Tiefraumphasen. Группа авторов

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Название Tiefraumphasen
Автор произведения Группа авторов
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783957770103



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Für Buster ohnehin nicht.

      Er versuchte, sich an die letzte Position seines Schiffs zu erinnern, doch die gedankliche Sternenkarte brach immer wieder in sich zusammen. Kurz blinkten Planeten, Monde und schattenhafte Gaswolken auf. Doch jede Orientierung erlosch bei längerem Nachdenken in dumpfem Grau.

      Ein Mädchen stand unweit von ihm. Sie hieß Fay. Er hatte keine Ahnung, woher er ihren Namen kannte. Sie war ganz plötzlich aufgetaucht. Fay lächelte fröhlich, streckte die Arme aus und jauchzte.

      »Mami, Papi, guckt mal hier!«

      Sie lief auf die Teiche zu. Aufgeregt, glücklich. Zwei Erwachsene folgten. Wo waren die hergekommen? Sie hielten sich an den Händen. Die Mutter, eine schlanke Frau, mit langen dunklen Haaren, legte ihren Kopf an die Schulter des Mannes. Familienglück. Sie flanierten ihrer aufgebrachten Rennmaus von einer Tochter hinterher. Unterhielten sich leise. Ignorierten ihn, sahen ihn nicht. Die Finger der Frau wanderten über den Rücken ihres Mannes, zwickten ihn neckisch in den Hintern. Er machte einen kleinen Hopser, lachte, umarmte sie.

      »Was soll der Scheiß?«, knurrte Buster nun deutlich übellauniger.

      Riss.

      »Du wirst mich vergewaltigen, oder?«

      Furcht hatte in ihrem Blick gelegen. Ein kurzes, dunkles Flackern, das erahnen ließ, welches Leid ihr die Vergangenheit bereits zugefügt hatte. Eine tiefe Furche aus Angst vor dem, was ihr schon oft widerfahren war. Erwartung einer weiteren Narbe an Fleisch und Seele. Buster hatte nicht geantwortet. Fay hatte nie wieder gefragt.

      Tagelang hatte sie in der kleinen Kammer des Schiffs gekauert, die kaum mehr als ein Abstellraum war. Die Prism, wie der alte, vielfach geflickte Kahn hieß, den Buster durch die endlosen stellaren Meere aus Schwärze treiben ließ, schnürte Fay die Kehle zu. Enge, muffige Gänge. Offene Kabelknäule, die wie finsteres Gedärm aus Decken und Wänden hingen. Ganze Wulste, vor denen die Abdeckungen fehlten.

      Sie kannte Gefangenschaft und das Gefühl, das sie auslöste. Die Instinkte, die erwachten, wie bei einem Tier, das in eine lichtlose Ecke getrieben wurde. Der hohe Pulsschlag, die eklige innere Kälte, die sie schwitzen ließ. Zittern. Stundenlanges Vorund Zurückwippen. Das Flüstern der zarten Mädchenstimme in ihrem Kopf und die Worte von Tod und Schmerz.

      Bei jedem Kerker gab es ein Draußen. Auch wenn man es oft vergaß – nicht mehr wusste, wie Sonne und Sterne aussahen, das Sirren von Botschwärmen klang und wie Liebe schmeckte. Sie sah aus einem der kleinen, runden Fenster in die Weite des Alls. Hier war kein Draußen, in das sie hätte fliehen können. Diese Falle war perfekt. Ein Gefängnis, das sie lebendig begraben hatte. Ausweglos. Fern von allem Sein und Hoffen. War die Leere die schlimmste aller Mauern? Sie nickte stumm, wendete sich von dem grässlichen Anblick ab, streichelte die kühle Haut des Schiffs und spürte das Pulsieren von Furcht im Takt ihres Herzschlags. Und doch fühlte sie sich auf merkwürdige Weise verbunden mit dem Schiff. Es besaß ebenso viele tiefe Narben wie sie selbst. Die Prism war eine geschundene Reisende, deren Ziel irgendwann ein grauer Friedhof sein würde. Eine Schrotthalde auf einem der Monde um Enigma möglicherweise. Ausgeschlachtet, weggeworfen, vergessen. Bedeckt von Unrat aus brennendem Plastik und Metallgeröll. Zerfressen von rostigem Wasser, das durch Wundlöcher in den Leib sickerte.

      Noch immer versuchte sie, Buster auszuweichen. Seinem Körper, seinen Blicken. Er hielt sich zurück, gab ihr Nahrung und VitaDrinks. Erklärte die Systeme des Schiffs und ihre Position anhand einer veralteten Sternenkarte. Sogar ein wenig geputzt hatte er, aber sie traute seinen Bemühungen nicht. Viele hielten Vergewaltiger und Menschenschänder für degenerierte Irre, die im Müll hausten und mit offener Hose um die Wohncontainer junger Frauen schlichen. Das Leben hatte Fay eines Besseren belehrt. KI-Chirurgen, Upperclass-Hacker, Spekulanten, einfache Familienväter. Das Böse hatte so viele Gesichter, dass es keine Fotosoftware gab, um sie alle zeichnen zu können. Die Väter waren die schlimmsten.

      Eine Erinnerung. Buster hieß sie nicht willkommen, dennoch brannte sie ihre Bilder in seinen Kopf.

