Nick - Alles außer gewöhnlich. Boris Vujicic

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Название Nick - Alles außer gewöhnlich
Автор произведения Boris Vujicic
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783765574665



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entscheidend beeinflussten.

      Spießrutenlauf

      Eltern von behinderten Kindern sagen oft, dass sie sich ein dickes Fell zulegen mussten. Ich hatte meine erste Berührung mit dieser bitteren Realität nicht lange nach Nicks Geburt. Ich traf mich mit jemandem, den ich immer als guten Freund gesehen hatte. Wir hatten oft miteinander gebetet und auch Privates miteinander geteilt. Ich dachte, er würde mir gegenüber sein Mitgefühl äußern. Stattdessen stellte er allen Ernstes Vermutungen an, die Behinderung unseres Sohnes müsse Gottes Strafe für meine Sünden sein.

      Wenn ich ehrlich bin, hatte ich diesen Gedanken auch schon gehabt, wenngleich mir partout nicht einfiel, was ich Fürchterliches getan haben sollte, um so eine grausame „Strafe“ für meinen unschuldigen Sohn zu verdienen. Die Worte meines Freundes trafen mich tief und warfen mich tagelang aus der Bahn. Ich fühlte mich von seinem unsensiblen Urteil schwer gekränkt.

      Ich ging wirklich in mich, um herauszufinden, ob er vielleicht doch recht hatte. Wir hatten einige offene Gespräche, und letzten Endes entschuldigte er sich bei mir. Ich glaube ja, dass er es trotz allem gut gemeint hatte. Trotzdem gehörte er zu dem wachsenden Kreis von Menschen, die uns mit ihren unsensiblen Kommentaren – manche mit den besten Absichten, andere einfach ahnungslos – tief verletzten. Dies war eine weitere schmerzhafte Lektion, die wir in der ersten Zeit machten und die viele Eltern mit behinderten Kindern machen müssen: Selbst wenn man als Eltern sein Kind angenommen hat und über seine Unvollkommenheit hinwegsehen kann, heißt das noch lange nicht, dass andere das auch können.

      Einige Tage nach Nicks Geburt ging ich wieder zum Säuglings­zimmer, um nach unserem Sohn zu sehen. Ich stand hinter der Scheibe und betrachtete den eingepackten Nick, der aussah wie alle anderen Neugeborenen. Als ich dort so stand, brachten zwei Kranken­schwestern einen frisch gebadeten Säugling zu seinem Bettchen und widmeten sich anschließend unserem Sohn. Sie sprachen leise mit ihm und lächelten ihn an, und er erwiderte die freundliche Behandlung sofort. Ich weiß, manche sagen, Neugeborene können nicht lächeln, aber diese Leute haben nie unseren kleinen Nick gesehen.

      Zum ersten Mal seit Tagen wurde mir ganz warm ums Herz, und ich spürte einen Anflug von väterlichem Stolz. Die Schwestern legten ihn auf einen Wickeltisch an der Wand. Aber als sie ihn aus seinen Windeln befreiten, änderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie rissen die Augen auf und schlugen sich erschrocken die Hände vor den Mund.

      Traurigkeit übermannte mich und ich musste weg, raus aus dem Krankenhaus. Tränen liefen mir übers Gesicht. An diesem Tag kehrte ich nicht mehr zum Säuglingsraum zurück.

      Eine gereifte Entscheidung

      Natürlich konnte ich verstehen, warum sie so auf Nick reagierten. Dushka und mir war es ja nicht anders ergangen. Vor Nick hatte keiner von uns beiden je ein Neugeborenes ohne Arme und Beine gesehen, und auch keines mit kleinen, vom Rumpf herausragenden unterentwickelten Füßchen. Der Anblick eines völlig ungewohnten Körpers löst bei uns Menschen erst einmal Beklommenheit aus.

      Dennoch fühlte ich mich von der Reaktion der Schwestern verletzt, wenngleich sich auch meine Vaterinstinkte meldeten. Das war mein Sohn, und ich wollte ihn vor allem Negativen beschützen – ob nun absichtlich oder unwissentlich. Allmählich stellte sich bei mir auch eine neue Überzeugung ein: Ich wusste zwar nichts darüber, wie man so ein Kind großzog, aber niemand würde ihn so annehmen und als Vater durchs Leben begleiten können wie ich.

      Dushka und ich hatten uns wegen der Adoptionsfreigabe noch nicht entschieden. Mein Bauch schickte aber eindeutige Signale. Wir hatten angefangen, uns mit unserer neuen Situation abzufinden. Nick bekam leider eine Harnwegsinfektion, und die Ärzte wollten ihn sicherheitshalber noch ein paar Tage im Krankenhaus behalten. Das verschaffte uns aber immerhin noch mehr Bedenkzeit. Meine Frau und ich kehrten nach Hause zurück und ließen unser Kind in der Obhut der Ärzte, um gründlich über die Zukunft unserer Familie nachzudenken.

