Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 4. Группа авторов

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Название Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 4
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683203



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kein Lebewesen mehr. Die gelben Blätter der Kastanien bewegten sich leise im Nachtwind.“

      Irgendwann in den frühen Morgenstunden erfuhr der Redakteur, dass einer der Kriegsgefangenen, Josef Brykoszynski, mit einem Privatwagen in Mülheim angekommen war. Die Mülheimer Polizei brachte ihn mit einem Streifenwagen nach Oberhausen. Ankunftszeit: 3.46 Uhr. Mit dieser Meldung konnte die Morgenausgabe in Druck gehen, der Redakteur hatte Feierabend.

       Abb. 1: Spätheimkehrer 1955, GA vom 9./​10. Oktober 1965

      „Auf dem Heimweg zu meiner Wohnung in der Blücherstraße, ein Weg von einer knappen Viertelstunde, begegneten mir zwei Eisenbahner, die zum Dienst gingen, aus einem geöffneten Fenster rasselte ein Wecker. In meiner Wohnung war ich allein, meine Frau war zu ihren Eltern ins Sauerland gefahren. Ich öffnete das Fenster nach der Nordseite, eine letzte Zigarette sollte die überbeanspruchten Nerven beruhigen. Es war 4.48 Uhr. Und dann in diesem Moment, in dem ich abzuschalten versuchte, erhob sich von weither, vom Kirchturm von St. Marien, die Stimme der ersten Glocke. Sie blieb nicht allein, zu ihr gesellten sich, mächtig heranrauschend wie Meereswogen, die tiefen Stimmen der Glocken von Herz-Jesu und der Christuskirche, und dann, als ich das Fenster nach Süden öffnete, traten mit hellerem Klang die Glocken der Klosterkirche und von St. Josef in Styrum hinzu. In den Blocks, die ich übersehen konnte, erhellten sich an zwei, drei Stellen Fenster, und während sich die Köpfe fragend und lauschend dem Glockenjubel zu dieser ungewohnten Stunde zuwendeten, brachte ein sanfter Wind die Ahnung des neuen Tages und des neuen Morgens mit – die Schicksalsnacht des 10. Oktobers 1955 war zu Ende!“3

      Über der Schlagzeile prangte das Photo des weißbärtigen 72-jährigen Hieronymus Werm. Er war schon 56 Jahre alt gewesen, als der Krieg ausbrach, und 62, als er in Gefangenschaft geriet. Die anderen Spätheimkehrer, die in diesem Herbst als letzte noch eintrafen, waren durchweg viel jünger, teilweise noch nicht 40, der jüngste war 31 Jahre alt.4 Mehr als ein Jahrzehnt davor hatte man sie als ganz junge Männer an die Ostfront geschickt; jetzt mussten sie sich, gesundheitlich angeschlagen, vielleicht als Kriegsinvaliden, in einer völlig veränderten Stadt zurechtfinden. Um die Spätheimkehrer wurde es danach ruhig, es kam niemand mehr an. Die Vermissten wurden mit der Zeit für tot erklärt. Manche Kriegerwitwe konnte nach dieser Feststellung durch das Standesamt wieder heiraten. Noch Jahre später führte dies in Einzelfällen zu schwierigen Situationen, menschlich und juristisch. Wenn ein Vermisster doch wieder „nach Hause“ kam, konnte die zweite Ehe aufgelöst werden. Die Presse beschäftigte sich ausführlich mit diesem Problem, ohne aber zu sagen, wie viele derartige Fälle es in Oberhausen gab.5

      Eine andere Folge des Krieges blieb noch auf Jahre täglich präsent: Die große Zahl von Kriegswaisen. Als im Frühjahr 1955 die Schüler des Geburtsjahrgangs 41 die Volksschule verließen – mit 14 nach der achten Klasse – und in den großen Lehrwerkstätten ihre Lehre begannen, war jeder Dritte Halbwaise. In den großen Hüttenwerken der Ruhr hatten von 470 handwerklichen Lehrlingen 150 keinen Vater mehr.6

      Nur ein Teil der Spätheimkehrer kam wirklich „nach Hause“. Viele kamen zu ihren Familien, die im ersten Nachkriegsjahrzehnt als Flüchtlinge und Vertriebene aus den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Grenze in Oberhausen gelandet waren. Dann hatte der Flüchtlingsstrom aus der Sowjetzone bzw. der DDR eingesetzt, der Jahr für Jahr „Quoten“ von mehr als tausend Personen nach Oberhausen spülte. Und in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre kamen die ersten „Gastarbeiter“ aus den Mittelmeerländern, zuerst aus Italien. Ein sehr hoher Anteil der Menschen in Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld musste sich in der Welt der Industrie, die nach wie vor diese Städte prägte, in den 1950er Jahren erst noch zurechtfinden. Und auch die übrigen, echten „Heim“-kehrer – als Jugendliche in den Krieg geschickt oder in der Nazi-Diktatur erwachsen geworden – fand eine für sie fremde Welt vor.

