Die Zeit auf alten Uhren. Gerhard Köpf

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Название Die Zeit auf alten Uhren
Автор произведения Gerhard Köpf
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783874682923



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angezogen, die Waisenhauskapelle und hörte, wie Schwester Hiltgardis nicht nur auf der Orgel spielte, sondern auch zu der Melodie sang – Worte in einer Sprache, die sie nicht verstand, die sie aber dennoch so magisch anzogen und auf geheimnisvolle Weise verzauberten wie die Melodie selbst: „Ave, ave, verum corpus natum de Maria virgine, vere passum immolatum in cruce pro homine, cujus latus perforatum unda fluxit et sanguine; esto nobis praegustatum in mortis examine, in mortis examine!“ Kaum hatte Schwester Hiltgardis ihr Spiel beendet, als Annla lautstark in Tränen ausbrach und sich schluchzend in eine Kirchenbank warf. Die Nonne verließ daraufhin sogleich die Empore, nahm sich der bitterlich und unaufhaltsam Weinenden an und begleitete sie, die vor Schluchzen kaum laufen konnte, ins Refektorium, indes der alte Bernhardiner mit hängendem Kopf neben den beiden her trottete. Das magere und immer hungrige Kind war nicht zu beruhigen, bis es sich in den Schlaf geweint hatte, und als es am anderen Morgen erwachte, sollte es noch einmal einen Tag und eine Nacht dauern, bis die Tränen endgültig versiegt waren.

      Von da an veränderte sich das Annla. Es hörte mit dem Streunen auf und fing an zu lernen. Nach und nach verbesserte sich ihr Deutsch und verlor den harten slawischen Akzent. Als sie von Schwester Hiltgardis eines Tages eine Blockflöte geschenkt bekam, war die Freude übergroß, und das gelehrige Mädchen fiel der Nonnen um den Hals: eine Geste, die noch vor einem halben Jahr völlig undenkbar gewesen wäre. Das erste Lied, das Annla nach wenigen Wochen fehlerfrei spielen lernte, wurde vom Gesang der Nonne begleitet: „Jesu bleibet meine Freude, meines Herzens Trost und Saft, Jesu wehret allem Leide, er ist meines Lebens Kraft …“ Und bald darauf folgte ein zweites Lied, das den Eifer der Schülerin noch steigerte: „Schafe können sicher weiden, wo ein guter Hirte wacht …“ Mehr und mehr behauptete sich Annla nun in der Schule und im Waisenhauschor, fand die vorsichtige, zunächst noch verhaltene, aber sich stetig festigende Anerkennung der anderen Kinder, bis sie schließlich so gut geworden war, dass sie von Schwester Hiltgardis zum ersten Sopran ernannt wurde, denn Annla konnte singen. Und wie. Sie traf nicht nur mühelos und sicher jeden Ton auch in den höchsten Lagen, sondern sie konnte ihn halten trotz ihres mageren Körpers, sie modellierte ihn, gestaltete die Kadenzen, und noch den Schatten eines Akkordes konnte sie zum Klingen bringen. Zwar weckte dies hier und dort offen erkennbaren Neid, doch Annla sonderte sich nun nicht mehr ab, sondern lachte und scherzte wie alle anderen Waisen, spielte mit ihnen, kicherte nach der Probe, machte gemeinsam mit ihnen ihre Hausaufgaben und gab die einstige Verschlossenheit auf, so dass ihr auch zuletzt die Eifersüchtigen ihren Erfolg gönnen mussten. Nur von Berno wollte sie nicht lassen, doch die anderen Kinder hatten sich längst daran gewöhnt, dass Annla ohne Berno nicht zu haben war. Im Laufe der Zeit schlug schließlich auch an, was das stets hungrige Mädchen mit der ihr eigenen Gier in sich hineingeschlungen hatte. Annla nahm an Gewicht zu und stakste nicht länger auf Fohlenbeinchen durch eine fremde Welt, sondern schoss noch einmal in die Höhe und entwickelte sich so, wie es einem Mädchen ihres Alters angemessen war. Ihr Haar war schon lange nicht mehr struppig und hing auch nicht mehr strähnig ins Gesicht, um den Blick zu verstellen, sondern es war stets gepflegt, glänzte vom vielen Kämmen und Bürsten und rahmte mit einer natürlichen Welle ein zunehmend hübscher werdendes Mädchengesicht. Annla wurde weder eine Streberin noch eine Musterschülerin, sondern hatte durchaus ihre schwachen Fächer, doch in Musik überragte sie ihre Mitschüler deutlich. Zur Blockflöte war schließlich eine Violine gekommen, und weil ihr das Spielen der Instrumente so leicht fiel, kam sogar noch der Unterricht an Klavier und Harmonium dazu. Zwar lernte sie das Lesen der Noten, doch in der Regel spielte sie nach Gehör. Das war ihre außergewöhnliche Begabung. Auf diese Art verliebte sie sich schließlich in ein Lied, das aus ihrer masurischen Heimat stammte und von fünf wilden Schwänen erzählte, Schwänen leuchtend weiß und schön, von denen eines Tages keiner mehr gesehen ward. Besagtes Lied erzählte ebenso von fünf jungen Birken, die grün und frisch am Bachesrand wuchsen, von denen aber keine jemals in Blüte stand, es erzählte von fünf jungen Burschen, die stolz und kühn zum Kampf hinaus zogen, und von denen aber keiner mehr nach Hause kam, und schließlich erzählte das traurig schöne Lied aus dem fernen Masuren von den Mädchen. Und das Annla musste immer weinen, wenn die Stelle kam, wo es heißt:

      „Wuchsen einst fünf junge Mädchen

      schlank und schön am Memelstrand.

