Название | Buchstäblichkeit und symbolische Deutung |
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Автор произведения | Matthias Luserke-Jaqui |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783772002151 |
Der Philosoph Ralf Konersmann nennt KulturKultur „die Bewahrung des Möglichen. Die Weite ihres Horizonts ist der Lohn der Kontingenz“16. Seine These lautet, „die häufig beobachtete und beklagte Unschärfe des Kulturbegriffs ist diesem unveräußerlich […]. Kultur ist, was man außerdem macht: Handlungsnebenfolge“17. Kulturphilosophie wird hier zu einer Spurensuche dessen, was nicht gegenwärtig ist, Kultur ist demnach in ihrer Abwesenheit anwesend. Kultur sei „unverfügbar. Sie wird nur mittelbar, in den Problemen dingfest, die man ohne sie nicht hätte“18. Wie aber hat man sich das vorzustellen? Diese Unschärfe des Kulturbegriffs bedingt möglicherweise das, was Eckhard HenscheidHenscheid, Eckhard unter dem Lemma Kulturbegriffskultur verzeichnet hat.19 Und Harry Haller, Hermann HessesHesse, Hermann Steppenwolf seines gleichnamigen Romans von 1927, fragt: „War das, was wir ‚Kultur‘ […] nannten, war das bloß ein Gespenst, schon lange tot und nur von uns paar Narren noch für echt und lebendig gehalten?“20 Geoffrey HartmanHartman, Geoffrey wiederum hat uns das Diktum von Max WeberWeber, Max in Erinnerung gerufen: „‚Kultur‘ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“21. Hartman stellt sich und seinen Leserinnen und Lesern die bedrückende Frage, ob das Reden über KulturKultur in den vergangenen fünf Jahrzehnten (wobei er diesen Zeitraum nach dem Holocaust mit Bedacht wählt) mehr bewirkt habe, als in den 200 Jahren davor.22 Doch gibt es zum Wissenschaftsfatalismus keinen Grund. Die historische Wirkung von Rede und vom Reden liegt jenseits rhetorischer Strategien, die Wissenschaft hat sich von Heilserwartungen frei zu halten, holistische Welterklärungsmodelle, auch wenn sie modisch schick als KulturtheorienKulturtheorie auftreten, sind heute mehr denn je unangebracht. Die geistreichen Aperçus über Kultur indes sind nahezu unerschöpflich. So zitiert HartmanHartman, Geoffrey etwa aus EmersonEmerson, Ralph Waldos Essay CultureCulture: „Kultur ist ein Korrektiv gegen Erfolgstheorien“23. Man könnte diese Sentenz auch dahingehend variieren, dass man sagt, Kulturtheorien scheinen ein Korrektiv gegen Erfolg zu sein. Gewiss, Kultur braucht man nicht im Sinne einer unerlässlichen Zweckanwendung; die Menschen brauchen keine Kultur, es gibt keinen notwendigen Grund, weshalb wir Kultur benötigten, weshalb Opernhäuser und Schrift, Tischsitten und Umgangsformen, Kommunikationsweisen, VerhaltensstandardsVerhaltensstandard und BewusstseinsformenBewusstseinsformen existieren. Nur, ohne Kultur ist der Mensch nichts, ohne Kultur gäbe es den Menschen nicht, und ohne Kultur lebten wir immer noch vegetativ oder primatenhaft. Der Evolutionsanthropologe Michael TomaselloTomasello, Michael definiert kulturell „im Sinne des Zusammenlebens und gegenseitigen Verstehens (und Mißverstehens), was die Grundlage allen menschlichen Soziallebens ausmacht“ und entwickelt die These, „daß die menschliche Kognition aufgrund der menschlichen Gemeinschaft so ist, wie sie ist, d.h. aufgrund jener besonderen Form soziokultureller Interaktion und Organisation (jener traditionellen Lebensweise), die sich bei keiner anderen Art auf diesem Planeten findet“.24 So erscheint ihm eine natürliche Sprache als eine „symbolisch verkörperte soziale Institution, die sich historisch aus zuvor existierenden sozio-kommunikativen Tätigkeiten entwickelte“25. Menschliche SymboleSymbol seien „wesentlich sozial, intersubjektiv und perspektivisch“, darin würden sie sich grundsätzlich von den anderen Formen der „sensu-motorischen Repräsentation“ unterscheiden, „die allen Primaten und anderen Säugetieren gemein ist“.26
