Anton der Taubenzüchter. Bernard Gotfryd

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Название Anton der Taubenzüchter
Автор произведения Bernard Gotfryd
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783962026189



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Wachtmeister befahl dem Paar, den Tisch aus der Scheune zu holen. Sie brachten erst die Tischplatte, dann die Beine; sie hatten ihn wohl auseinandergenommen, damit er leichter zu verstecken war. Es wurde der Beschluss verkündet, der Mann habe die Platte auf dem Rücken zum Bauernhof zurückzutragen, festgezurrt mit einem schweren Seil, und wir würden die Beine tragen helfen. Der Verkünder selbst übernahm wieder das Fahrrad und gab Tzytzek im Austausch dafür ein Tischbein. Tzytzek gefiel das gar nicht, er sagte zu uns Kleineren, wenn das Paar in der Lage gewesen sei, den Tisch mitgehen zu lassen, könne es ihn auch genausogut wieder zurücktragen. Zu meinem Bruder hörte ich ihn auch noch sagen, dass man in einigen Ländern Diebe bestrafe, indem man ihnen die Hände abschneide. Er hielt das für eine gute Idee und sagte: „Wie sonst kann man Leute davon abhalten zu stehlen?“

      Wir begannen den Rückmarsch; der Polizist führte die Prozession an, den Mann mit der Tischplatte direkt hinter sich. Die Frau folgte, immer noch weinend; wir Kinder bildeten die Nachhut. Unser Anführer nahm wieder sein Cape an sich, so dass ich viel schneller gehen konnte. Ungefähr auf halbem Weg zurück rief er zur Pause und verschwand mitten in einem Feld hinter einem großen Baum. Wir konnten ihn Wasser lassen hören; mit lauter Stimme befahl er uns, selber auch eine Rast zu machen. Der Dieb setzte die Tischplatte ab. Er sah müde aus und ängstlich und sagte kein Wort. Er starrte auf seine nackten Füße und atmete schwer. Nach mehreren Minuten des Ausruhens nahmen wir unseren Marsch wieder auf. Als wir an unserm Häuschen eintrafen, kamen alle zu unserer Begrüßung heraus; Großmutter sagte, sie habe sich schon Sorgen um uns gemacht, obwohl Herr Joseph sich alle Mühe gegeben hatte, ihr zu versichern, dass er uns zusammen mit dem Schutzmann über die Felder weggehen sah.

      Die amtliche Befragung des Diebespaars begann: ihre Namen, die Namen ihrer Eltern, ihre Geburtsdaten, die Geburtsdaten ihrer Eltern. Ein Protokoll des Falles war zu schreiben. Das ertappte Paar wusste von nichts oder konnte sich einfach nicht erinnern. Unter Tränen fing die Frau an zu erzählen, dass sie noch nie in ihrem Leben einen anständigen Tisch besessen hätten. Unumwunden gab sie den Diebstahl zu. Ein paar Wochen zuvor, fügte sie an, habe ein Feuer fast ihre ganze Hütte und die meisten Sachen zerstört, die sie besaßen, auch das bisschen Kleidung.

      Nachdem meine Großmutter die Geschichte der Frau gehört hatte, ging sie ins Haus und brachte einen Korb frisches Brot, Bauernkäse und einen Krug Milch heraus. Sie bot dem Paar das Essen an und drängte es zuzulangen. Sie mussten halb verhungert sein, so verschlangen sie es. Der Hüter des Gesetzes war überrascht, dass meine Großmutter die Gauner auch noch „fütterte“, aber er schritt nicht ein. Inzwischen war auch der Tisch wieder zusammengebaut und an seinen Platz gestellt. Ungeduldig wandte sich der Beamte an Großmutter und fragte sie, ob sie Schadensersatz fordere oder ob sie die ganze Episode vergessen wolle. Großmutter antwortete, sie finde, dass Gott das Paar mit dem Feuer und ihrer Armut genug gestraft habe. Wozu sie noch mehr bestrafen? Als die Frau dies hörte, ergriff sie Großmutters Hand, küsste diese und segnete Großmutter mehrfach. Unser „Freund und Helfer“ entschied, die Sache fallen zu lassen, ergänzte aber, er werde die Diebe zur Abnahme von Fingerabdrücken noch auf die Wache mitnehmen. Bevor sie abzogen, versprach meine Großmutter der Frau, dass sie Ende des Sommers den Tisch als Geschenk bekämen. Es war unglaublich. Wir dachten, sie mache Witze, aber sie meinte es wirklich so.

      Das ganze Dorf sprach von dem Vorfall mit dem Tisch, bis wir es nicht mehr hören konnten. Der Sommer ging dem Ende entgegen, wir begannen zu packen, und am selben Tag, an dem wir abfahren sollten, tauchte das Paar mit einem Handwagen auf. Sie waren wegen des Tischs gekommen. In dem Wagen lag ein großer Strauß frisch gepflückter Blumen; der Mann trug ein lebendes Huhn unter dem Arm. Großmutter war sichtlich bewegt, und wir alle halfen, den Tisch auf den Wagen zu laden. Der Mann übergab Großmutter das Huhn; ich konnte ihn auf Polnisch im Dialekt dieser Gegend sagen hören: „Gott segne Sie, Frau Sarah, Sie sind ein Engel.“ Als der Mann und die Frau sich entfernten, rief ihnen meine Großmutter hinterher: „Mein Name ist gar nicht Sarah, ich heiße Elka, aber es macht nichts! Es ist nur ein Name, und ich vergebe euch auch dafür.“ Dann wandte sie sich zurück zur Hütte und sagte zu sich selbst, „die armen Leute.“ Ich war wirklich sauer, den Tisch und meine Schublade für immer los zu sein, doch jetzt hatten wir ein lebendiges Huhn, das wir nach Radom für zu Hause mitnahmen. Auf dem Weg in die Stadt mit Herrn Josephs Wagen saß Großmutter neben mir und streichelte dem Huhn den Kopf. Plötzlich schaute sie auf und fragte. „Wie soll ich das alles nur euren Eltern erklären, könnt ihr mir das mal sagen?“ Und sie brach in Gelächter aus.

