Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 4. Группа авторов

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Название Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 4
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683203



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der Firma und trotzdem arbeiten sie. Und welche Interessen haben diese Menschen? Wie geht man darauf ein?

       Kommunen und Kommunalpolitik stehen heute vor der Herausforderung, die Zukunftsfähigkeit von Städten anders zu denken. Dabei hat das gesamte Thema Bildung in den letzten Jahren einen deutlich gewachsenen Stellenwert bekommen. Stellt sich aus Ihrer Sicht die Integration in das Beschäftigungssystem heute anders dar als beispielsweise vor 30 bis 40 Jahren?

      Der Strukturwandel hat viele Menschen doch auf ein Lohn- oder Einkommensniveau gedrückt, das unter dem der damaligen Montanindustrie liegt. Und entsprechend schlechte Bildungschancen vieler Kinder waren die Folge, einfach weil sie von zu Hause nicht gefördert werden, weil das alles nicht geht. Und jetzt klagt die Industrie über Facharbeitermangel. Das kann ich nur schlecht verstehen. Wenn ich daran zurück denke: Womit hat denn nach dem Krieg eigentlich der Aufschwung begonnen? Der Bergbau hatte ein eigenes Schulwesen, eigene Berufsschulen, eigene Fortbildungsschulen, Babcock hatte eine Werksberufsschule, die GHH auch. Da sind doch nicht die hingekommen, die solche Anforderungen erfüllt haben, wie sie heute gestellt werden. Sondern das hat die Industrie doch betriebsspezifisch übernommen und ausgebildet. Den Weg, den geht heute offensichtlich niemand mehr. Aber ich glaube, das wäre ein Weg, um Facharbeiter zu gewinnen. Das wäre auch ein Weg, um über Bildung im Sekundärbereich, über den zweiten Bildungsweg, einiges zu tun. Wir müssen sicher im Primärbereich, in den Schulen anfangen. Aber das ist damit nicht zu Ende. Die betriebliche Fortbildung kann nicht erst bei dem anfangen, der schon Facharbeiter ist. Sondern wir müssen diese Facharbeiter „erst machen“. Diese Aufgabe hat die Industrie damals wahrgenommen.

       (Fortsetzung siehe Seite 117)

       „Das Knappenviertel ist ein Ort des sozialen Strukturwandels“

      Interview mit Klaus Wehling (Teil 1)

       Der wirtschaftliche Strukturwandel hat einen sozialen und kulturellen Wandel ausgelöst. Das Erscheinungsbild der Stadt und die Arbeitssituation der hier tätigen Menschen wurden im Laufe mehrerer Jahrzehnte stark verändert. Dies führte zwangsläufig auch zu einschneidenden Veränderungen des Wohnumfeldes und der nachbarschaftlichen Kontakte.

       Als für die gesamte Stadt bedeutsames Beispiel haben in den letzten 50 Jahren derartige Prozesse im Knappenviertel stattgefunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden große Teile der alten Werksräume abgerissen, um durch eine neue Bebauung den damals dringend nötigen Wohnraum zu schaffen. Wie haben Sie, als Kind des Knappenviertels, diese bauliche Veränderung persönlich erlebt?

      Hautnah, weil ich selber in einem Hüttenhaus gewohnt habe, das 1958 abgerissen worden ist und der damals neuen Bebauung weichen musste. Und auch sehr wohltuend, weil wir dann in der neuen Wohnung auf der Falkensteinstraße zum ersten Mal ein Badezimmer hatten und nicht mehr in den Stall aufs Klo mussten.

       Für die von der Großindustrie geprägte Bevölkerung erfüllte das Knappenviertel in früheren Jahren alle wichtigen Versorgungsfunktionen. Seit den 1980er Jahren setzte ein Abstieg ein. Einzelhandelsgeschäfte und Handwerksbetriebe gaben auf, in den Wohnungsbestand wurde kaum noch investiert. Die Schließung des Thyssen Stahlwerks in den 1980er Jahren bedeutete Arbeitslosigkeit für viele Bewohner. Wie reagierten die Menschen im Knappenviertel auf diese neue Lebenssituation?

      Was die Nahversorgung anbelangt, ist positiv, dass sich aus meiner Sicht im Knappenviertel die Situation in einem positiven Sinn nicht verändert hat. Denn nach wie vor ist das Knappenviertel ein intaktes Nebenzentrum mit entsprechender Versorgung, was den Einzelhandel anbelangt, aber auch die ärztliche Versorgung. Grundsätzlich kann man sagen, dass wir es bei dem Knappenviertel mit einem intakten Stadtviertel zu tun haben.

