Die Zeit auf alten Uhren. Gerhard Köpf

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Название Die Zeit auf alten Uhren
Автор произведения Gerhard Köpf
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783874682923



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hängt sich Lurchi dran, dass er den Vetter packen kann. Dann ruft der Lurchi: 'Aufgepasst! Zieht an!' Hoch schwebt die Last. Unkerich hat mit Bedacht eine Angel mitgebracht. Und so kann er ohne Mühen die Säcke auch nach oben ziehen. Mit Siebenschläfer auf dem Schlitten wird jetzt ins Tal hinab geritten. Und Siebenschläfers Abschürfwunden hat der Lurchi schnell verbunden.“

      Als aber der Lehrer am Ausgang der Schlucht seine Schüler wieder um sich scharte, fehlte einer. Niemand konnte sagen, wo Furi geblieben war. Man rief seinen Namen, einmal, zweimal, dann brüllten alle zusammen und bekamen Angst, doch der tosende Wasserfall der „Großen Zwing“ verschluckte jeden Ruf. Wo war Furi? Er wird doch nicht …? Man fand nur seine Brille mit dem Kassengestell und seinen leeren, triefnassen Rucksack aus billigem Rupfen.

      Furi aber kommt nie mehr zurück, und niemand weiß bis auf den heutigen Tag, wo Furi geblieben und was aus ihm geworden ist. Denn da war kein Lurchi Salamander, der ihm hätte zu Hilfe eilen können, und da war auch kein Seraphim, der tollkühn bereit gewesen wäre, sich abzuseilen. Es hätte wahrscheinlich auch nichts genützt, weil Furi trotz Satan und Ischariot und allen tanzenden Derwischen längst an der Seite von Kara Ben Nemsi Effendi und Trapper Geierschnabel den Rio de la Plata durchschwommen, das Tal des Todes und den Sand des Verderbens hinter sich gelassen und nach Durchquerung der Wüste von Bagdad nach Stambul durch die Schluchten des Balkan im Land der Skipetaren die Pyramide des Sonnengotts bestiegen hatte.

      Annla

      Vom Himmel grinste der Sommer, als Annla Kaps mit einem Flüchtlingstreck ins Blaue Land kam: aufgeschossen, ausgehungert, dürr, Löcher in den Strümpfen und die Knie aufgeschlagen. Sie mag elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein und stakste auf Fohlenbeinchen durch eine ihr gänzlich rätselhafte Welt, die eigenartig heil geblieben war, ein Stein lag noch immer auf dem anderen, als habe der Krieg sonst wo stattgefunden, nur nicht hier. Mit der Sprache tat sie sich schwer, denn sie stammte von irgendwoher aus dem Osten, eine hässlich gemusterte Kittelschürze hing ihr fetzenweise am mageren Leib, der so gar nichts Mädchenhaftes hatte, die ungewaschenen Haare strähnten ins Gesicht, und sie schaute immer scheu, fast verdruckst von unten, als gebe es dort oben, wohin sie ihren halb schüchternen, halb verstohlenen Blick richtete, etwas Kostbares, von dem sie im Stillen bereits wusste, dass es eines Tages ihr gehören würde. Man hätte sie für ein Zigeunerkind halten können, doch ihre Haut war nicht dunkel, sondern seltsam hell, fast weiß und so durchsichtig, dass man an ihren dünnen Ärmchen die Äderchen bläulich schimmern sah. Es gab Frauen im Blauen Land, die beim Anblick dieses Mädchens das Bedürfnis verspürten, sogleich aus ihren Schuhen zu schlüpfen und diese dem seltsamen Kind anzubieten, das anfänglich in Begleitung einer alten Frau war, von der sie behauptete, sie sei ihre Großmutter. Aber das war, wie man schnell herausgefunden hatte, nicht wahr. Annla hatte keine Eltern mehr, und die alte Frau muss sie wohl auf dem langen Flüchtlingsweg in einem Straßengraben von einem Russen gezerrt und mitgenommen haben, sei es aus Mitleid, sei es, weil man mit einem abgemagerten Kind an seiner Seite unterwegs rascher zu einem Stück Brot kam. Annla war immer hungrig. Viel war es nicht, was man ihr anfänglich zu essen gab, aber es reichte, um sie nicht verhungern zu lassen.

