Tiefraumphasen. Группа авторов

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Название Tiefraumphasen
Автор произведения Группа авторов
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783957770103



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Obwohl das Metall natürlich immer noch in seinem Kopf steckt. Er hat sich zu mir ans Fußende der Liege gesetzt.

      »Was könnte ich?« Ich reibe mir die schmerzenden Augen.

      »Sterben. Darauf läuft es doch sowieso hinaus. Wozu also warten?«

      »Das wäre aber gegen die Vorschrift zu überleben«, entgegne ich und unterdrücke ein hysterisches Kichern.

      »Dein Grinsen ist fürchterlich, so ohne Zähne«, sagt Jorge.

      »Wie lange habe ich geschlafen?«

      »Hundertundvier Minuten«, sagt die Kriecher-KI.

      Warum schlafe ich nie länger als ein oder zwei Stunden?

      Der Kriecher stoppt ruckartig, ich halte mich am Rand der Liege fest. Jorge winkt zum Abschied und verblasst vor meinen Augen. Ich bin hellwach.

      »Was ist los?«

      »Abfallendes Gelände.«

      Ich habe das dringende Bedürfnis, mich zu strecken, meine Arme und Beine so lang zu machen, wie es nur irgend geht, was in meinem Kubus voller Instrumente und Ausrüstungskisten nicht so leicht möglich ist.

      »Außentemperatur, Strahlung?«

      »Im tolerierbaren Rahmen.«

      Ich stülpe mir den Helm über, lasse mich kurzentschlossen nach draußen schleusen. Vorsichtig, um nicht durch die Kruste zu brechen, gehe ich ein paar Schritte. Hinter dem Kriecher die dunkle Ebene, durchzogen von erstarrten Goldadern, die auf die Sonne warten. Über mir ein ovaler Abgrund aus nacktem Himmel. Keine Sterne natürlich, nicht mal die hellsten, nur Acrux glüht weit in die Atmosphäre hinauf. Rechts von mir ist das Rot intensiver und erinnert mich daran, nicht zu lange auszuharren, mich weiter mit der Zone zu bewegen.

      Links und vorne ein Abgrund. Verkohlte Formationen werfen kilometerlange Schatten, die mir den Weg weisen. Na schön. Ich muss gegen den lächerlichen Drang ankämpfen, mir den Helm von Kopf zu reißen und mich einfach da runterzuwerfen. Stattdessen kehre ich in den Kriecher zurück.

      »Spinne«, sage ich zur KI.

      Der Kriecher fährt die Arme aus, und wenige Minuten später klettern wir kopfüber und in verbissenem Schweigen den Steilhang hinab.

      »Sonification«, verlange ich. »Unspezifisch, Fächersuche.« Wir kennen das schon, alle paar Stunden dasselbe Ritual. Ich will wissen, was uns vom Himmel gerissen hat.

      Acrux fängt an zu wispern wie ein uraltes Gespenst, 79 keckert, und weit, weit im Süden singt irgendetwas in einem beißend hellen Sopran. Dort muss ich hin.

      4.

      Irgendwann später. Vielleicht sogar so viel später, dass die Fabriken schon bald kommen? Mich aufnehmen, retten, meine Rezeptoren reparieren, mich endlich wieder schlafen lassen? Darum höre ich nicht auf Jorge, wenn er mich auslacht, weil ich immer noch lebe. Wegen der Hoffnung.

      Die Luft im Kriecher ist stickig, keine Ahnung, wie oft sie schon wiederaufbereitet wurde. Der Sauerstoffgehalt sinkt. Natürlich liege ich meistens, bewege ich mich so wenig wie möglich, während der Kriecher um den Planeten eilt, immer vor der Sonne weg und mit einem Drall nach Süden, der größer wird, je weiter wir uns vom Äquator entfernen.

      »Du solltest wirklich endlich richtig schlafen«, sagt Jorge. Er läuft rastlos im Cockpit hin und her, zwei Schritte in die eine, zwei in die andere Richtung. Ich nehme seine Bewegungen nur aus dem Augenwinkel wahr.

      »Haha«, antworte ich und drehe mich mit dem Gesicht zur Wand. »Wahnsinnig komisch.«

      »Du siehst aus wie eine Gottesanbeterin, wenn du im Halbschlaf mit den Armen so vor dir rumruderst«, sagt Jorge vorwurfsvoll.

