Tiefraumphasen. Группа авторов

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Название Tiefraumphasen
Автор произведения Группа авторов
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783957770103



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Minuten.

      Wachphase: siebenundvierzig Minuten.

      Dämmerzustand: tausenddreiunddreißig Minuten.

      Wir sitzen fest. Das hier ist nicht nur ein Abhang, den wir überwinden müssen, sondern wir stehen auf einem Überhang.

      Die KI sagt, sie schafft das nicht allein, sie ist nur eine KI, ihr fehlt die Intuition, das Gefühl für den nächsten Schritt, das auch in ausweglosen Situationen einen Weg finden kann. »Wir können manuell klettern. Wenn wir uns beeilen ...« Die KI sagt Nein. Jorge auch.

      »Du bist ein Zombie«, sagt er vorwurfsvoll. »Du hast nicht ansatzweise die Vigilanz, um das schaffen zu können.« Die KI pflichtet ihm bei.

      Das Universum als Ganzes ist perfekt ausbalanciert, zu allem, was es gibt, gibt es auch ein Gegenteil, und wenn es das nicht gibt, gibt es auch das andere nicht. Kein Licht ohne Schatten und so weiter. Ich muss ein bisschen lachen. Jorge und die KI haben ja nicht unrecht. Wenn der Schlaf ausfällt, gibt es auch kein Wachsein. Nicht wegen der übermäßigen Erschöpfung, sondern wegen der Perversion. Was keine Ruhe findet, ist weder lebendig noch tot. Es hängt irgendwie dazwischen.

      »Alternativen?«

      »Erstens – ich kann dich in ein künstliches Koma versetzen und den Kriecher so weit ins Gestein graben, dass du die Tagphasen überstehst.«

      »Wie lange geht das gut?«

      »Wenn die Muskeln regelmäßig stimuliert werden, Lagewechsel,

      Ernährung ... ein paar Monate oder Jahre.«

      »Gefahren?«

      »Ich kann nicht garantieren, dass dein Bewusstsein ausgeschaltet wird. Du könntest wahnsinnig werden.«

      »Und zweitens?«

      Die KI scheint zu zögern, Jorge springt für sie ein: »Auf den Tod warten, der angesichts der Tatsache, dass deinem Körper die physiologische Fähigkeit zu schlafen abhanden gekommen ist, in nicht allzu ferner Zukunft eintritt. Und drittens – nicht auf den Tod warten, sondern ihn selbst herbeiführen. Dafür gibt es verschiedene Optionen. Eine Injektion. Ohne Schutzanzug nach draußen gehen. Oder einfach hier auf die Sonne warten. Ich finde, wie gesagt, die zweite Option ganz reizvoll.«

      Eine Weile muss ich weg gewesen sein, denn als ich plötzlich mit einer Idee aufschrecke, hat Jorge es sich auf meiner Liege bequem gemacht und spielt an dem Metallstück herum, das aus seinem Kopf ragt.

      »Jorge, du könntest es für mich machen!«

      Wann immer ich ihn sehe, wirkt er vollkommen klar und ausgeruht. Er ist die Ruhe selbst.

      Jorge grinst. »Mit dem Auge? Ich kann doch kaum geradeaus gucken.«

      »Das kann die KI ausgleichen.«

      Jorge schweigt, betrachtet die Decke über sich.

      »Was sagst du?«

      »Ich muss darüber nachdenken.«

      Er steht auf, gleitet durch den Sichtschirm nach draußen und schlendert gefährlich dicht am Abgrund entlang. Wenn er das kann mit dem Auge, dann kann er auch den Kriecher nach unten bringen.

      Ich drehe die kosmischen Stimmen lauter. Das Murmeln gibt mir das Gefühl, nicht so allein zu sein. Es stimmt, wir haben bisher kein Leben auf anderen Planeten gefunden. Trotzdem ist Leben da draußen, ich weiß das genau. Das ganze verdammte Ding, das man Universum nennt, ist lebendig. Es kann gar nicht anders sein.

      Wir haben jetzt nicht mehr viel Zeit, um in die Wand zu kommen, wenn wir der Sonne weiter davonlaufen wollen. Wenn Jorge in zwei Stunden nicht zurück ist, muss ich die KI bitten, uns einzugraben.

      »Weißt du, was dein Problem ist?«

      Ich fahre zusammen. Jorge hat dicht an meinem Ohr gesprochen, ich spüre seinen Atem im Nacken, heiß und nach Verwesung stinkend.

