Anton der Taubenzüchter. Bernard Gotfryd

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Название Anton der Taubenzüchter
Автор произведения Bernard Gotfryd
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783962026189



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sowie um ihren Kopf ein rotes Tuch. Ihre ebenfalls bloßen Füße waren voller Schnittwunden und Beulen. Sie hatten drei Töchter und einen Sohn, der in meinem Alter war und mein Spielkamerad sein sollte. Die Woche über arbeiteten sie alle vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung auf dem Hof. Jeden Sonntag sah man die ganze Familie im Sonntagsstaat zur Kirche in einem benachbarten Dorf gehen. An diesem Tag trugen sie Schuhe in der Hand, als wollten sie sie nicht vorzeitig abnutzen.

      Unser Häuschen stand am Rand einer Wiese neben einer tiefen Rinne, durch die ein Bach floss. Der Bach diente uns als Kühlschrank, in dem wir verderbliche Lebensmittel in großen Tontöpfen aufbewahrten, fest zugedeckt und gesichert durch schwere Steinbrocken. Rechts von unserer Veranda befanden sich ein Blumen-und ein Gemüsegarten, jenseits des Gartens ein Graben und eine schmale Kopfsteinpflasterstraße ohne jede Randbefestigung. Nicht weit hinter dem Häuschen überquerte man eine kleine Behelfsbrücke aus lose miteinander verbundenen Holzstämmen. Auf der anderen Seite stand eine Scheune mit Doppeltor und Strohdach; daneben der Stall, ein massives Gebäude, dessen tragendes System aus schweren Balken bestand. Überall nisteten Starenschwärme. Felder mit Weizen, Gerste und Kartoffeln reichten bis zu einem seichten Fluss, der langsam zwischen grünen Viehweiden dahinfloss; jenseits lag der Wald, reich an wilden Beeren aller Art, seltensten Pilzen, Haselnüssen und Wildblumen. An einer Stelle um eine Biegung herum verbreiterte sich der Fluss zu einem Teich, der tief genug zum Schwimmen war. Es roch nach frisch geschnittenem Heu und Kiefern. Hoch oben in den Baumkronen bauten Störche ihre Nester; sie krächzten und klapperten laut, wenn sie über unsern Köpfen kreisten.

      Meine Eltern kamen zu dem Schluss, dies sei ein idealer Ort für Kinder; mein Bruder, meine Schwester und ich würden den ganzen Sommer auf dem Bauernhof verbringen, zusammen mit unserer Großmutter, die für uns sorgen sollte, während unsere Eltern nach Radom ins Geschäft zurückkehrten. Großmutter war eine kleingewachsene Dame. Unter der Woche bedeckte sie ihren Kopf mit einem Kopftuch; an Feiertagen machte das Kopftuch einer Perücke Platz. Dann konnte man sie am Küchenfenster finden, wo das Licht gut war und sie auf Hebräisch das Alte Testament las. Dabei bewegten sich ihre Lippen langsam und methodisch, ihre Augen funkelten. Sie erzählte mir oft Geschichten, die meine Phantasie erregten und mich von fliegenden Tieren träumen ließen. Mein Favorit war eine fliegende Kuh, die ein Ei im Weltraum legt; daraus schlüpft ein Adler, der die Kuh rettet und wieder hinunter zur Erde bringt. Über die Moral von der Geschichte habe ich mir nie Gedanken gemacht.

      Großmutter war eine fromme, gottesfürchtige Frau, die sorgfältig auf uns drei achtgab. Ich erinnere mich, wie sie die kranken Kinder eines Nachbarn pflegte, während deren Mutter auf den Markt ging. Großmutter war wohltätig, geduldig und selbstlos.

      Als wir das Häuschen bezogen, brachten wir neben anderen Gegenständen auch einen Tisch aus massivem Hartholz mit, der in die Mitte der Veranda gestellt wurde. Dieser Tisch diente als Versammlungsplatz für die ganze Familie. An ihm aßen wir und verrichteten unsere täglichen Arbeiten. Er diente auch als Abladeplatz für die meisten unserer gerade nicht gebrauchten Siebensachen. In seiner Schublade bewahrte ich meine hölzernen Soldaten, das Malpapier und Buntstifte auf. Zwischen den Mahlzeiten nutzte Großmutter den Tisch, um Wäsche zu falten, zu nähen und auch allgemein als Ablage. Wenn jemand nach irgendetwas suchte, konnte er es je nach der Natur des Gegenstands wahrscheinlich auf oder unter dem Tisch finden. Wenn niemand zugegen war, nutzten ihn Tauben und andere Vögel als Treffpunkt. Dies waren die einzigen Male, an denen meine Großmutter sich über das Vorhandensein des Tischs ärgerte.

      Eines Morgens, kurz nachdem wir uns im Häuschen eingerichtet hatten, hörte ich Großmutters Stimme in höchsten Tönen fragen: „Wo ist der Tisch? Hat jemand den Tisch gesehen? Er war gestern Abend doch noch da...“ Wir krochen alle aus unseren Betten, schauten umher und sahen, dass die Veranda leer war. Der Tisch war weg. Wer würde sich damit abmühen, solch einen schweren Tisch zu stehlen, fragten wir uns. Genau wie wir stand auch Herr Joseph vor einem Rätsel und ritt hoch zu Pferde davon, um die Polizei zu benachrichtigen. Es war noch früh, und der Morgentau lag auf dem Gras; die Sonne ging langsam auf, und der Nebel fing an zu steigen. Man konnte die feuchte Luft sehen, wie sie in Wellen über die Felder und die Straße zog und allmählich den blauen Himmel enthüllte. Es gelang uns zwar, ohne den Tisch zu frühstücken, aber nur, indem wir einander die Not klagten, die seine Abwesenheit uns bereitete.

