Nick - Alles außer gewöhnlich. Boris Vujicic

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Название Nick - Alles außer gewöhnlich
Автор произведения Boris Vujicic
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783765574665



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      „Ich muss mit Ihnen über Ihr Kind reden“, fuhr er fort.

      „Ihm fehlt ein Arm“, platzte ich dazwischen.

      „Ihr Kind hat weder Arme noch Beine.“

      „Was? Gar keine Arme? Und keine Beine?“

      Der Arzt nickte grimmig.

      Später erklärte er mir, dass Phokomelie der Fachterminus für fehlende oder missgebildete Gliedmaßen sei. Ich habe noch nie einen richtigen Boxschlag gegen den Kopf bekommen, aber so stelle ich mir das Gefühl vor. Mein erster Gedanke war, Dushka zu holen, ­bevor es ihr irgendjemand erzählte. Ich stand auf, und der Kinderarzt legte mir auf dem Weg zurück in den Kreißsaal eine beruhigende Hand auf die Schulter. Mein Kopf raste, aber mein ganzer Körper fühlte sich taub an. Meine Knochen waren wie hohl, die Adern blutleer.

      Ich überlegte verzweifelt, wie ich meiner Frau das beibringen sollte, aber als ich in den Kreißsaal kam, verriet mir ihr Weinen, dass mir schon jemand zuvorgekommen war. Das passte mir überhaupt nicht. Ich wollte bei ihr sein, als sie es erfuhr! Ich wollte sie trösten. Aber es war zu spät. Ich beugte mich zu ihr herunter, nahm sie in den Arm und versuchte, ihren Schmerz in mich aufzunehmen und ihr die Qualen zu erleichtern. Ihr Körper wurde von Schluchzern erschüttert, und mir ging es bald darauf nicht anders.

      Dushka war von der langen Geburt und den Medikamenten noch ganz erschöpft; nach wenigen Minuten wurde sie still und schlief ein. Ich ließ sie sich ausruhen und hoffte, dass sie genug Kraft tanken würde, um all die schweren Entscheidungen zu fällen, die uns noch bevorstanden.

      Während Dushka schlief, ging ich in den Säuglingssaal und betrachtete meinen Sohn zum ersten Mal aus der Nähe. Er lag mit anderen Neugeborenen, die alle in ihre Decken eingewickelt waren. Er schlief und sah eigentlich sehr süß aus, ein typisch hinreißendes Neugeborenes, so unschuldig und völlig unwissend, dass ­irgendetwas an ihm nicht stimmte.

      Eine Schwester nahm Nick hoch und gab ihn mir. Zum ersten Mal hielt ich ihn im Arm. Ich war überrascht, dass er so schwer war, so kernig und stark. Er wog etwa sechs Pfund, und seine Robustheit war irgendwie tröstlich für mich. Er schien wie ein ­normales, liebenswertes Kind.

      Ihn im Arm zu halten löste endgültig ein Gefühlschaos bei mir aus. Ich wollte ihn so gern lieb haben. Schon merkte ich, wie zwischen uns eine Bindung entstand, aber es stürmten auch ebenso viele Zweifel auf mich ein: Bin ich stark genug, so ein Kind großzuziehen? Was für ein Leben können wir ihm denn bieten? Werden seine Bedürfnisse unsere Kraftreserven übersteigen?

      Die Schwester bot mir an, Nick aus seiner Decke zu befreien. Ich wusste nicht, ob ich schon bereit war, seinen Körper zu sehen, aber ich willigte ein. Sie können sich vorstellen, was es in mir auslöste, erst sein hübsches Gesicht und dann den winzigen Torso ohne Arme und Beine zu sehen. Eigenartigerweise kam mir sein Körper ziemlich stromlinienförmig und sogar hübsch vor, weil die Höhlen für Arme und Beine mit glatter, weicher Haut bedeckt ­waren.

      Bei näherem Hinsehen fielen mir seine kleinen „Füßchen“ auf. Rechts war eher so ein Anhängsel. Der Fuß auf der linken Seite war deutlich ausgeprägter und hatte zwei sichtbare Zehen, die scheinbar zusammengewachsen waren. Die rechte Seite schien mehr ein Fortsatz als ein Körperglied zu sein. Der größere Fuß machte schon einen aktiveren Eindruck.

      Davon abgesehen hatte Nick den strammen Körper eines normalen Jungen. Sein engelsgleiches Gesicht konnte jedes Elternherz höherschlagen lassen. Ich war irgendwie erleichtert über sein mangelndes Bewusstsein, seine ungetrübte Unschuld. So lange wie möglich wollte ich das Leid von diesem Kind fernhalten. Ich ­legte ihn wieder in das Bettchen und ging hinaus in eine ungewisse Zukunft. Mein Gefühl sagte mir, dass sich gerade meine gesamte Welt verändert hatte.

      Auf der Fahrt nach Hause überrollte mich eine Traurigkeitswelle nach der anderen. Ich trauerte nicht um unser Kind, aber um den Sohn, den wir erwartet hatten. Unser Kind, so fürchtete ich, würde zeitlebens furchtbar leiden müssen. Meine Fassungslosigkeit und Verzweiflung mündeten schließlich in Wut. Wieso tust du uns das an, Gott? Wieso?