      Die Gemeindeverwaltung steckte das eigenartige Wesen, das so gut wie kein Wort Deutsch sprach, zu den Klosterfrauen ins Waisenhaus, wo noch andere Kinder untergebracht waren, deren Herkunft ebenfalls unklar war und die weder Vater noch Mutter noch sonst Verwandte hatten. Kriegswaisen eben. Man kannte das, und es war in jenen Tagen nichts Besonderes für das Blaue Land. Annla musste jetzt zur Schule, aber sie stellte sich derart störrisch an, dass sie zuerst von den anderen Kindern, schließlich vom Lehrer links liegen gelassen wurde. Man konnte zu dem Eindruck kommen, sie habe keinerlei Interesse, die Sprache, das Lesen und Rechnen zu lernen, und sie begnüge sich weiterhin mit ein paar Handzeichen, die ihre Versorgung mit dem Notwendigsten garantierten. Warum also mehr lernen? Hin und wieder steckte ihr eine der Frauen ein Stück Brot oder Käse zu, das sie rasch in ihrer Schürzentasche verschwinden ließ. Die Klosterschwestern gaben sich redlich Mühe mit Annla und schlossen sie in ihre Gebete ein, doch vorerst schien nicht einmal der liebe Gott Interesse an dem ewig hungrigen Mädchen zu haben, das sich oft auf das Weinen als gutes Mittel verließ, um in den Schlaf zu finden. Einzig mit dem alten Bernhardiner der Waisenhausnonnen knüpfte sie eine innige Freundschaft. Jedenfalls trottete das kalbsgroße und über die Jahre unansehnlich gewordene, ständig sabbernde Vieh mit seinen tränenden, blutunterlaufenen Augen brav neben dem Mädchen her und folgte aufs Wort den meist geflüsterten Anweisungen in einer Sprache, die außer dem Hund keiner verstand. Wenn wieder einmal, wie so oft, nach Annla gesucht werden musste, so fand man sie regelmäßig mit Berno in der Tenne, beide eingerollt und schlafend im Heu. Erst als man dem Mädchen erlaubte, mit dem Hund zur Schule zu gehen und ihn während des Unterrichts vor der Türe neben einer Schüssel mit Wasser anzubinden, entwickelte Annla nach und nach Aufmerksamkeit im Unterricht und legte zuletzt sogar einen Lerneifer an den Tag, den ihr zu Beginn des Schuljahres niemand zugetraut hatte. Trotzdem musste sie die Klasse wiederholen. Jetzt war sie nicht nur dürr und hässlich, sondern auch noch eine Sitzenbleiberin. Auch das schien sie nicht weiter zu berühren, denn sobald die Schule aus war und sie im Waisenhaus ihr Mittagessen gierig in sich hineingeschlungen hatte, verschwand sie und streifte mit Berno bis zum Gebetläuten am Abend durch die Wiesen und Felder. In schlichten Träumen dachte sie sich ein schönes Leben aus, bis diese Seifenblasen in ihren Tränen ertranken, und sie wunderte sich, warum sie nicht tot war, wenn sie durch die Scheunen streunte, Spinnennetze zerteilte und Antworten suchte auf die ganz großen Fragen. Sogar singen konnte man sie dabei bisweilen hören, und schließlich stellte eine der Waisenhausnonnen fest, dass das Annla musikalisch war und jeden Ton treffsicher nachsingen konnte.

      So kam Annla zum Waisenhaus-Chor, der zu zahlreichen kirchlichen Festen seine allseits geschätzten Auftritte hatte: bei den Maiandachten, bei Hochzeiten und Beerdigungen, an Fronleichnam, beim Besuch des Bischofs, bei der Firmung, an Kirchweih, an Allerheiligen, und im Advent, zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten sowieso. Geleitet wurde der Chor von Schwester Hiltgardis, der Organistin, die, wie es hieß, einmal Musik studiert hatte, ehe sie ins Kloster eingetreten war. Jedenfalls beherrschte sie eine Unzahl von Instrumenten und konnte auf der Quetschkommode ebenso spielen wie auf der Kirchenorgel, der Geige oder dem Alphorn. Hiltgardis nahm von nun an Annla unter ihre Fittiche, und Annla, die zuerst noch misstrauisch war, an den Nägeln kaute und trotzig schweigsam Löcher in den Boden stierte, fasste schließlich doch zaghaft Zutrauen, seit sie beobachtet hatte, dass Hiltgardis nicht zu jenen Nonnen gehörte, die Berno bei jeder Gelegenheit wegscheuchten oder ihm einen Tritt verpassten. Während der Hund vor seiner Schüssel mit Wasser saß, probte drinnen das Flüchtlingskind mit dem Chor. Zuerst kam fast nichts aus ihrem Hals, und manche ältere Chormitglieder fragten sich, weshalb so eine wie die da denn überhaupt im Chor sei. Die könne ja weder reden noch singen. Schwester Hiltgardis aber gab nicht auf, sondern meinte gegenüber der Oberin, irgendetwas werde schon in dem Annla verborgen sein, tief drin, sie wisse nur noch nicht was und wie man es aus ihr heraus kitzle. Die gewöhnlichen Kirchenlieder interessierten das Mädchen aus dem Osten nicht, und sie bewegte nicht einmal die Lippen zum Tedeum. „Großer Gott wir loben dich“ sagte ihr nichts. Überdies wollte sie nicht etwas loben, was sie nicht kannte.

      Doch eines Tages, als sie wieder einmal mit Berno herumstreunte und nicht so recht wusste, wie sie den Tag totschlagen konnte, kam sie an der Kirche vorbei und hörte Schwester Hiltgardis auf der Orgel eine bestimmte Melodie spielen, die sie unwillkürlich und ganz gegen ihren Willen mitsummte. Einfach so mitsummte, obgleich sie diese Melodie überhaupt nicht kannte und weiß Gott nie zuvor gehört hatte. Es handelte sich um exakt 46 Takte für Chor, Streicher und Orgel, die auf den 17. Juni 1791 datiert waren und die der Kompositeur für das Fronleichnamsfest zu Baden bei Wien zu einem Zeitpunkt aufs Papier geworfen hatte, da sich sein Weib im neunten Ehejahr auf ihre sechste Niederkunft vorbereitete. Schwester Hiltgardis wusste das natürlich alles, aber Annla Kaps hatte davon nicht einmal den Schatten einer Ahnung. Was hätte ihr auch das Wissen genutzt, dass es sich bei der Melodie, die sie unwillkürlich mitsummen musste, um die Vertonung eines lateinischen Reimgebetes handelte, von dem die einen behaupteten, es stamme aus dem Genua des 13. Jahrhunderts, indes andere Papst Innozenz IV. als Urheber reklamierten. Annla war weder des Lateinischen mächtig noch konnte sie wissen, was eine Motette ist und dass diese Mozart aus der Feder geflossen war. Und zwar knapp ein halbes Jahr vor seinem Tod, während er zugleich