      Seit Tagen nur Schwärze. Keine Sonne. Kein Licht, das sich träge durch den Raum bewegte. Der endlose Rand der Universen. Ein Schlund aus ewigem Nichts. Erdrückend, niederschmetternd. Totes Sein, das den Beobachter anstarrte. Immerzu anstarrte. Das an Verstand und Seele nagte. Optische Täuschungen schlichen sich in die Gedanken, gaukelten Dinge vor, die es nicht gab. Lichter, zuckend und verführerisch flirrend, wie Wegweiser zu rettenden Inseln. Man folgte ihnen besser nicht. Sonderbare Geräusche huschten in dem Schiff umher. Knarren, Klopfen. Klauen an der Außenhülle, die schabend um Einlass bettelten. Stimmen aus dem Nichts. Aus der äußeren und inneren Leere. Tote Echos von elektrischen Träumen. Man begann, mit den Maschinen zu sprechen. Mit sich selbst. Erschrak vor der eigenen Stimme, die plötzlich und unkontrolliert aus dem Mund kam. Es schien, als wären Andere Herren des eigenen Körpers, der eigenen Gedanken. Und sie waren ganz nah. Beobachteten.

      Diener des Nichts. Sie drangen in Geist und Verstand, spielten mit Erinnerungen.

      Prozessoren flüsterten algorithmische Lieder. Gebete aus Nullen und Einsen. Armaturen blinkten. Anzeigentafeln, Monitore. Flimmern. Morsecodes der Hardware. Entleerter Sinn, zu tief, um ergründet zu werden.

      Nie wieder würde Buster dorthin zurückkehren. An den Rand. Zu den Gefilden des Nichts und der Tyrannei der Schwärze.

      Die Reise dorthin hatte etwas mit ihm angestellt, ihn mit etwas beseelt, das er nicht benennen konnte. Leben? Oder mit dem Gedanken, dass man Dinge zu Ende bringen musste. Wirklich zu Ende.

      Obwohl diese Reise eine Ewigkeit her war und er sich im Anschluss alt und gebrechlich gefühlt hatte, war sie doch ausschlaggebend für seinen Entschluss gewesen, das Mädchen zu holen.

      Das Haus, aus dem er Fay gezerrt hatte, lag hinter hohen Mauern verborgen, nahe dem Zentrum von Kirinaar. Vor zwei Jahren hatte er sie dort deponiert. In Staub und kaltem Grau. Zwischen Bestien und ihrem stöhnenden Laster.

      Die Stadt nahm mit ihren Wucherungen aus schmutzigen Kunststoffhütten und Hartgipshäusern die gesamte Fläche der Insel Yor ein. Umgeben von einem öligen Meer, in dem nichts lebte. An der Grenze zu den Maschinenkontinenten Zèl und Hyponhor.

      Buster nickte dem stämmigen Sicherheitsmann vor der rot lackierten Tür zu und trat ein. Flache MCD-Monitore an den Wänden im Inneren priesen die Angebote und Möglichkeiten des Hauses an. Ein 3D-Lageplan baute sich auf, rotierte, zeigte die Anordnung käuflicher Lust. Buster ignorierte ihn. Hier kannte er sich bestens aus, und die Etage, auf die er wollte, wurde von der Besucherinformation eh mit keinem Wort erwähnt. Das kleine Foyer, mit Plastikpflanzen und knisternder Emostep-Musik aus verborgenen Boxen, ließ er achtlos hinter sich. Für einen Moment hielt er, um seine ID auf der Netzhaut scannen zu lassen und das übliche Besucher-Plugin herunterzuladen. Kurz darauf flackerte vor seinen Augen ein »Herzlich Willkommen« in dunklen, roten Buchstaben.

      Freigabe: Buster M* | Freier Mitarbeiter

      Die Gänge waren schmal und diffus beleuchtet. Als treibe man durch enge Spalten aus Korallen und rotem Seetang. Hier und da waren Öffnungen, und manch eine enthielt eine hungrige Muräne, die mit sachten Schwanzschlägen ihre Opfer lockte. Buster stapfte entschlossen weiter, ignorierte die grell geschminkten Gesichter, die sich an die Türrahmen schmiegten und Lustvolles hauchten.

      Knappe, enge Unterwäsche. Rote Schmollmünder. Chirurgisch optimierte Körperlinien. Billiges Parfüm hing in der Luft, verklebte Lunge und Verstand. Er spürte die Wirkung des Chemococktails aus Hormonen und Duftsporen. Seine Handflächen begannen, feucht zu werden. Der Herzschlag beschleunigte sich. Er blinzelte kurz und rief sein Bio-Interface auf. Flackernde Anzeigen. Zahlen, die sich im Sekundentakt änderten. Vitamin C und E auf kritisch niedrigem Niveau seit mehreren Tagen. Er würde sich demnächst eine entsprechende Injektion verpassen. Gedanklich tauchte er in den Dschungel aus Anzeigefenstern, Diagrammen und Vitalscans. Regulierte den Adrenalinspiegel etwas runter. Aktivierte eine zusätzliche Kolonie Antikörper gegen äußere chemische Einflüsse. Er mochte die winzigen Kerlchen. Binnen weniger Minuten würden sie mit dem Parfumniesel, der auf seinen Schleimhäuten klebte und in seine Blutbahnen sickerte, gründlich aufräumen.

      Er