      Das Hochzeitsbild

      Lebhaft erinnere ich mich an das Bild von Onkel Herschel und seiner Braut Annette.

      Es war so groß wie eine Postkarte oder vielleicht ein bisschen größer, und es war sepiagetönt. Meine Mutter stellte es mit anderen Familienerbstücken und -artefakten in einer bleiverglasten Vitrine aus, die Teil einer massiven Walnuss-Schrankwand in unserm Esszimmer war. Es gab da auch eine „Spieluhr“, die nicht die Zeit anzeigte, aber Musik spielte. Ich kann heute noch die Melodie hören. Die Uhr und das Bild waren die zentralen Mysterien unseres Haushalts. Immer wenn ich das Hochzeitsbild studierte, hörte ich auch gern der Spieluhr zu. Ihre Melodie erinnerte mich an einen Hochzeitsmarsch, flott und fröhlich. Onkel Herschel sah aus, als wäre er noch in seinen Dreißigern – sanft, ernst, imposant. Seine Braut, Annette, eine Brünette mit einer schicken Frisur und einem süßen, weichen Lächeln, blickte freundlich; ich hatte das Gefühl, sie blicke direkt mich an, während Onkel Herschel seine Augen auf etwas weit Entferntes richtete. Ich hatte die Vorstellung, dass Annette Kinder mochte.

      Mir wurde gesagt, dass sie in Paris lebten, in Frankreich, was für mich mit meinen neun Jahren am anderen Ende der Welt schien. Meine Mutter, die Onkel Herschels ältere Schwester war, versicherte mir immer, dass wir alle eines Tages auch nach Paris fahren würden, vielleicht für immer. Ich hielt das für eine gute Idee, und heimlich hoffte ich, wir würden es bald tun. Die meisten Verwandten meiner Mutter lebten im Ausland, außer ihrer jüngeren Schwester Dora, die aber kurz vor der Abreise nach Palästina stand. Tante Dora war jung und hübsch und vergaß nie, mir Süßigkeiten mitzubringen, wenn sie zu Besuch kam. Als Tante Dora abgereist war, tat mir meine Mutter leid. Bald folgte meine Großmutter, und damit waren all ihre nahen Verwandten weg. Die Angehörigen meines Vaters waren zwar noch da, einschließlich seiner Eltern, doch aus irgendeinem Grund – den mir niemand erklärt hatte – sprach er nicht mehr mit ihnen.´

      Das Hochzeitsbild wurde mein Verbindungsglied zur Außenwelt. Ich konnte mir nach den Postkarten, die wir von Onkel Herschel regelmäßig erhielten, Paris ausmalen. Zwei davon wurden zu beiden Seiten des Hochzeitsbilds ausgestellt: Eine zeigte den Eiffelturm und die andere den Arc de Triomphe. Für mich waren jene zwei Wahrzeichen Weltwunder. Wenn meine Freunde zu Besuch kamen, zog ich immer die Uhr auf und gab mit den Postkarten und dem Hochzeitsbild an. Dann hielt ich ihnen einen kurzen Vortrag über meinen Onkel Herschel und seine Braut und über die Wahrzeichen von Paris, als wäre ich ein Experte.

      In Wirklichkeit wusste ich nicht viel von meinem Onkel, doch das Bild legte nahe, dass er sehr bedeutend, wenn nicht sogar sehr reich war. Seine Briefe las ich nie, weil sie auf Jiddisch geschrieben waren und ich seine Handschrift nicht entziffern konnte. Dies gab meinen Phantasien Nahrung. Ich führte mit dem Bild imaginäre Gespräche, stellte ihm Fragen; manchmal sprachen Herschel und Annette mit mir. Das Hochzeitsbild wurde meine heilige Ikone.

      Irgendwann in den dreißiger Jahren legte Tante Dora, kurz nach ihrer Palästina-Abreise, einem ihrer Briefe ein Bild bei. Sie war darauf mit dem Mann fotografiert, den sie heiraten wollte. Das Bild war kleiner als das von Onkel Herschel. In der Vitrine wurde es von den bleiernen Sprossen der Verglasung verdeckt. Auf dem Bild lächelte Tante Dora nicht; sie erschien sehr drall, und ihr Verlobter war zum Teil schon kahl. Wenn ich als Kind bei ihr zu Besuch gewesen war, hatte ich gelegentlich in ihrem Bett schlafen müssen. Sie hatte dann die Arme um mich gelegt und mich in die Fülle ihres Busens eingehüllt. Wie ich es hasste, am Morgen aufzustehen und meine Füße auf den kalten Fußboden zu setzen! Der bloße Gedanke, sie würde bei ihrem neuen Mann schlafen, bewirkte, dass ich ihn nicht leiden konnte.

      Ein paar Jahre vergingen. Der Krieg brach aus, wir waren Besatzungsgebiet der Nazis, und es kam keine Post mehr. Eines Tages mussten wir