      Ich kann nicht von mir behaupten, wie Superman oder ein mustergültiger Vater reagiert zu haben. Ich legte nicht sofort alles in Gottes Hände wie Hiob, der an einem Tag alle seine Kinder verlor und anschließend lässig sagt: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.“

      Meine Reaktion war die eines unvollkommenen, ganz normalen Mannes, eines Ehemanns und Vaters mit gebrochenem Herzen, der sich fragte, ob er für diese Tragödie verantwortlich war, für dieses unfertige Kind. War das eine Strafe für etwas? Viele Eltern von behinderten Kindern haben mir bestätigt, dass sie anfangs mit ähn­lichen Zweifeln, Ängsten und Wut zu kämpfen hatten.

      Ich mache mir ehrlich gesagt auch mehr Sorgen um die, die sich nicht gestatten, traurig zu sein. Psychologen sagen, dass man seine Gefühle nicht verdrängen sollte. Man sollte ihnen Raum geben, sie herauslassen, damit sie hoffentlich danach vorübergehen. Dieser Prozess ist unvorhersehbar, und jeder Mensch funktioniert anders. Trauer gehört zum Leben, zu jedem Leben dazu, und so leid es mir tut, auch zu einer Geburt, bei der die Erwartungen auf ein gesundes, vollkommenes Kind enttäuscht werden.

      Im biblischen Buch Hiob geht es hauptsächlich um Hiobs ­innere Stärke, aber ich bin mir sicher, dass auch er seine zweifelnden, schwachen Momente hatte. Alle Eltern wünschen sich rundum gesunde Kinder, die eine strahlende Zukunft vor sich haben. Es ist ziemlich naheliegend zu befürchten, dass es ein behindertes Kind schwerer im Leben haben wird als andere.

      Es sollte einem nicht peinlich sein, seine Traurigkeit zu zeigen und auch Tränen zuzulassen. Das sage ich vor allem den Vätern. Wir Männer glauben ja immer, dass wir harte Kerle sind und ohne Murren oder Jammern alle Lasten schultern müssen. Ein Junge weint nicht; so werden wir erzogen. Gefühle zeigen ist ein Zeichen von Schwäche. Aber wer liebt, kann auch Schmerz empfinden. Frauen und Mütter haben nicht das Gefühlsmonopol.

      Auch Männer haben eine Bindung zu ihren Kindern. Sie ­haben Träume und Vorstellungen für die Zukunft ihrer Kinder. Wir Männer können zugleich stark sein und trotzdem Ängste und Gefühle zeigen. Jesus hat das nicht anders getan. Das ist nichts, wofür man sich schämen müsste. Jeder braucht Zeit, um sich an eine neue ­Situation zu gewöhnen und sich darauf einzustellen.

      Durchkreuzte Erwartungen

      Zu Hause erwarteten mich eine gespenstische Stille und ein leeres Haus, das für die Ankunft unseres ersten Kindes bunt geschmückt worden war. Im Kinderzimmer stand das Kinderbett mit weichen Decken. Mir fiel ein, dass ich mir beim Zusammenbau des Bettchens noch Sorgen gemacht hatte, das Seitengeländer könne nicht hoch genug sein, sobald das Kind aufstehen konnte. Alles, was ich jetzt vor meinem inneren Auge sah, war mein Sohn, der zeit seines Lebens ans Bett gefesselt war und niemals stehen, laufen oder auch nur krabbeln würde. Ich brach neben dem Kinderbett zusammen und weinte bitterlich, bis die Erschöpfung mir einen unruhigen Schlaf bescherte.

      Der Morgen brachte kein Wunder. Alles tat mir weh. Ich ­trauerte um den perfekten Sohn, den wir nicht bekommen hatten. Ich trauerte um den verstümmelten Sohn, den wir in die Welt gesetzt ­hatten. Dass ich mich um so ein Kind kümmern konnte, schien mir außerhalb meiner Kräfte. Ich fühlte mich von Gott verlassen, der sonst immer an meiner Seite gewesen war. Am liebsten wollte ich gar nicht wieder ins Krankenhaus fahren. Es graute mir davor, ­meiner Frau gegenüberzutreten. Wie sollte ich sie denn trösten, wenn mir selbst jeder Halt fehlte? Wie sollte ich zu unserem unschuldigen Kind gehen, meinem Sohn, der mehr Unterstützung brauchte als ich zu geben imstande war?

      Dushka war wach und völlig verheult. Ich fragte sie, ob sie das Kind schon gesehen hatte. Sie konnte nur den Kopf schütteln.

      „Soll ich ihn holen?“

      Wieder ein Nein.

      Ich gab mein Bestes, um sie zu trösten, und blieb an ihrer Seite, bis sie wieder eingeschlafen war. Danach ging ich ins Säuglingszimmer. Unser Sohn lag mitten bei den anderen Neugeborenen. Er sah süß und zufrieden aus. Ich betrachtete sein hübsches Gesicht und ­dachte nur: Was für ein Leben soll ein Kind ohne Gliedmaßen führen? Er kann nicht laufen, sich nicht anziehen, nicht mal essen.