      Ich würde gerne noch ergänzen, dass die in den 1960er Jahren gebauten Häuser inzwischen den Anforderungen nicht mehr genügen im Hinblick auf eine immer älter werdende Bevölkerung. Die Wohnungen sind nicht behindertengerecht wegen der in den 1960er Jahren gewählten Bauweise, weil man damals ja das Kellergeschoss nach oben gezogen, praktisch als Souterrain gebaut hat und damit das Erdgeschoss nicht ebenerdig war. Daraus ergeben sich Probleme nicht nur für Rollstuhlfahrer, sondern jetzt auch für Menschen, die auf Rollatoren angewiesen sind. Ich hoffe auf intelligente Lösungen für dieses Problem, weil diese Bauweise in Oberhausen sehr weit verbreitet ist, nicht nur im Knappenviertel.

       Als Mitte der 1980er Jahre die Krise der Stahlindustrie auch die Bevölkerung des Knappenviertels so richtig erreichte, sind ja eben auch Veränderungsprozesse in Gang gesetzt worden. Kann man sagen, dass der Besatz mit Geschäften und mit Versorgungseinrichtungen im weitesten Sinne, was die Privatwirtschaft betrifft, sich in den letzten 20 Jahren durchaus wieder zum Besseren entwickelt hat?

      Ja, auf jeden Fall. Wenn man sich z. B. die Angebote ansieht, die in unmittelbarer Nähe gegeben sind mit Aldi, Edeka, Penny und jetzt aktuell Netto, dann hat sich im Grunde die Einkaufssituation verbessert, allerdings sind die Wege länger geworden. Woran man längere Wege auch festmachen kann, ist das Kneipensterben. Davon ist das Knappenviertel, speziell die Knappenstraße, besonders betroffen. Wenn ich z. B. an die Traditionskneipe Töpp denke, die jetzt seit vielen Jahren geschlossen ist. Das war einer der wichtigen Treffpunkte im Knappenviertel. Wo z. B. die jährlichen Schützenfeste stattgefunden haben, aber auch viele Familienfeiern. Da gibt es heute kein vergleichbares Angebot mehr.

       (Fortsetzung siehe Seite 120)

       Klaus Wehling

      Geboren am 30. Mai 1947 in Oberhausen. Besuchte von 1953 bis 1957 die Falkensteinschule in Oberhausen (Volksschule), von 1957 bis 1963 die Anne-Frank-Realschule, absolvierte von 1963 bis 1966 eine Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Stadtsparkasse Oberhausen und war von 1966 bis 1970 Angestellter der Stadtsparkasse Oberhausen. Von 1966 bis 1970 besuchte er das Abendgymnasium der Stadt Duisburg, von 1970 bis 1974 studierte er an der Ruhr Universität Bochum, Studiengang Lehramt für berufsbildende Schulen mit den Studienfächern Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Pädagogik. 1974 Erste Staatsprüfung, 1974 bis 1976 Studienreferendar an den Kaufmännischen Schulen der Stadt Mülheim an der Ruhr, 1976 folgte Zweite Staatsprüfung, anschließend war er Studienrat z. A., ab 1980 Oberstudienrat, 1997 Studiendirektor. 1972 trat Wehling der SPD bei, 1979 wurde er Mitglied des Rates der Stadt Oberhausen, 1994 bis 1998 Vorsteher der Bezirksvertretung Alt-Oberhausen, 1998 bis 2004 Erster Bürgermeister der Stadt Oberhausen. 2004 wurde Wehling zum Oberbürgermeister der Stadt Oberhausen gewählt, 2009 im Amt bestätigt.

       Abb. 12: Klaus Wehling

      Nachdem das visionäre und in seiner Dimension die Vorstellungskraft vieler Oberhausenerinnen und Oberhausener übersteigende Shopping-Mal- und Freizeitprojekt Triple-Five (555) aus dem Jahr 1986 im Jahr 1988 am Widerstand von Nachbarn und Landesregierung gescheitert war, kennzeichneten vielfach Ratlosigkeit und eine unbestimmte Erwartung die Stimmungslage in Oberhausen zu Beginn der 1990er Jahre. Zaghaft lebte die Diskussion darum wieder auf, welche Nutzungen die zentralen ehemaligen Industrieflächen an der Essener Straße im Herzen der Stadt zukünftig bestimmen sollten. Das Scheitern der Dienstleistungspläne gab manchen Überlegungen der 1980er Jahre neuen Auftrieb: Ökologische Renaturierung als „Grüne Mitte“, oder vielleicht doch eher die Ansiedlung eines großen Industrieunternehmens? Schließlich hatten sich sowohl Volvo für ein LKW-Montagewerk als auch die Heidelberger Druckmaschinen AG, Weltmarktführer in ihrem Geschäftssegment, für die Neue Mitte Oberhausen als Standort interessiert. Doch die große Weltpolitik wirkte sich um 1990 unmittelbar auf die Perspektiven des Strukturwandels in Oberhausen aus. Mit der politischen