Die Bandbreite der zur Verfügung stehenden Theorieangebote für eine KulturgeschichteKulturgeschichte der Literatur der Literatur ist zwar groß, die Unterschiedlichkeit könnte aber kaum größer sein. Die Einzelergebnisse der Arbeiten der achtziger und frühen neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts gehören zweifelsohne in eine umfassende, detaillierte Wissenschaftsgeschichte der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Besonders hervorzuheben sind an dieser Stelle die Diskussionsergebnisse der Münchener Forschergruppe zur SozialgeschichteSozialgeschichte der deutschen Literatur, welche die Debattenthemen der 1970er- und 1980er-Jahre folgendermaßen resümiert:27 Erstens, der bis dahin enge Literaturbegriff, der sich lediglich auf das Kriterium der FiktionalitätFiktionalität stützte, wandelt sich zum erweiterten Literaturbegriff, der auch nicht-fiktionale Texte umfasst. Zweitens, auch der Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft ändert sich, es entsteht ein erweiterter Gegenstandsbereich hinsichtlich der ProduktionProduktion, DistributionDistribution und RezeptionRezeption von LiteraturLiteratur. Drittens, der Zusammenhang von „‚Literatur‘ und ‚Nicht-Literatur‘“28, insbesondere von Literatur und Gesellschaft, rückt in den Vordergrund. Viertens, Probleme der literaturgeschichtlichenLiteraturgeschichte Darstellung werden diskutiert (Makrostrukturen – Mikrostrukturen, Diachronie – Synchronie, Kontinuität – Diskontinuität, Text – Kontext, Ereignis – Struktur). Fünftens, Modelle des Wandels von LiteraturLiteratur im Verhältnis zu anderen historischen Evolutionsmodellen, die Beziehung zu ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen sowie Periodisierungsfragen gewinnen an Bedeutung. Sechstens, die Orientierung an fachübergreifenden Problemstellungen ist unverzichtbar, dies betrifft insbesondere die Theorie- und Methodenanleihen der Literaturgeschichtsschreibung. Siebtens, dies führt letztlich zur Infragestellung der gängigen Wertungen und Kanonisierungen von Literatur. Dieser Theorieansatz plädiert für die Anbindung einer zu schreibenden SozialgeschichteSozialgeschichte der Literatur an die Theoriediskussion Talcott ParsonsParsons, Talcott, dessen Defizienz im Hinblick auf das Teilsystem Literatur gleichwohl erkannt wird. Skepsis wird gegenüber dem Modell einer empirischen Theorie der Literatur formuliert, da diese einen Totalitätsanspruch intendiert, der durch die konkrete Textarbeit der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft nicht eingeholt werden kann. Die Unterscheidung zwischen handlungs- und textbezogenen literaturwissenschaftlichen Konzepten dürfe nicht a priori aufgehoben und deren Differenzqualitäten dürften nicht unkritisch nivelliert werden. „‚Texte‘ bleiben das entscheidende ‚Datenmaterial‘ für den Literaturwissenschafter“29. Der ausdrückliche Erhalt der HermeneutikHermeneutik als Brückenwissenschaft zu anderen PhilologienPhilologie sowie zur Philosophie-, Ideen- und Religionsgeschichte, zur Anthropologie und zur Alltagsgeschichte wird betont.30 Diese Unterscheidungsleistungen verwischen stellenweise in späteren Publikationen und treten zurück zugunsten systemtheoretischer Denkfiguren, vor allem in anderen Arbeiten der Münchener Forschergruppe zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur.31 Vor der metonymischen Auflösung der Literaturgeschichtsschreibung, die später tatsächlich zu drohen scheint, wird eindringlich gewarnt.32 In einem Theoriebeitrag zur Münchener Forschergruppe wird die Erkenntnisabsicht des Projekts Sozialgeschichte der Literatur formuliert: „Zielpunkt ist eine genauere Beschreibung des Anspruchs, der möglichen Begründungen und der Verfahrensweisen einer Sozialgeschichte der Literatur“33. Dies richtet sich vor allem gegen das diagnostizierte Theoriedefizit der Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts entstandenen SozialgeschichtenSozialgeschichte, etwa die Verlagsprojekte von Athenäum (Herausgeber Žmegač), Hanser (Herausgeber Grimminger) und Rowohlt (Herausgeber Glaser). Um eine allgemeine Sozialgeschichte der deutschen Literatur erarbeiten zu können, müsse, so der Anspruch, zuerst eine zugrundeliegende Theorie formuliert werden. Die Ausführungen werden als Untersuchungsmodell, Untersuchungsprogramm oder Arbeitskonzept bezeichnet, das unverzichtbar weitere Modifikationen erfahren müsse und dessen falsifizierende oder verifizierende Fortschreibung ausdrücklich gefordert wird. In einem anderen Beitrag heißt es dementsprechend: „Wir wären nicht unglücklich, wenn u.U. wesentliche