Nick - Alles außer gewöhnlich. Boris Vujicic

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Название Nick - Alles außer gewöhnlich
Автор произведения Boris Vujicic
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783765574665



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wäre besser für ihn, nicht zu leben. Besser, als so ein Dasein zu fristen. Warum nimmst du ihn nicht wieder zu dir und ersparst ihm das ganze Leid und die Qualen?

      Ich ging zurück zu meiner Frau. Sie war wach.

      Sie wollte wissen, ob ich Nick gesehen hatte.

      „Ja“, erwiderte ich. „Er ist ein hübsches Baby.“

      Sie verzog das Gesicht vor Schmerz und wandte sich ab.

      „Soll ich ihn dir bringen?“

      Wieder schüttelte sie den Kopf und schluchzte in ihr Kissen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Unser Leben, wie wir es kannten, war vorbei.

      In den ersten Tagen nach Nicks Geburt waren wir alles andere als Mustereltern. Das haben wir ihm später gesagt, und ich glaube, er versteht es. Das hoffe ich jedenfalls.

      Menschlich, ganz menschlich

      Auch nachdem wir den ersten Schock verdaut hatten, mussten wir uns intensiv mit unserem Zweifel auseinandersetzen, ob wir überhaupt das Zeug dazu hatten, Nick großzuziehen. Ein Faktor, der für uns sprach, war, dass Dushka und ich bereits fast fünf Jahre ver­heiratet waren. Wir hatten mit der Familiengründung gewartet, bis sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester abgeschlossen hatte, und für die Weiterbildung zur Hebamme das Thema noch einmal verschoben. Ich war damals Angestellter und später Produktions­planer. Wir hatten die Zeit zum Reisen genutzt und Geld für ein Eigenheim beiseitegelegt. Unsere Beziehung stand auf festem Grund. Wir waren Ehepartner und Freunde, und wir konnten über alles reden und fast immer einen Kompromiss finden.

      Nicks Geburt sehe ich im Rückblick als erste große Belastungsprobe für unsere Beziehung, die erste von vielen. Ich glaube, ­Dushka machte eine Wochenbettdepression durch, die ihren ersten Schock noch verstärkte. Dass eine Frau nach der Geburt ihres Kindes erschöpft ist, ist ganz normal, und die meisten haben hinter­her mit Stimmungsschwankungen und dem sogenannten „­Baby-Blues“ zu tun, der durch die hormonellen Veränderungen nach der Geburt ausgelöst wird. Bei Dushka kamen zusätzlich noch Trauer und Angst hinzu und machten es ihr noch schwerer, sich mit Nicks Aussehen zu arrangieren.

      Meine liebevolle, fürsorgliche Frau wurde nicht damit fertig und weigerte sich, Nick zu nehmen oder zu stillen. Angst und Sorgen hatten sie völlig im Griff. Sie weinte stundenlang und sagte Dinge wie, „Das kann nicht sein; das muss ein Albtraum sein. Ich schaffe das nicht.“

      Dushka brauchte Zeit und Ruhe, um ihre Gefühle zu verarbeiten. Jeder hat ja seinen eigenen Weg, um mit Stress fertig zu werden. Für Trauer gibt es zwar aufeinanderfolgende Phasen, laienhaft gesagt: Nicht-wahr-haben-Wollen. Wut und Durcheinander der Gefühle. Auseinandersetzung mit der Trauer. Krise und Anpassung an die Situation, Neuanfang. Aber sie variieren ganz unterschiedlich in Dauer und Intensität.

      Später las ich, dass Eltern, deren Kinder krank oder behindert zur Welt kommen, eine ganz eigene Form der Trauer durch­leben. Manche bleiben für längere Zeit im Zyklus der Trauerphasen ­gefangen. Dann hilft professionelle Hilfe in Form einer Therapie, daraus herauszukommen.

      Emotionales Trauma

      Zu wissen, dass jeder anders mit Traumata umgeht, kann helfen und beruhigen. Schließlich sollen Ehepartner füreinander da sein. Über den anderen zu urteilen, ist da nicht hilfreich. Vielleicht sind Sie der Meinung, besser mit der Situation oder Ihren Gefühlen umzugehen, aber Sie können nicht wirklich wissen, welche Qualen Ihr Partner oder Ihre Partnerin ausstehen muss.

      In den ersten Tagen nach Nicks Geburt war Dushka einfach überfordert, und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Das lag daran, dass ich die Tiefe und Intensität ihres Leids nicht wirklich begriff. Einmal kam ich in ihr Zimmer und fand sie weinend vor. „Habe ich etwa keine Blumen verdient wie andere Mütter?“, fragte sie mit tränenerstickter Stimme.

