohlich wirkende Krückstock lehnte schräg und sprungbereit wie ein Kettenhund am knirschenden Korbsessel, ein dunkler Rock streifte den kalten Steinboden, auf dem ein löchriger, an den Rändern provisorisch eingenähter Flickenteppich lag, demütig wie ein Fußabstreifer. Unter dem Rock lugten schwarze, überraschend große knöchelhohe, durch eine schmale Blechschließe zusammengehaltene Filzpantoffeln mit absatzloser Sohle hervor, bewegungslos nebeneinander stehend, wie Wachsoldaten, tot verharrend. Von märchenhexenhaftem Kichern begleitet langte Anna Kolik ruckartig nach dem Kuchenteller und riss ein Stück von dem backpulverfarbenen Mehlklumpen ab, um es zwischen ihren gelblich schimmernden, in großem Abstand auseinander stehenden Zähnen verschwinden zu lassen. Erst jetzt sah ich, dass Anna Kolik Handschuhe trug, eine Art verlängerter Pulswärmer, die bis zu den mittleren Fingerknöchelchen reichten, wo schwarze Fransen wie ungekämmte Haare fischhäutig abstanden. Meine Eltern, hob Anna Kolik schnaufend an, seien Herbergseltern gewesen, Wirtsleute, welche unter eine Lawine geraten seien. Ich wusste auf der Stelle, dass dies glatt gelogen war. Aber warum erzählte mir die alte Frau solche Schauermärchen? Auch die nächsten Sätze ihres zwischen Zahnschluchten zischend hervorgestoßenen Berichtes ließen mich wieder frieren: meine Eltern seien erstickt, sagte die Flüchtlingsfrau, deren entstelltes Gesicht ich nun gerne ganz gesehen hätte. Erstickt, wiederholte sie mehrmals, spitz und eine Spur zu hämisch. Ächzend erhob sie sich vom Korbstuhl, um eine Runde in dem dunklen und kalten Waschraum zu drehen und sich endlich wieder mit einer stützenden Hand auf dem Stock, der anderen, aufstöhnend, flach auf die linke Hüfte gepresst am Fenstersims zwischen zwei verzweifelt grünenden Geranienstöckchen auszuruhen, als sei es zu dem ersehnten Stuhl noch meilenweit zu gehen. Wortlos hatte sie diesen nach der theatralischen Verschnaufpause erreicht, ließ sich erneut ächzend nieder, das Jammern des Stuhles in die eigene Klage mischend. Als man meine armen Eltern geborgen habe, wusste Anna Kolik mit krumm gestrecktem Zeigefinger zu korrigieren, seien sie in Wirklichkeit noch gar nicht richtig tot gewesen, sondern hätten