Название | Anton der Taubenzüchter |
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Автор произведения | Bernard Gotfryd |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962026189 |
Es herrschte eine festliche Stimmung in der Stadt. Paris bereitete sich darauf vor, den Tag der Erstürmung der Bastille zu feiern, erklärte mir Annette. Ich hatte nur noch zwei weitere Tage, bevor ich wieder nach Deutschland fahren würde, in meine zeitweilige Heimat, wo ich für die US-Army arbeitete. So gingen wir lange nebeneinander her, und ich lauschte ihren Erinnerungen an die gute alte Zeit, die Zeit vor dem Krieg.
Als der Abend zu Ende ging, waren wir alle erschöpft. Als ich Annette den Abschiedskuss gab, dämmerte es mir, dass sie sich nicht so dramatisch verändert hatte, wie ich es zuerst glaubte. Ich sagte ihr, wie sehr es mir gefallen habe, sie wiederzusehen; und fragte sie, ob ich sie, falls sie keine Einwände habe, „Tante“ nennen dürfe? „Das fände ich sehr schön,“ antwortete sie. Ihr weiches, warmes Lächeln gab es tatsächlich immer noch.
Am nächsten Tag ging ich zu Onkel Herschel, um Abschied zu nehmen. In einem alten, staubigen Rahmen über der Anrichte in seiner Wohnung bemerkte ich einen Abzug des Hochzeitsbilds. Ich war sprachlos und starr vor Staunen. Das war es, was ich in Wirklichkeit wollte: das Bild. Ob mein Onkel mir auch einen Abzug davon besorgen könne, fragte ich. „Ich wüsste nicht, warum nicht,“ sagte er. „Ich verspreche dir, einen Abzug machen zu lassen und ihn dir zu schicken.“
Bald darauf emigrierte ich nach Amerika. Einige Jahre vergingen, doch das Bild kam nie, und es war mir peinlich, meinen Onkel daran zu erinnern. Ein paar Jahre später, in den frühen fünfziger Jahren, erhielt ich einen Brief von Onkel Herschel mit der Mitteilung, dass er und Annette wieder geheiratet hätten; im Umschlag fand ich ein neues Hochzeitsbild. Diesmal war das Bild ein bisschen kleiner, aber es war sepiagetönt wie das erste. Das Brautpaar sah ein wenig älter aus; zwar zeigte Onkel Herschels Gesicht immer noch seinen Blick in weite Ferne, aber Annettes Lächeln war nahezu identisch mit dem, an das ich mich von früheren Jahren her immer erinnert hatte.
Die Violine
Vor vielen Jahren – noch bevor ich sieben wurde – fand ich während eines Wochenendbesuchs bei meinem Großvater auf seinem Dachboden eine alte Violine. Sie lag in einem schön geformten hölzernen Kasten, der eine samtene Auskleidung besaß, die einmal grün gewesen sein musste, aber so verblichen war, dass sie fast farblos aussah. Neben der Violine lag, gehalten von zwei hölzernen Klammern, der Bogen. Etwas von seiner Bespannung war abgerissen, hing lose und bedeckte zum Teil den Violinenhals.
„Diese Violine wurde von Giuseppe Guarneri gefertigt“, erzählte mir mein Großvater, „dem besten italienischen Geigenbauer des achtzehnten Jahrhunderts. Es gibt sogar ein entsprechendes Zertifikat in der Violine. Sie ist nicht nur alt und selten, sondern auch sehr wertvoll,“ versicherte er mir. Mit gesenkter Stimme fügte er hinzu: „Wer auch immer in der Familie dereinst Geigenunterricht nimmt, soll die Guarneri eines Tages behalten dürfen.“
Ich war sehr in Versuchung. Großvater ließ mich sogar eine der Saiten des Instruments berühren, die einzige, die noch an ihrem Platz war. Die anderen drei waren gerissen. Die Saite gab einen traurigen Laut von sich, der anhielt, als rufe sie um Hilfe.
„Natürlich ist die Violine in schlechtem Zustand und muss repariert werden,“ sagte Großvater. „Eines Tages werde ich sie nach Warschau zu einem Spezialisten bringen, einem der besten, den ich kenne. Er wird sich ihrer annehmen, wie es ihr gebührt.“
Tagelang ging mir die Violine im Kopf herum; in meinen Träumen konnte ich manchmal den Klang ihrer einsamen Saite hören. Meine ältere Schwester hatte zwar ein paar Wochen lang Geigenstunden gehabt, aber es gefiel ihr nicht einmal ein kleines bisschen. Häufig beklagte sie sich über den Schmerz in ihren Handgelenken und über den steifen Hals, den sie bekam, weil man die Geige unterm Kinn hält. Schließlich gab sie die Stunden auf. Zu der Zeit entschied mein Vater, ich solle der nächste sein, der Geigenunterricht erhalte. Mit dem Versprechen meines Großvaters im Kopf stimmte ich bereitwillig zu. Ich fing den Unterricht auf einem Instrument halber Größe an und erkannte plötzlich zu meinem größten Missvergnügen, dass ich eine normalgroße Geige wie die Guarneri auf meines Großvaters Dachboden nicht beanspruchen konnte, solange ich nicht älter war und viel längere Arme hatte.
