Die Gottesversprecher. Ute Aland

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Название Die Gottesversprecher
Автор произведения Ute Aland
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783765571923



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aber ich bin wie elektrisiert.

      Ich bin sicher: Gerade habe ich das Evangelium gehört, zum ersten Mal in meinem Leben. Ich weiß, dass ich in meinem bisherigen Leben einer Täuschung erlegen bin, denn man hat mir die ganze Zeit die Wahrheit vorenthalten und mich mit einem Lügenevangelium abgespeist. Sicher, sie wussten es selbst nicht besser. Jetzt, jetzt weiß ich, warum ich die Gemeinde verlassen habe. Ich habe es immer gespürt, dass das nicht die Wahrheit war. Ich weiß, dass Dan recht hat, dass ich gerade die Wahrheit gehört habe. Alles in mir weiß das. Trotzdem stehe ich nicht auf. „Handle nicht auf einen Impuls hin“, ermahne ich mich. „Lass dir Zeit, alles zu überdenken.“ Wieder die beiden Stimmen in meinem Kopf.

      Natascha steht mit erhobenen Händen, wiegt sich ganz leicht im Takt der Musik hin und her.

      Murmeln.

      Mir wird unerträglich heiß. Raus hier!, dröhnt das eingesperrte Tier in mir. Hau ab! Wenn es nicht so eng wäre, wäre ich schon auf der Straße, denke ich.

      Aber da ist noch eine andere, leisere, sanftere, geduldige Stimme, die fragt: „Ist das nicht genau das, was du willst: Leben, Frieden, Freude? Spürst du nicht die Sehnsucht nach Gott? Nimm sie ernst. Das ist deine Chance. Nimm dich ernst. Vergiss deinen Stolz. Vergiss, dass du nie wieder was mit Kirche zu tun haben wolltest. Lerne unterscheiden. Dies hier ist die Wahrheit.“ Ich höre der leisen Stimme zu, deren Wahrheit das Grollen übertönt. Umständlich stehe ich auf. Und obwohl Dan mich definitiv nicht sehen kann, sagt er just in diesem Moment: „Jetzt sind wir vollständig“ – dabei sitzen der Mann und das Pärchen noch immer. Heiße Wellen durchlaufen mich. Ich kann nicht mehr denken. Ich zittere ein wenig. Ein Schwall überwältigender Freude raubt mir beinahe das Bewusstsein. Ich spüre Gottes unendliche Liebe. Ich schluchze.

      Jetzt ist mir alles egal.

      Ich fühle mich mit einem Mal ganz weich, als wäre eine Schutzschicht von mir abgefallen. Ich werde endlich ein glückliches Leben führen! Endlich niemandem mehr irgendwas beweisen müssen. Ohne Maske, ohne Einsamkeit, mich fallen lassen, mich lieben lassen – von Gott, mein Leben in seine Hände geben, endlich den Kampf gegen das Offensichtliche aufgeben: dass Gottes Liebe wirklich existiert.

      Den Rest des Gottesdienstes habe ich wie in Trance verbracht, total verzückt, glücklich. Natascha hat mich hinterher herzlich umarmt. Ich war froh, dass sie nichts gesagt hat, nur ganz feste gedrückt, als würde sie alles verstehen.

      Ehrlich gesagt, habe ich damit gerechnet, dass die Sache sich ziemlich schnell wieder in Luft auflösen würde. Ich war davon ausgegangen, dass sich meine „spirituelle Erfahrung“ einfach als Folge eines hormonellen Ausnahmezustandes entpuppen würde.

      Aber es ist anders. Heute Abend liege ich noch wach in meinem Bett, höre auf die Geräusche in meiner Wohnung. Ich habe es mir mit einem Glas Martini und einer Zigarette gemütlich gemacht. Gegen halb elf kommen meine Eltern von der Bibelstunde wieder und diskutierten im Hausflur wie gewohnt lauthals.

      Die Tür zu ihrer Wohnung fällt ins Schloss, dann bleibt nur noch das Ticken meiner Küchenuhr. Eine Autotür knallt irgendwo, das quietschende Tor einer der aufgeräumten Garagen in unserer aufgeräumten Siedlung kracht laut in seine Riegel, und ich lausche in die Stille danach, blase sanft den blauen Rauch in den milden Lichtkegel meiner Nachttischlampe. Mein Körper liegt entspannt in den Kissen. Ich habe etwas Großes erlebt und spüre noch immer, dass Gott mir nahe ist. „Herr, ich möchte immer in deiner Nähe leben, deine Liebe immer spüren, dir folgen“, bete ich, und wieder durchflutet mich dieser Strom. Genauso müssen sich Säuglinge an der Mutterbrust fühlen, wenn sie gesättigt einschlummern. Und tatsächlich schlafe ich bald danach ein und erwache morgens wieder in der Gewissheit, dass ich ein neues Leben begonnen habe.