      Gefolgt von Herrn Joseph auf seiner schnaubenden, schwitzenden Stute, traf auf einem Fahrrad bald ein Polizeibeamter ein. Er sprach kurz mit meiner Großmutter und machte sich sofort an die Arbeit. Unweit des Häuschens fand er ein paar Fußspuren, die auf dem noch feuchten Boden gut erhalten waren. Vom verstreut umher liegenden Stroh schnitt er sich einen Halm ab, maß damit den Fußabdruck und untersuchte jeden Zentimeter der eingedrückten Stelle peinlich genau. Jedes Mal wenn er sich hinunterbückte, rutschte seine Ledertasche von seiner Schulter und war ihm im Weg. Langsam rückte er sie dann zurück an ihren Platz und fluchte leise.

      Der Polizist war ein großgewachsener Mann. Er hatte schon grau werdende Haare und trug hohe, glänzend schwarze Stiefel sowie eine marineblaue Uniform mit einem Cape darüber. Um das Cape herum sah man einen breiten Ledergürtel; damit verbunden war quer über seinen Brustkorb ein schmalerer Gurt. Auf dem Rücken trug er an einem Riemen ein Gewehr mit massiver Kammer und glänzend poliertem Schaft. Ein großer metallener Adler, das Wappen der Republik Polen, war mitten auf seine runde marineblaue Mütze geheftet.

      An diesem Morgen war Tzytzek, der Freund meines Bruders, zu Besuch gekommen, und ehe ich mich’s versah, lief ich schon mit Schwester, Bruder und Freund dem Uniformierten hinterher. Der hatte nichts dagegen, gebot uns aber, absolut still zu sein. Sein Fahrrad zerrte er über schmale Pfade durch die Gerste- und Kartoffelfelder mit sich. Ab und zu schnellte ein Fasan oder ein Hase hinter einem Busch hervor und erschreckte uns. Immer wenn der Beamte stoppte, um eine Fußspur zu untersuchen, setzte er seine Drahtgestell-Brille auf, die er regelmäßig mit einem gepunkteten Taschentuch putzte. Ich fragte mich, warum er jeden Fußabdruck nachmessen musste. Konnte er sie nicht durch bloßen Augenschein identifizieren? Tzytzek sagte auf Jiddisch – damit nur meine Schwester und ich ihn verstanden –, der wolle sich nur wichtigmachen, weil er nichts Besseres zu tun habe.

      Der Polizist wiederum war es bald leid, das staubige Fahrrad mitzuschleppen, und er bat Tzytzek, es zu übernehmen. Sowie Tzytzek das Fahrrad schob, probierte er erst einmal die Klingel aus, was ein paar Vögel aufstörte, die nahebei nisteten. Der Ordnungshüter schrie Tzytzek an. Ich hatte Angst, er würde ihn erschießen, wenn Tzytzek sich unterstünde, die Klingel noch einmal zu benutzen.

      Es wurde heiß, und unser Befehlshaber fing an zu schwitzen. Er nahm das Cape ab, schnallte die Gurte an die Uniform und fragte mich, ob ich das Cape für ihn tragen würde. Eifrig bejahte ich und nahm das zusammengerollte Cape unter den rechten Arm. Es war schwer und hinderlich, und es roch nach Desinfektionsmittel, jedenfalls nach Chemie, so dass ich niesen musste. Jedes Mal wenn der von seinem Cape Befreite anhielt, um wieder einen Fußabdruck zu prüfen, war ich versucht, das schwere Stück dort liegenzulassen, doch ich fürchtete, ihm würde das nicht gefallen. Tzytzek schlug vor, ich könne das Cape gern über den Fahrradlenker legen, aber ich lehnte sein Angebot stolz ab und schleppte es selber weiter.

      Binnen kurzem gelangten wir an Eisenbahngleise, die von den Fußspuren gekreuzt wurden. Unsere Suche setzten wir auf der anderen Seite in derselben Weise fort: Der Polizist ging voraus, und wir folgten ihm auf Schritt und Tritt, unsere Augen die ganze Zeit auf ihn geheftet. Es war fast Mittag, und der Himmel war tiefblau. Hinter einer Baumgruppe bemerkten wir eine ausgebrannte Hütte ohne Dach; daneben stand eine strohgedeckte Scheune. Auf diese Stelle steuerte unser Anführer zu. Keine Menschenseele war zu sehen. Ein streunender Hund trottete herbei, schnüffelte am Fahrrad und an Tzytzeks Fuß und verschwand wieder. Tzytzek versuchte noch, nach ihm zu treten, doch er verpasste ihn.

      Der Polizeibeamte marschierte zur Scheune, stieß die Tür auf und ging hinein. Ich hörte eine Frau weinen und um Vergebung flehen. Kurz darauf erschien der Beamte wieder und führte einen Mann und eine Frau mittleren Alters mit sich. Sie waren barfuß. Die Frau bekreuzigte sich und weinte immerfort; der Mann blieb still. Er trug eine schwere, grob gewebte Hose und ein kragenloses Hemd mit vielen Löchern. Sein Haar war zerzaust, sein Gesicht voller Bartstoppeln, und seine Stirn wurde von einer Warze beherrscht, die die Größe eines Manschettenknopfs besaß. Die Frau