Mein Unterricht dauerte jahrelang. Immer wenn ich meinen Großvater besuchte, fragte ich nach der Reparatur der Guarneri und versicherte ihm, dass ich sehr bald die Eignung für ein Instrument in Normalgröße besäße. Es war schließlich mein sechstes Jahr Geigenunterricht. Manchmal brachte ich meine eigene Geige mit, um ihm zu zeigen, wie unannehmbar klein sie war. Er blieb dabei, mich zu vertrösten und mir die Guarneri für später zu versprechen.
Im Jahr 1938, ein Jahr bevor der Zweite Weltkrieg ausbrach, starb mein Großvater, und ein paar der Dinge von seinem Dachboden wurden mir übergeben – darunter die Violine. Da sie nun in meinem Besitz war, untersuchte ich sie genauer und betrachtete immer wieder ihr Signet. Ich war vierzehn und von der Guarneri magnetisch angezogen. Ich beschloss zu versuchen, sie selbst zu reparieren. Es gelang mir, die gerissenen Saiten zu ersetzen, ich brachte einen neuen Steg an, und ich rieb sie sogar mit Schellack ein, um ihren langverlorenen Glanz wiederherzustellen.
Als ich am Ende das schimmernde Instrument ausprobierte, entdeckte ich den reichsten, süßesten Ton, den ich je vernommen hatte. Ich war wie verzaubert von dem Klang; mir tat es nur leid, dass mein Großvater nicht mehr dabei sein konnte, um mich spielen zu hören.
Wir lebten unter der Nazibesatzung, und schon bald wurden verschiedene Dekrete erlassen, die besagten, dass private Musikinstrumente, Radios, aber auch etwa Pelzmäntel zu konfiszieren seien. Ich brachte es nicht übers Herz, den Nazis die Guarneri auszuliefern. Meinem Vater ging es genauso mit den Pelzmänteln der Familie, also packten wir zusammen mit meinem Onkel und einem vertrauenswürdigen polnischen Freund, Herrn Bolek, eine eiserne Truhe voll mit Pelzen, verstauten die Guarneri darunter, und es gelang uns, die Truhe im Hof hinter den verbretterten Kohlenverschlägen zu verstecken. In einer mondlosen Nacht wurde sie in einem Loch im Boden versenkt, das wir mit mehreren Lagen dicker Teerpappe ausgekleidet hatten. Es war Sperrstunde, und der Hof lag verlassen da, nur eine einzelne streunende Katze suchte nach einem Platz für die Nacht. Ich stand Schmiere und achtete auf jedes verdächtige Geräusch. Es war eine kalte, dunkle Nacht, und der dumpfe Klang der Erde, wie sie auf die Truhe aufschlug, erinnerte mich an die Beerdigung meines Großvaters. Mich fröstelte. Am nächsten Tag sprach ich mit Herrn Bolek über die Violine und gab mir Mühe, ihm einen Eindruck davon zu vermitteln, wieviel sie mir bedeutete. Er hörte einfach zu, und indem er mir den Arm um die Schultern legte, versicherte er mir: „Du wirst diese Violine eines Tages wieder spielen, glaub mir.“ Bald darauf musste ich den Nazibehörden meine eigene, plötzlich ebenfalls kostbare Geige übergeben. Ohne jedes Instrument hatte ich das Bedürfnis zu üben stärker als je zuvor. Das meiste von meiner Musik behielt ich im Gedächtnis und übte weiter durch Summen. Während meiner Zeit in den Nazilagern verlor ich die bewusste Erinnerung daran, jemals Geige gespielt zu haben, und dachte sehr selten an die Guarneri. Was mir im Sinn blieb, war der traurige Klang der einsamen Saite. Bisweilen stellte ich mir vor, irgendwo in meiner Vergangenheit, vor langer Zeit, eine Violine gehört zu haben. Erst nach dem Krieg hatte ich wieder die Gelegenheit, jemanden eine reale Violine spielen zu hören. Es erfüllte mich mit Sehnsucht und ließ mich an meine Guarneri in ihrem Grab denken.
Zwei Jahre nach Kriegsende emigrierte ich nach Amerika. Sogleich schrieb ich einen Brief an Herrn Bolek. Ein paar Monate später kam der Brief zurück, „Empfänger unbekannt“. Ich fürchtete, dass ihm etwas zugestoßen war, und schrieb einen zweiten Brief, diesmal an das polnische Rote Kreuz. Wieder kein Glück, sie konnten ihn nicht auffinden. Erst in den späten sechziger Jahren gelang es mir durch ein kleines Wunder, mit unserm alten Freund wieder Kontakt zu bekommen. Er teilte mir mit, dass er nach dem Krieg in eine andere Gegend Polens umgesiedelt worden sei und dass er beim Internationalen Roten Kreuz immer wieder nach uns gefragt habe, auch ohne Erfolg. Da er nun Rentner sei, habe es ihn wieder zurück in unsere Heimatstadt Radom gezogen. Überdies gab er mir zu verstehen, dass der Inhalt unserer Truhe gerettet, ja in seinem Besitz sei.