Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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Название Buchstäblichkeit und symbolische Deutung
Автор произведения Matthias Luserke-Jaqui
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783772002151



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sich aber in der Regel nicht voneinander differenzieren, es sind keine autonomen Operationen. Geertz diskutiert dieses Problem nicht erkenntnistheoretisch in der Form, dass bereits die Beobachtung beispielsweise geleitet werden kann von Verschriftungspraktiken und Analyseinteressen. Er hebt auf einen anderen Aspekt ab, wonach der Eindruck der operativen Autonomie dieser drei Schritte eine WirklichkeitWirklichkeit und eine Wissenschaft von der Rekonstruktion dieser Wirklichkeit suggeriert, die es nicht gibt. Geertz hält dagegen: „Die Untersuchung von KulturKultur besteht darin (oder sollte darin bestehen), Vermutungen über Bedeutungen anzustellen, diese Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen“67. Auch hier findet sich kein Hinweis auf eine wenigstens in Ansätzen zu erkennende Kultur-als-Text-Kultur als TextTheorie. Demnach fußt die kulturwissenschaftliche Arbeit letztlich auf Plausibilitätsüberlegungen, die ein emphatisches InterpretierenInterpretieren voraussetzen; das bleibt aus der Sicht der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft ein fragwürdiges Verfahren. Abschließend benennt GeertzGeertz, Clifford vier Merkmale einer ethnografischen Beschreibung: sie ist deutend; sie deutet den Ablauf des sozialen Diskurses; Deuten heißt die Dauerhaftigkeit dieses Diskurses sichern (die Begründung, weshalb dies so ist, bleibt unklar); und sie ist mikroskopisch.68 Geertz begreift also keinesfalls Kultur als TextKultur als Text, sondern die Ethnologie und Ethnografie als Interpretation vorgängiger Zeichen- bzw. SymbolkettenSymbol, die wiederum nicht die KulturKultur sind, sondern zu denen Kultur lediglich den, wie er es nennt, Rahmen darstellt. Undeutlich bleibt bei Geertz auch, ob sein Verständnis von analytischer Tätigkeit (etwa in der Herausarbeitung von Bedeutungsstrukturen) diese Tätigkeit am Erkenntnisgegenstand selbst oder in der Gegenstandserkenntnis meint. Sind Bedeutungsstrukturen dem Wissenschaftsobjekt inhärent oder dem wissenschaftlichen Subjekt? Auf welcher Seite der Erkenntnisarbeit also sind Bedeutungsstrukturen zu veranschlagen? Immerhin konzediert Geertz, dass Bedeutung eine „schwer faßbare und verworrene Pseudoeinheit“ sei, die man bislang nur zu gerne den Philosophen und Literaturwissenschaftlern „zum Herumprobieren“ überlassen habe.69

      Andreas Reckwitz hat die Überlegungen von Geertz einer ausführlichen Kritik unterzogen. Ebenso kritisch werden auch deren Kritiker betrachtet. Reckwitz kommt zu dem bedeutenden Schluss, dass die KulturtheorieKulturtheorie von Geertz sich keineswegs auf ein textualistisches Kulturverständnis reduzieren lasse, sie seien nicht mehr als eine „Episode“70. Reckwitz geht davon aus, dass die texualistischen KulturtheorienKulturtheorie mit dem Vorverständnis eines autonomen Sinns operieren, den die kulturell codierten Signifikate vor aller Erkenntnis enthielten.71 Reckwitz definiert diesen Ansatz folgendermaßen:

      „Der Kultur-als-Text-Ansatz geht im Unterschied zur Theorie sozialer Praktiken davon aus, daß mentale Phänomene aus der Kultur- und Wissensanalyse exkludiert werden können und müssen. Die symbolische Konstitution der sozialen Welt ist aus textualistischer Perspektive in den […] Sequenzen von Symbolen und Zeichen zu suchen, die im weitesten Sinne einen öffentlichen und dechiffrierbaren ‚Text‘ bilden und die sowohl sprachlich-semantische Symbole als auch Gesten, Körper, Rituale und kulturelle Artefakte wie Kunstwerke, symbolisch konnotierte Gegenstände etc. umfassen“72.

      Mit Blick auf GeertzGeertz, Clifford wird auch von dessen „synekdochischem Verständnis von Kultur als TextKultur als Text“73 gesprochen, womit die Formel Kultur als Text gemeint ist, die sich aber schon sprachlich keineswegs als eine Metonymie, mithin als Synekdoche, sondern als metaphorische Rede erweist. Der Begriff Kultur mag die uneigentliche Redeweise einer Synekdoche bezeichnen, worin die Vielzahl in der Einzahl benannt wird, keineswegs aber die Kultur-als-Text-Formel. Und eine ethnografische LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft, wie sie implizit gefordert wird, ist eine ebensolche problematische Projektionsfigur wie der New HistoricismNew Historicism, als dessen Ziel eine Poetik der Kultur definiert wird, „die jene kulturellen Praktiken untersucht, in deren Spannungsfeld LiteraturLiteratur entsteht“, und deren angemessene Darbietungsweise eine Form der „bewußt anekdotischen, subjektiven Präsentation“ sei.74 Die Begeisterung, mit der die dichte Beschreibung oder das, was man dafür hielt, eine Zeitlang vonPoetik der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft, die kulturwissenschaftlich arbeiten wollte, aufgenommen wurde, hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts nachgelassen. Doch erzeugte dies eine Art Theorievakuum. Damit stellt sich die Frage nach den Perspektiven einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, die sich auf ein textualistisches Kulturverständnis berufen will. Denn bei aller Kritik an Geertz ist doch deutlich zu erkennen, dass sich das Kultur-als-Text-Kultur als TextParadigma noch lange nicht erschöpft hat.