      Ich wiege kaum mehr fünfzig Kilo, und ich habe jetzt ständig leichtes Fieber. Ein Mittel, das Schlaf herbeiführen könnte, gibt es nicht, weil es Rezeptoren im Gehirn erreichen müsste, die nicht mehr vorhanden sind. Die Unfähigkeit zu schlafen führt zu Wahnbildern und physischen Begleiterscheinungen. Begründung: Das Hirn kann ohne Schlaf sein Zellvolumen nicht verringern, um Stoffwechselabfälle abzutransportieren. Ich habe jetzt wirklich eine Menge Müll im Kopf.

      Theorie: Die kurze Periode ohne Helm während des Absturzes ist schuld. Entweder war es etwas in der Atmosphäre oder es liegt an der Strahlung, jedenfalls sind die Rezeptoren in meinem Hirn hinüber. Und Schlafmittel bekomme ich auch nicht mehr. Reine Verschwendung.

      Irgendwann werde ich also endgültig liegen bleiben. Ich wünschte nur, es wäre so, dass mich dann nicht der Tag, sondern die Nacht einholt. Es ist einfach kein schöner Gedanke. Weltraumkälte und die Hoffnung auf einen letzten Blick nach draußen, das wäre mir lieber.

      »Willst du nicht endlich einfach Ende machen? Das ist doch eine völlig nutzlose Quälerei.«

      »Jorge, halt‘s Maul. Wenn du die ganze Zeit quatschst, kann ich erst recht nicht schlafen.«

      Jorge verzieht sich nach draußen, vielleicht ist er beleidigt. Ich sehe ihn durch den Frontschirm, wie er auf einer Goldader hin und her schlittert. Im Grunde macht er es richtig. Draußen sein, Helm ab, Luft auf der Haut. Er ist schon drüben, auf der anderen Seite. Er hat keine Probleme mit dem Schlafen, mit dem Atmen, mit Schmerzen. Was hält mich also hier noch auf? Ich fange an zu zittern, mein Herz rast, ich bekomme keine Luft, meine Arme schlagen um mich, mein Kopf knallt gegen die Wand, einmal, noch mal, völlig unkontrolliert, tut verdammt weh.

      Und dann plötzlich etwas ganz Himmlisches. Bevor ich weg bin, begreife ich: Das ist eine Injektion! Die KI knockt mich aus!

      Keine Ahnung, was sie mir gibt. Aber ich bin auf dem Weg. Der beste Turn, den ich je erlebt habe.

      Als ich zu mir komme, liege ich auf dem Boden und weine vor Enttäuschung, dass es schon wieder vorbei ist. Dennoch. Ich fühle mich beinahe ausgeruht. Eine helle Sinuskurve flirrt durch die Kabine.

      »Was ist das für eine Sonification?«

      »Deine Hirnwellen«, erklärt die KI. «Derzeit bist du vollständig wach.«

      »Was hast du mit mir gemacht?«

      »Ich bin erst jetzt darauf gekommen.« Schwingt da ein Anflug von Stolz in der sonst neutralen Stimme? Oder liegt das nur an der typisch menschlichen Art, in alles irgendetwas rein zu interpretieren?

      »Eine einfache Narkose. Sie funktioniert unabhängig von den

      Schlafrezeptoren.«

      Ich rapple mich auf, setze mich ins Cockpit.

      »Genial!« Ich blicke mich vorsichtig um. Von Jorge ist weit und breit nichts zu sehen, weder draußen noch im Kriecher. »Das heißt, du bringst mich durch, richtig?« Keine Ahnung, warum ich die Stimme so verschwörerisch senke.

      »Nein. Ich kann dich nur gelegentlich in Narkose versetzen, um dir eine Pause zu verschaffen. Aber das ist kein Schlaf.«

      »Na schön. Und wie viel Zeit kannst du mir auf diese Weise verschaffen?«

      »Kein Zeitaufschub. Wie gesagt, nur ab und zu etwas Ruhe.« Der Drang zu flüstern, lässt nach.

      »Prognose?«

      »Vier bis sechs Wochen.«

      Ich schweige, versuche, das mental zu verstoffwechseln.

      Der Klang der Sinuskurve rutscht eine Quarte nach unten.

      »Was bedeutet diese Frequenz?«

      »Du trittst in eine Dämmerphase ein, die in einen Traumzustand überleitet.«

      Während ich wach bin? Das ist doch verrückt.

      »Kommst du raus?« Jorge streckt mir eine Hand entgegen, lächelt. »Ich habe einen abschüssigen Goldfluss entdeckt. Wir könnten Schlitten fahren. Ohne Helm.«

      »Was?«

      Ich schrecke hoch. Die Traumphase ist vorbei.

      5.