      Wir sprachen offen über alle Möglichkeiten und unsere Sorgen. Es half uns beiden, dass wir aus einer ähnlichen Kultur kamen, ­einen ähnlichen Familienhintergrund hatten und auch den Glauben an Gott miteinander teilten. Das soll aber nicht heißen, dass wir keine Meinungsverschiedenheiten oder hitzige Diskussionen hatten. Wir waren unter enormem Stress und hatten beide schlaflose Nächte. Aber trotzdem versuchten wir einander zuzuhören.

      Die Entscheidung konnten wir nur zusammen treffen. Wir mussten an einem Strang ziehen, weil keiner von uns es allein schaffen konnte. Einige Leute im Krankenhaus hatten uns gegenüber anfangs angedeutet, dass Nick wohl mit keiner normalen Lebensdauer rechnen könne, aber Dushka versicherte mir, dass das nicht der Fall sei, vor allem dann nicht, wenn er angemessen gepflegt und unterstützt werde.

      Während wir unsere Möglichkeiten abwogen, merkte ich, dass Dushka langsam aus ihrem depressiven Tal herauskam. Als sie anfing, weniger über all die Schwierigkeiten zu reden, die uns erwarteten, und mehr über mögliche Lösungen und Antworten, wusste ich, dass meine Frau zurück war. Sie brachte den Vorschlag, dass wir uns mit anderen Eltern treffen sollten, die bereits ihr Leben mit einem behinderten Kind meisterten. Sie wollte wissen, wie die das schafften, welche Hilfen sie in Anspruch genommen hatten, welche Umstellung sie durchmachen mussten und wie der Alltag des Kindes aussah.

      Eltern mit einem behinderten Kind bekommen ziemlich oft die Empfehlung, sich andere Betroffene oder auch eine Selbsthilfe­gruppe zu suchen. Diesen Luxus hatten wir nicht. Wir kannten einfach kein Kind wie unseres. Dabei hatten wir die Hoffnung gehabt, wenigstens in Sachen Prothesen, Rollstuhl oder anderen technischen Hilfsmitteln Tipps zu bekommen.

      Es wäre so hilfreich gewesen – nein, ein Wunder geradezu –, ein älteres Kind mit denselben körperlichen Herausforderungen wie Nick zu finden. Wir hätten von seinen Eltern erfahren können, wie man ihm das Leben erleichtert, was funktioniert und was nicht und welche Ressourcen sie aufgetan hatten, um ihrem Kind ein so normales Leben wie möglich zu ermöglichen. Leider stellte sich dieses Wunder für uns nicht ein.

      Auf dem Weg zu Akzeptanz

      Auch das Krankenhaus hatte keinen Erfolg bei der Suche. Am nächsten kamen noch die Contergangeschädigten. Contergan war einst als Mittel gegen Schwangerschaftsübelkeit verschrieben worden. Erst als die schwerwiegenden Folgen bekannt wurden, wurde es verboten.

      Man gab uns die Adresse einer Frau in Beaconsfield, einem Stadtteil von Melbourne. Ihre Tochter hatte verkrüppelte Arme und Beine. Sie war damals etwa fünf Jahre alt. Wir besuchten die Familie und erhofften uns einige Erkenntnisse und vielleicht sogar neuen Mut. Bei dem Mädchen waren die Gliedmaßen so weit entwickelt, dass sie Prothesen tragen konnte, die für Nick niemals infrage gekommen wären. Das einzige besondere Hilfsmittel war ein pilzförmiger Plastikstuhl. Indem sie hin- und herschaukelte, konnte sie ihn in Bewegung setzen und mit ihm durchs Zimmer rutschen.

      Dushka und ich fühlten uns unwohl in unserer Haut, und wir hatten das Gefühl, nicht viel von diesem Kind und seiner Mutter lernen zu können.

      Viel aufschlussreicher als das Gespräch war für uns, den Umgang der beiden miteinander zu beobachten. Es war offensichtlich, dass die Mutter auch nur begrenzte Kraftreserven hatte und ihre Tochter schwerbehindert war, aber ihre liebevolle Beziehung zueinander und die fast schockierende Normalität ihres Lebens ließ uns nicht mehr los.

      Keiner von beiden schien mit der Situation überfordert zu sein. Sie machten das Beste daraus und jammerten nicht.

      Ich habe oft über diesen Besuch nachgedacht und welchen Einfluss er auf unsere Entscheidung, Nick zu behalten, hatte. Bis dahin konnte ich mir kaum vorstellen, ein behindertes Kind großzuziehen. Ich sah nur Mühsal und Elend für Nicks Zukunft voraus. Die Tochter dieser Frau hatte Fehlbildungen an Armen und Beinen, und trotzdem schien sie ein fröhliches Kind zu sein, das sich von seinem Körper nicht unterkriegen ließ.

      Der Besuch hinterließ bei mir Spuren. Ich begriff, dass es besser war, Nicks Situation zu akzeptieren und Tag für Tag das Beste daraus zu machen, als sich den Zukunftsängsten hinzugeben. In der Bergpredigt vertritt Jesus genau dieses Prinzip: „Sorgt euch vor allem um Gottes neue Welt, und lebt nach Gottes Willen! Dann wird er euch mit allem anderen versorgen. Deshalb sorgt euch nicht um morgen – der nächste Tag wird für sich selber sorgen! Es ist doch genug, wenn jeder