      Ich war wie vor den Kopf gestoßen. „Doch, natürlich! Es tut mir so leid.“

      Bei all dem emotionalen Chaos hatte ich völlig vergessen, ihr den traditionellen Blumenstrauß zu schenken. Ich ging schnell zum Blumengeschäft im Erdgeschoss und holte das nach. Dushka war auch verletzt, weil sich viele unserer Freunde und entfernten Verwandten nicht gemeldet hatten. Ich wusste, dass auch sie erst mit der unerwarteten Situation klarkommen mussten. Die meisten wussten einfach nicht, was sie sagen sollten, auch deswegen, weil wir mit vielen von ihnen noch nicht genauer hatten sprechen können. Allmählich trudelten noch mehr Blumen, Geschenke und Karten ein. Die meisten Karten waren sehr vorsichtig und ­einfühlsam geschrieben, und wir waren fast immer zu Tränen ­gerührt.

      Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, haben Dushka und ich ­etwas ganz Typisches getan: Wir isolierten uns in diesen ersten Tagen und Wochen und zogen uns zurück.

      Es gab verschiedene Gründe dafür. Wir trauerten und brauchten Zeit für uns, um einen Weg durch das Gefühlschaos zu finden. Zuerst wollten wir auch nicht darüber reden, weil wir Angst hatten, dass das alles nur noch schlimmer machen würde. Jedes Wort fiel uns schwer, und unsere Freunde wussten auch nicht, wie sie sich verhalten sollten.

      Wir waren so in unserer eigenen zerbrochenen Welt, dass wir überhaupt nicht mitbekamen, wie alle um uns herum mitlitten. Auch sie nahm das Ganze natürlich mit. Ich musste mich ermahnen, dass meine Eltern, Schwiegereltern und andere Familienmitglieder genauso ihren Gefühlen Raum geben wollten. Wenn man leidet, verliert man leicht das Mitgefühl für andere. Man vergisst auch schnell, denen dankbar zu sein, die für einen da sind und helfen wollen.

      Wir mussten uns erst über einiges klar werden, bevor wir andere an uns heranlassen konnten. Ich möchte Eltern in ähnlichen Situationen Mut machen, sich Hilfe zu holen, sobald sie sich dafür bereit fühlen; bei uns hat es den Heilungsprozess letzten Endes erleichtert, darüber zu reden.

      Neuanfang

      Dushka ist eine liebevolle Frau mit einem starken Mutterinstinkt, aber in den ersten Wochen fiel es ihr unendlich schwer, sich mit Nicks Behinderung abzufinden. Ich war bestürzt, dass sie auch nach zwei Tagen unseren Sohn nicht sehen wollte, aber mir wurde bald klar, dass sie einfach nicht sie selbst war.

      Als die Mitarbeiterin der Sozialstation im Krankenhaus sah, wie sehr meine Frau unter der Situation litt, legte sie uns behutsam unsere Möglichkeiten dar. Sie sagte, wir könnten Nick zur Adoption freigeben, wenn wir es uns nicht zutrauen würden, ihn großzu­ziehen.

      Anfangs war Dushka offener für dieses Thema als ich. Wir wussten beide, dass dies eine Entscheidung war, mit der wir für den Rest unseres Lebens leben mussten.

      Ich wollte unseren Sohn nicht weggeben, aber ich ­machte mir Sorgen um meine Frau. Wenn sie sich sogar mit ihrer Krankenschwesterausbildung nicht in der Lage fühlte, sich um Nick zu kümmern, wie konnte ich dann darauf bestehen? Ich ­wusste nicht, ob sie wegen der Sorgen und Traurigkeit so erschöpft war, ob die Wochenbettdepression sie im Griff hatte oder beides.

      Normalerweise wird eine Mutter wenige Tage nach der Geburt aus dem Krankenhaus entlassen und nimmt das Kind mit nach Hause. Bei uns war das nicht so. Die Frau von der Sozialstation sorgte dafür, dass Dushka noch dort bleiben konnte. Ich bekam ein Bett in ihr Zimmer gestellt, damit wir einander trösten und mit­einander reden konnten.

      Die Krankenhausbelegschaft spürte, dass wir Zeit brauchten. Sie redeten zwar mit uns, machten uns aber keinen Druck. Wir verbrachten mehrere Tage im Krankenhaus, ruhten uns aus und sprachen miteinander über unsere Gefühle. Allmählich redeten wir über die nächsten möglichen Schritte.

      Wir hatten keinen Plan B für ein unvollkommenes Baby parat. Als Dushka einige Tage Kraft gesammelt hatte, sagte sie, sie sei jetzt bereit, Nick zu sehen und ihn zu nehmen. Ich war mir da nicht so sicher.

      Sie schien noch immer emotional höchst instabil zu sein. Also sprach ich das an, und im Gespräch wurde mir bewusst, dass sie mit schweren Schuldgefühlen zu kämpfen hatte. Sie machte sich selbst für Nicks Behinderung verantwortlich, obwohl sie sich während der Schwangerschaft vorbildlich an alle Regeln gehalten hatte.

      Zuerst fiel es mir schwer, ihr die Schuldgefühle zu nehmen, weil wir beide nicht wussten, wie es zu Nicks Fehlbildungen gekommen war. Wir hatten beide so viele Fragen! Es dauerte eine ganze