      Begreift man LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft als eine Kulturwissenschaft läuft dies auf eine Kulturgeschichte der Literatur hinaus.75 Nach langen Theorie- und Methodendiskussionen scheint die Zeit gekommen, die Denkfigur einer KulturKultur als Entität zu verabschieden. Wenn wir von Kulturgeschichte der Literatur sprechen, muss auch geklärt werden, welches Verständnis von Kulturgeschichtsschreibung dabei zugrunde liegt. Eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur hat mit den in der Literaturwissenschaft bekannten Formen der Kulturgeschichtsschreibung nur wenig gemein. Es gibt unterschiedliche Formate von Kulturgeschichtsschreibung wie die genannten exemplarische KulturgeschichteKulturgeschichte, die systematische, die enzyklopädische, die tabellarisch-rubrikatorische oder die berufsständische Kulturgeschichte. Die marxistische Kulturgeschichtsschreibung und Kulturtheorie verstand die Geschichte der Kultur als eine Geschichte von Klassenkämpfen. Ein objektivierbarer Kulturbegriff wurde dabei vorausgesetzt. So forderte Sokolow etwa einen allgemeingültigen Kulturbegriff von der Wissenschaft, welcher der objektiven Wahrheit über die Kultur entspreche.76 Das ist Geschichte. Völlig zu Recht wurde aber auch gegen die Verknüpfungen von Literaturgeschichte als Geistes-, Diskurs- oder KulturgeschichteKulturgeschichte der Einwand vorgebracht, dass Probleme der Differenzierung und auch Abgrenzung der Objektbereiche dadurch nicht gelöst würden, sofern damit gemeint war, dass sich lediglich die Probleme des spezifischen Objektbereichs verschieben.77 Von Friedrich JodlsJodl, Friedrich Buch CulturgeschichtsschreibungCulturgeschichtsschreibung (1878)78 bis hin zur Neubearbeitung des Handbuchs der KulturgeschichteHandbuch der Kulturgeschichte (1960–86, Erstausgabe 1934–39) als dem letzten enzyklopädischen Mammutunternehmen dieser Art liegen genügend Beispiele vor, wie Kulturgeschichte nicht mehr geschrieben werden kann. So verfolgen einzelne Bände des Handbuchs ein Konzept der Darstellung, das selbst schon wieder Gegenstand einer Kulturgeschichte der Literatur ist, die danach fragt, wie LiteraturLiteratur (populär)wissenschaftlich vermittelt wird.79 Auch das tabellarisch-rubrikatorische Beispiel einer Kulturgeschichte der Literatur scheidet aus, da es dem positivistischen Irrtum aufsitzt, dass Zahlen und Fakten für sich sprächen.80 Und was sich gerne als Mentalitätsgeschichte in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft und als legitimes Kind der SozialgeschichteSozialgeschichte ausgibt, ist oftmals nur ein Deckname für das, was früher Kulturgeschichte genannt wurde.81

      Zwischen den Ungeheuern hermeneutischerHermeneutik Abstinenz und positivistischer Trunkenheit wird das Schiff einer Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur navigieren müssen. Eine Theorie muss in der Lage sein, jeden beliebigen einzelnen Text zu deuten. Sie darf sich nicht in die klösterliche Abgeschiedenheit der Ausnahmeregelungen oder hinter wehrhafte systemische Mauern zurückziehen. Das Fachverständnis einer SozialgeschichteSozialgeschichte der Literatur hatte sich in seinen Anfängen in den 1970er-Jahren zur Aufgabe gesetzt, aus dem Gefängnis der Immanenz der Texte, aus ihrer ästhetischen Einzelhaft auszubrechen und eine im guten Wortsinn positivistische Basis des Faches neu zu erarbeiten, LiteraturLiteratur wieder im Hinblick auf ihre soziale BedeutungBedeutung und kulturelle Praxis zu begreifen. Dies hatte für das Fach Germanistik weitreichende Folgen. Heute steht eine sozialgeschichtlich-kulturwissenschaftliche LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft vor der Aufgabe, sich zwischen der Skylla Neopositivismus und der Charybdis Posthermeneutik, zwischen Vereinseitigung der Problem- und Themenvielfalt und Verzicht auf gewonnene Standards zu behaupten. Eine Kulturgeschichte der Literatur, die mehr ist als bloße Rezeptionsforschung, bewahrt die klassische sozialgeschichtliche Trias von ProduktionProduktion, DistributionDistribution und RezeptionRezeption von Literatur, denn wird diese Trias aufgesprengt, führt dies unweigerlich zu Vereinseitigungen. Eine offene Literaturwissenschaft, eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft kann einen Modernisierungsschub in dieser Disziplin leisten. So gesehen würde eine Kulturgeschichte der Literatur zum Bindeglied zwischen der Literaturwissenschaft als Textwissenschaft und einer Kulturwissenschaft,