Название | Anton der Taubenzüchter |
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Автор произведения | Bernard Gotfryd |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962026189 |
Die Zeit verging, und die Gelegenheiten, den Füller zu benutzen, wurden weniger, besonders nachdem Vater es sich zur Gewohnheit machte, die Schublade doch immer abzuschließen. Ich durfte an das gute Stück einfach nicht mehr denken.
Ein paar Jahre später, 1939, brach der Zweite Weltkrieg aus, und die Nazis besetzten unsere Stadt. Im April 1941 mussten wir unsere Wohnung mit allem, was darin war, aufgeben und in ein neu geschaffenes Ghetto ziehen. Mein Vater hatte nicht die geringste Chance, den Inhalt seiner Schublade mitzunehmen; alles einschließlich des Füllers musste zurückgelassen werden. Es war kaum genug Zeit, auch nur das Nötigste zusammenzusuchen, vor allem Kleidung. Die Gestapo konfiszierte die Wohnung mit allem Inventar. Es tat mir leid, dass Vater seinen Füller verlor, aber es gab Wichtigeres, worum man sich Sorgen machen musste. Es war ja unser Leben, das in ständiger Gefahr schwebte.
In dieser Zeit machte ich eine Lehre in einem Fotostudio, das Herrn Orenstein gehörte, einem Freund der Familie. Er erledigte Bildbearbeitungen für die Gestapo. Bei dieser holte ich regelmäßig Negative und lieferte sie ihnen retuschiert wieder ab. Eines Tages im Winter 1941/42, während ich bei der Gestapo auf Negative wartete, kam ein großgewachsener Offizier mit Narben im Gesicht herein und fragte den Gestapo-Fotografen Helmut Reiner, ob er jemanden kenne, der Füllfederhalter repariere. „Natürlich“, antwortete Reiner, „zufällig kenne ich im Ghetto einen Juden, der so etwas macht. Er repariert auch wertvolle Uhren. Er ist sehr gut und recht billig.“
Der Offizier zog einen Füller aus der Tasche und übergab ihn Reiner. „Ich wäre dankbar, wenn Sie das für mich erledigen könnten. Ich glaube, die Pumpe leckt,“ sagte er.
Von da aus, wo ich saß, konnte ich den Füller sehen. Er war schwarz und mit Blattgold verziert wie der meines Vaters. Ich war verblüfft. Der Offizier hinterließ den Füller bei Reiner und marschierte wieder hinaus. Konnte dies tatsächlich der Füller meines Vaters sein?, fragte ich mich. Reiner steckte ihn in seine Tasche und ging ins Hinterzimmer. Ein paar Minuten später erschien er mit einer Schachtel, darin die Negative. „Also“, sagte er, „hier sind die Negative für Herrn Orenstein. Aber ich hab auch noch etwas anderes, was du bitte für mich tun sollst, und zwar sollst du ein Päckchen bei einem Herrn Goldschlager abgeben, der auch im Ghetto wohnt. Das dürfte ja nicht schwierig sein. Instruktionen für ihn lege ich bei. Sei vorsichtig und verliere es nicht. Es ist ein sehr teurer Füllfederhalter darin, und der gehört nicht mir. Er gehört meinem Vorgesetzten, Obersturmführer Heinz Gahr.“ Reiner steckte den Füller mit den Instruktionen in einen braunen Umschlag, versiegelte diesen und übergab ihn mir. „Ich werde sehr vorsichtig sein, Herr Reiner,“ sagte ich.
Mein Herz schlug heftig, als ich sein Büro verließ. Das Päckchen steckte ich in meine Brusttasche, so dass ich den Füller an meiner Brust spüren konnte. Es war ein langer Weg zurück zu Herrn Orensteins Studio. Sobald ich um die Ecke bog, war ich versucht, das Päckchen zu öffnen und den Füller genauer zu untersuchen, aber ich entschied mich dagegen. Man stelle sich vor, jemand folgte mir. Schließlich war es ein Handel mit der Gestapo, und das allein war für mich schon erschreckend genug. Jedes Mal wenn ich eine Straße zu überqueren hatte, hielt ich eine Sekunde an und befühlte die linke Seite meiner Brust, um mich zu vergewissern, dass das Päckchen noch in meiner Tasche war. Als ich im Studio ankam, war ich mit den Nerven am Ende. Ich übergab Herrn Orenstein nur noch die Negative und zog mich in die Werkstatt zurück.
Das Päckchen wollte ich nach Feierabend auf meinem Heimweg abliefern. Vor lauter Angst, es könne sonst aus der Tasche fallen, behielt ich meine Jacke an. Gott schütze mich, dachte ich, wenn dem Füller etwas passierte. War es möglich, dass es sich um den meines Vaters handelte?, fragte ich mich immer wieder. Und was, wenn er es wäre? Wie konnte ich dann irgendetwas in der Sache tun? Schließlich, so argumentierte ich durchaus logisch, war der Füller meines Vaters nicht der einzige schwarze, goldgeprägte auf der Welt.