       Wiederaufbau – Neubauwohnungen – „Wohlstand für alle“

      Mitte der 1950er Jahre war die Not der Nachkriegsjahre überwunden. Es überwog ein grenzenloser Optimismus. Schon im Januar 1956 wurde gemeldet, dass die Bombenschäden fast vollständig beseitigt waren. Nun war Oberhausen, verglichen mit den Nachbarstädten, mit 35 Prozent Gebäudeschäden noch glimpflich davongekommen. Dass aber ein Jahrzehnt nach Kriegsende „Trümmer in Oberhausen schon Mangelware“ wurden, dass der „Wiederaufbau zu 87 Prozent erledigt“7 war, erfüllte den Vorsitzenden des Bauausschusses, der diese Zahlen vermelden konnte, mit berechtigtem Stolz. Es war längst nicht mehr nur der Wohnungsbau, der großen Baufirmen und Handwerkern Arbeit verschaffte. Die größten Baustellen lagen 1956 im Zentrum von Alt-Oberhausen, in einem Kreis mit 500 Meter Radius um die Verkehrsspinne Schwartz-, Tannenberg- und Danziger Straße. Für die damals riesige Gesamtsumme von sechs Millionen DM wurde an Erweiterungsbauten für das Naturwissenschaftliche Gymnasium, am Amtsgericht und am Rathaus gearbeitet. Innerhalb des 500-Meter-Kreises lagen auch die weitgehend schon fertig gestellten Gebäude des wieder aufgebauten Theaters, des Hauptbahnhofs, der Christuskirche und des Staatlichen Gymnasiums sowie die Neubauten des Gesundheitsamtes und des Europahauses. Hinzu kam 1958 die Fertigstellung des Friedensplatzes mit seinen Bäumen und Wasserspielen und der Baubeginn am Litopalast als Rahmen für die Lichtburg.8 Nur knapp außerhalb des genannten Kreises lag das alte Geschäftszentrum Marktstraße, wo auch fieberhaft gebaut wurde, wo z. B. C&A Brenninkmeyer gerade ein neues Groß-Kaufhaus hochzog. Die bis 1956 getätigten Bauinvestitionen allein für Behörden- und Geschäftsgebäude im Stadtkern summierten sich auf mindestens 30 Millionen DM, trieben in diesem Bereich die Grundstückspreise nach oben, hatten aber, wie man hoffte, weite „Ausstrahlungen in das Oberhausener Geschäfts- und Wirtschaftsleben“.9 Mit der stürmischen Bautätigkeit einher ging das rasante Wachstum der Stadtsparkasse, die im Januar 1957 ihr neues, drei Millionen DM teures Gebäude an der Marktstraße eröffnete.10

       Abb. 2: Das wieder aufgebaute Theater, 1949

      Parkplatzprobleme waren die zwangsläufige Folge der vielen neuen Gebäude, die in der Innenstadt hochgezogen wurden, ebenso wie des stark ansteigenden PKW-Verkehrs: „‚Ruhender Verkehr‘ quillt über“, titelte der „Generalanzeiger“ 1957. Die Photos, die das Problem mit dem „ruhenden Verkehr“ illustrieren sollten, nimmt der heutige Leser eher mit Schmunzeln zur Kenntnis: Auf der Nohlstraße zählt man um die Mittagszeit etwa zehn geparkte Autos, auf der Gewerkschaftsstraße sechs, auf der Saarstraße neun und auf der Gutenbergstraße acht Fahrzeuge.11

      Anders als im Umkreis der „Verkehrsspinne“ an der Schwartzstraße funktionierte im Oberhausener Norden die Bebauung nicht plangemäß. Zwar widersprach niemand den Parolen: „Unsere Zukunft liegt im Norden“ oder „Stadt wandert zum Wald“.12 Mancher träumte auch von einer Straßenbahnlinie bis zum Forsthaus Specht im Norden von Bottrop. Aber die Realisierung des am Buchenweg, im Sterkrader Norden, geplanten „Villenviertels“ kam nicht so recht voran. Dort sollte eigentlich attraktives Baugelände bereitgestellt werden, um Oberhausener Bürger, die viel Einkommenssteuer zahlten, in der Stadt zu halten. Die Erschließung dieses Geländes stagnierte aber, was den SPD-Fraktionsvorsitzenden Meinicke zu der bissigen Kritik veranlasste, Oberhausen sei in dieser Hinsicht noch „ein Dorf geblieben“. Wohlhabende bauwillige Einwohner neigten dazu, nach Mülheim, Kettwig oder Essen abzuwandern; diese Städte hätten „das Rennen gegen den Oberhausener Norden bisher klar gewonnen“. Der Kritiker Wilhelm Meinicke setzte in der Bauausschusssitzung durch, dass 40.000 DM für den Ausbau der Hagenstraße in Buschhausen verwendet wurden. Wohl nicht ganz zufällig lag dieses Projekt in seinem Wahlbezirk, was im „Straßenkampf“ um städtische Investitionen auch von den Genossen seiner eigenen Fraktion süffisant vermerkt wurde.13

       Abb. 3: Das Europahaus, 1956

      Bauland wurde in dieser Zeit bereits so knapp, dass im Bauamt damit begonnen wurde, die letzten Trümmergrundstücke und generell alle erschlossenen Flächen systematisch