      Sing, sing, was geschah?

      Keins den Brautkranz wand.“

      Alles schien seinen guten Weg zu nehmen, bis der alte Bernhardiner eines Tages krank wurde und eingeschläfert werden musste. Da war Annla schon in der Abschlussklasse, und es war zwischenzeitlich sogar mehrfach die Rede davon gewesen, ob man das begabte Kind nicht auf eine weiterführende Schule schicken sollte, wobei Schwester Hiltgardis in ihrem Überschwang sogar ein Musisches Gymnasium vorschlug. Doch Bernos Tod machte all den schönen Zukunftsplänen einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Ja, wenn das Mädchen einen anderen Hund bekommen hätte … Aber den wollte ihr niemand geben, trotz der vielen Köter, die durch die Gassen streunten.

      Von einem Tag auf den anderen wurde Annla wieder bockig, verstockt und stumm. Es war, als habe jemand einen Schalter umgelegt. Flöte und Violine lagen unbenutzt in der Ecke, Annla schwänzte den Unterricht und die Chorprobe und streifte diesmal nicht mehr durch die Felder, sondern trieb sich im Städtchen in der Bahnhofsgegend herum, wurde am Flussufer mit einer Flasche Bier in der Hand gesehen und interessierte sich nicht länger für Motetten und Kantaten, sondern für Jungs mit Mopeds und Motorrädern. Das abendliche Gebetläuten überhörte sie geflissentlich, und sie kam und ging, wann immer es ihr passte. Auf den angedrohten Hausarrest pfiff sie. Statt der Begeisterung für das „Ave verum“ gab es für Schwester Hiltgardis jetzt gereizte Widerworte und patzige Antworten. Je rüpelhafter Annla wurde, desto mehr wurde sie sich ihres wachsenden Körpers bewusst. Bald registrierte sie mit Genugtuung die Blicke der Jungs auf Beine, Po und Brust. Dabei entwickelte sie eine erste Ahnung von Macht, wenn sie herausfand, wie sehr sie mit den jungen Männern spielen konnte, wie bereitwillig sie nach ihrer Pfeife tanzten und wie diese von ihren ständig wechselnden Launen abhingen, denn mal konnte sie zuckersüß sein, dann wieder kratzbürstig und grob.

      Die Waisenhausnonnen wussten natürlich, was mit Annla geschah und was in ihr vorging, denn sie hatten derlei immer wieder erlebt. Nachdem das koketter werdende Mädchen die Schule abgeschlossen und sich, sehr zum Bedauern von Schwester Hiltgardis, gegen eine weiterführende Ausbildung entschlossen hatte, gab man sie in der Käserei in die Lehre. Das Ziel hieß jetzt Käsereigehilfin. Annla jedoch fühlte sich von Anfang an nicht wohl bei dieser ewig nassen Arbeit, sie hatte einfach keine Lust, die Bottiche zu reinigen, die schweren Laibe zu heben, mit der Milch herumzuplanschen und außerdem noch die Berufsschule zu besuchen. Ständig spürte sie einen Ekel in sich und mied bald alles, was nur im Entferntesten mit Milch zu tun hatte. Deshalb wollte sie so schnell wie möglich weg aus der Käserei.

      Sie wollte zum „Gockelwirt“, der ihr angeboten hatte, jederzeit als Kellnerin bei ihm anfangen zu können. Es dauerte nicht lange, bis sie die Lehre abbrach und dem Lockruf der Gastronomie folgte. Zuerst begann sie als Spülerin, dann putzte sie Gemüse und Salat, half in der Küche aus, doch nach und nach arbeitete sie sich in die Gaststube vor und machte sich bald hier und dort unentbehrlich, denn plötzlich konnte Annla wieder zupacken und fleißig sein. Kein Abend dauerte ihr mehr zu lang. Beim „Gockelwirt“ gab es immer etwas zum Lachen, hier hörte man derbe Sprüche und Musik, und mehr als einmal wurden ihr vielsagende Blicke zugeworfen, hier war sie in Gesellschaft der Männer, hier fühlte sie sich wohl. Der Wirt war recht zufrieden mit seiner neuen Küchen- und Schankhilfe, an der sich mancher seiner Stammgäste gerne die Hand abgewischt hätte. Annlas Anblick steigerte den Umsatz, und das Mädchen verdiente sein erstes Geld, das weitaus mehr war als das magere Lehrlingsgehalt in der Käserei, von dem sie sich nicht einmal ein bisschen neueste Mode oder ab und zu ein Paar Schuhe mit höherem Absatz leisten konnte. Zwar wohnte sie nach wie vor im Waisenhaus, doch das änderte sich, als der Wirt der Oberin anbot, das Annla könne doch die Dachkammer beziehen, die er eigens habe frisch herrichten lassen. Die Oberin aber bestand darauf, dass bis zum achtzehnten Geburtstag gewartet werden musste. Als es endlich soweit war, packte Annla ihr Köfferchen, gab den Nonnen frech grinsend die Hand und meinte beim Verlassen des Waisenhauses wie nebenher zu Schwester Hiltgardis, Blockflöte und Violine habe sie auf dem Bett zurückgelassen, sie könne die Instrumente behalten oder einem anderen dummen Kind geben, denn sie brauche