Die Szene, wie Herr Ginzburg sich von meinen Eltern verabschiedete, kam mir wieder in den Sinn. Zehn Jahre waren seitdem vergangen. Ich hätte gerne gewusst, wie es ihm in Palästina inzwischen ergangen war. Ich konnte mir ausmalen, wie er, mit der sengend heißen Sonne im Rücken, in Gummistiefeln in einem Graben stand und Sümpfe trockenlegte. Wenn der wüsste, was seinem Füller passiert war, dachte ich.
Es war schon nach Einbruch der Dunkelheit und Zeit, den Heimweg anzutreten. Als ich losging, fing es an zu regnen, und ein böiger Wind trieb mich die Gehwege entlang vor sich her. Völlig durchnässt schaffte ich es bis ins Ghetto und fand das Haus, in dem Herr Goldschlager wohnte.
Herr Goldschlager, ein kleiner, dünner, schon etwas älterer Mann, lebte in einem winzigen Raum, der mit einer Vielzahl von Möbelstücken vollgestopft war. Auf seiner Nase saß eine Brille mit dicken Gläsern und einem Vergrößerungsaufsatz von den Ausmaßen eines Scharfschützenvisiers, was seinen rechten Augapfel doppelt so groß erscheinen ließ. Im Gesicht hatte er mehrere Tage alte Bartstoppeln, was ihn dem Schauspieler Paul Muni in dem Film Ich bin ein entflohener Kettensträfling ähneln ließ. Über einem grünen Pullover, der an den Ellbogen abgeschabt war, hing eine gänzlich ausgebleichte Lederschürze voller verbrannter Stellen und Flecken. Der Ort roch nach Kerosin und ließ mich niesen.
Als Herr Goldschlager den Umschlag öffnete, konnte ich ihn gut beobachten. Als erstes kam die obere Hälfte des Füllers zum Vorschein, und ich erblickte die Initialen. Der Füller war mit dem meines Vaters identisch und trug zudem auch die Initialen HG. Ich hatte keinen Zweifel mehr. Er musste der meines Vaters sein. Der Gestapomann Heinz Gahr, der ihn zur Reparatur gegeben hatte, musste also der Plünderer unserer Wohnung sein, so folgerte ich.
„Welches Fabrikat ist der Füller eigentlich?“ fragte ich Herrn Goldschlager. „Das ist ein Waterman, ein sehr feines Markengerät“, sagte er, indem er ihn näher untersuchte. „Interessierst du dich für Füllfederhalter?“ „Ja, zufällig mag ich Füllfederhalter“, antwortete ich, beschloss aber, ihm nicht zu verraten, dass dieser meinem Vater gehört hatte.
„Sag Reiner, es wird eine Weile dauern, bis ich eine neue Pumpe finde. Ich werde alles versuchen, aber es ist heutzutage schwierig, Ersatzteile zu bekommen,“ sagte Herr Goldschlager. Ich dankte ihm, wünschte ihm einen guten Abend und ging.
Sollte ich meinem Vater von dem Füller erzählen? Und dass ich ihn persönlich von der Gestapo zur Reparatur ins Ghetto brachte? Wenn ich ihm dies berichtete, würde er nicht zu Herrn Goldschlager gehen wollen, um ihn zu untersuchen? Angenommen, Herr Goldschlager würde ihn nicht zeigen wollen? Was ja gut möglich war, weil er jetzt einem Gestapomann gehörte. Was dann? Ich nahm mir vor, meinem Vater gegenüber nichts zu erwähnen.
In dieser Nacht tat ich kein Auge zu, und zwar nicht, weil ich nicht müde war oder an Schlaflosigkeit litt. Ich war einfach zu sehr mit dem Füller meines Vaters beschäftigt, was mir ganz schön Angst machte, wenn nicht gar eine Art Verfolgungswahn bewirkte.
Der Morgen dämmerte schon, als ich endlich einnickte. Bald darauf hörte ich meine Mutter rufen: „Zeit aufzustehen, mein Junge.“ Es war kalt im Haus. Ich zog mich rasch an und lief hinaus, um Brennholz zu holen, aber es war kaum noch etwas übrig, nur gerade ausreichend, um Wasser zu kochen. Ich saß in der Küche, nippte an meiner Zichorienbrühe, dachte an den Füller, beobachtete meinen Vater und fragte mich immer wieder, ob ich es ihm nicht doch erzählen sollte.
„Erzähl’ mir was Interessantes,“ hörte ich plötzlich meinen Vater sagen. „Gibt’s irgendwas Neues in der Welt?“ fragte er und schaute mich mit seinen traurigen Augen an. „Ich habe gehört, dass die Alliierten das Reich höllisch bombardieren“, sagte ich sehr beiläufig, „und dass eine Menge Nazi-Familien in die besetzten Gebiete evakuiert werden, und zwar hauptsächlich nach Polen.“ „Nun, das ist eine gute und eine schlechte Nachricht,“ sagte Vater. „Es ist gut, dass die Nazis langsam einen Vorgeschmack auf das Ende bekommen, aber es ist schlecht, dass sie hierher kommen. Leider wird es dann eine schreckliche Nahrungsmittelknappheit geben,“ sagte er weiter und schaute aus dem Fenster. Wieder war ich versucht, ihm von dem Füller zu erzählen, und wieder entschied ich mich dagegen. Warum sollte ich seinen Enttäuschungen noch eine weitere hinzufügen? Wenn ich doch nur einen