      »Im Grunde hast du unendlich viel Raum zur Verfügung, aber du bist niemals wirklich ein Teil von ihm. Du steckst dein ganzes Leben in Schiffen, Habitaten, Anzügen. Du bewegst dich endlos durch den Raum und bist trotzdem ständig eingesperrt. Darum sage ich, nimm die zweite Option. Stell dich endlich dem Raum.

      Geh da raus und atme!«

      »Jorge, gibt es eine Hölle?«

      Er lacht auf. »Falls ja, bist du gerade mittendrin.«

      »Wie ist es auf der anderen Seite?«

      Jorges Stimme wird ganz weich, lockend. »Es sind alles bloß Wellen, weißt du. Du kannst sie nicht nur hören, sondern auch sehen, schmecken, fühlen. Sie durchdringen dich. Wird dir wirklich gefallen.«

      Es klingt wirklich schön ... aber ... nein!

      Jorge ist ein Produkt meines erschöpften Gehirns. Er ist eine ausschließlich für mich sichtbare Manifestation von Wunschdenken. Fragt sich nur, warum ich ihm dann nicht endlich mal den Splitter aus dem Kopf entferne und seine aus den Fugen geratenen Gesichtsproportionen geraderücke.

      »Das sagst du nur, um es mir leichter zu machen.«

      »Stimmt.«

      »Bitte, Jorge. Tu‘s für mich. Wenn es schiefgeht, stürzen wir eben ab, und dann hast du deinen Willen.«

      »Eigentlich könnten wir auch einfach über den Rand marschieren. Wenn du einen Absturz von mehreren Kilometern Höhe überlebst, sollte das hier doch ein Klacks sein, oder?«

      »Machst du es?«

      Jorge lächelt und schüttelt den Kopf, bevor er, aufreizend langsam, in die Wände hineindiffundiert.

      »Na schön, du Arsch. Dann schaffe ich es eben allein«, knurre ich.

      Ich taste mich vorwärts, mit dem ersten Bein, dem zweiten, kippe den Kriecher in die Wand. Ich bin hellwach, hochkonzentriert.

      6.

      Ja, ich weiß, der Zeitverlust, und die Tagzone ist bedrohlich nahe. Es ist heißer geworden, brütend, dumpf, fiebrig. Aber noch nicht lebensgefährlich. Und ich habe wieder festen Grund unter mir, es geht weiter, Stunde um Stunde um Stunde. Jorge ist bisher nicht wieder aufgetaucht. Jorge kann mich mal!

      Der Kriecher ist voller Lärm, intensiv, dröhnend, bohrend, und ich vertreibe mir die Zeit damit, alle möglichen Muster da rein zu hören, mir Stimmen auszudenken, die zu mir sprechen. Ob ich schlafe oder träume oder nicht, ist mir mittlerweile egal.

      Irgendwann bemerke ich, dass Jorge zurückgekehrt ist. Er schweigt, grimmig und mit verschränkten Armen. Vielleicht, weil ich immer noch lebe.

      Und zwischen dem ganzen Geknatter und Geschnatter höre ich plötzlich, vollkommen klar, eine Frauenstimme: »Wir haben hier was«, sagt sie. »Eine kleine Einheit, am Boden unterwegs. Aus Nordwest.«

      Und eine Männerstimme antwortet: »Hey ho, lebt da etwa noch wer?«

      »Nicht, dass der uns noch was anlockt«, sagt die Frau.

      »Wieso, weiß doch niemand, dass die hier sind.«

      »Trotzdem. Kümmert euch drum.«

      Mein Mund ist furchtbar trocken, meine Stimme viel zu hoch, ich habe Mühe, verständliche Worte rauszubringen: »Hier Somma Sanktus Zwo vom Erkunder Smoot. Ich bin in einem Kriecher unterwegs Richtung Süden und in einer Notlage, bitte helfen Sie mir. Können Sie mich hören?«

      Ich wiederhole den Notruf, beschleunige, bin aufgeregt.

      Jorge legt mir eine Hand auf den Arm. »Besser nicht.«

      »Aber sie müssen ganz nah sein!«

      Das waren echte menschliche Stimmen. Ich bin mir sicher, keine Wahnvorstellung, die mein Hirn generiert, weil es um jeden Preis überleben will. Das war echt. Und ich bin wach.

      »Somma, lass es lieber. Mach es nicht so.«

      »WAS willst du von mir? Dass ich so tue, als wären