      Ich weiß, es ist nicht nett von mir, aber ich bin froh, dass Udo die ganze Woche über nicht in der Firma war. Er ist krankgemeldet. Ich bin halt noch nicht so weit, ihm in sein wissend grinsendes Gesicht zu sehen.

      Und wen habe ich am Sonntag beim Gottesdienst als Erstes gesehen? Natascha! Sie ist freudestrahlend auf mich zugelaufen, und diesmal habe ich sie aus vollem Herzen umarmt.

      „Das ist übrigens Joachim, mein Mann“, stellt sie mir ihren Sitznachbarn von letztem Sonntag vor. Lächelnd umarmt er sie und küsst sie leicht auf die Wange. „Ich bin kurz bei Jörg, entschuldige mich“, sagt er und geht.

      Natascha nimmt mich freundschaftlich bei der Hand, zieht mich zu sich heran und flüstert: „Ich freue mich so, dich zu sehen. Gott hat mir gezeigt, dass er Großes mit dir vorhat.“

      Ich ahnte nicht, was ihre Worte noch für mich bedeuten würden.

      1

      Mindestens einmal täglich gehe ich auf Dans Blog, um seine Predigten zu lesen. In meinem Eifer habe ich sogar Annika den Link geschickt.

      Annika ist meine beste Freundin. Wir kennen uns schon seit über zehn Jahren und haben viel miteinander erlebt. Wir reden eigentlich über alles – über Liebeskummer, Speckröllchen, Orangenhaut genauso wie über unsere Pläne, Erfolge und Traumprinzen. Ich kann nicht mehr zählen, auf wie vielen Feten wir schon zusammen versackt sind (sie hatte mir immer voraus, dass sie hinterher kein schlechtes Gewissen hatte) und wie viele „Martiniabende“ wir beiden gemeinsam verbracht haben. So ein Martiniabend mit Annika ist ein unumstößliches Ritual und hat ein paar ziemlich unumstößliche Regeln:

      Annika und ich wechseln uns mit „Einladen“ ab. Die „Gastgeberin“ besorgt dann eine oder zwei Flaschen Martini, eine Plastiktüte Eiswürfel und schwarze Oliven von der Tanke im Gewerbegebiet und darf bestimmen, wo wir hingehen. Das will die Tradition so.

      Oft treffen wir uns einfach nur in meiner Wohnung und kuscheln uns in mein Sofa. Bei Annika waren wir in den letzten Jahren nur ein einziges Mal, denn sie lebt in einer ziemlich stressigen WG, da kommt auch mal irgendein Idiot rein, der Heftklammern braucht oder den Dosenöffner nicht findet oder wissen will, ob Annika die Woche mit dem Treppenhaus dran ist.

      Aber richtig gut wird’s, wenn wir unsere „Specials“ haben. Das Heißeste war mal ein Boot von der Hafenpolizei, als wir zusammen in Hamburg waren. Haben uns nachts da draufgeschlichen und uns im Rettungsboot unseren Drink genehmigt. Hatten die Hosen so voll aus Angst, dass jemand kommt und uns festnimmt. Wir haben uns so zugeknallt, dass ich keine Ahnung habe, wie wir da wieder runter sind. Dass die uns nicht erwischt haben, wundert mich noch heute.

      Zu diesen Specials mit „Thrill“ gehört auch das Führerhäuschen vom Ladekran am Schrottplatz – man denkt immer, diese Kabinen wären abgeschlossen, sind sie aber oft gar nicht. Oder das Dach von so einem Neubau, wo noch keine Fenster drin waren. Siebte Etage oder so.

      Dann gibt’s natürlich auch die eher romantischen Specials wie Waldlichtung, Pavillon im Schlosspark oder im Herbst eine Strohburg auf einem abgemähten Feld.

      Heute haben Annika und ich jedenfalls mal wieder ein „Special“ einberufen und frieren uns die Hintern auf einem Hochsitz ab. (Das gibt’s natürlich auch: die Flops, diese Ideen, die sich als total hirnrissig rausstellen wie nachts Hochsitz im September.)

      „Also diese Leute“, lallt Annika, obwohl sie höchstens ein Glas getrunken hat, „diese Leute mit diesem total bescheuerten Namen … Church-Dingsbums, wo du mir den Link geschickt hast – finde die beiden Apostel oder was ja auch süß, aber mal ehrlich, was ist das für’n Verein? Für mich sehen die eins a aus wie Sektenführer oder so.“

      Ich wünschte, wir wären jetzt auf meinem Sofa und nicht auf diesem scheißkalten Hochsitz, und ziehe mir die Wolldecke fester um die Schultern. Wir haben noch nie ein „Special“ abgebrochen – eine weitere Grundregel: Beende niemals ein Special vorzeitig!

      „‚Everlasting Church of God’s Power‘“, sage ich und versuche Annika nicht merken zu lassen, dass mich ihre vorschnelle Art mit allem, was über Martinitrinken, Diäten und Männer hinausgeht, umzugehen, ziemlich nervt.

      „Du mit deinen ‚tiefgründigen Gesprächen‘ – entspann dich doch mal!“

      Mit Annika